Kategorie: Kultur

Faust: 1, Mephisto: 2

„Faust 1 + 2“ von Johann Wolfgang v. Goethe, Inszenierung des Thalia-Theaters Hamburg in der Regie von Nicolas Stemann, Gastspiel am Staatsschauspiel Dresden, 25./26. Mai 2013

Faust 1: Nur wetten kann man nicht alleine

Nein, heute keine Nacherzählung. Ich verweise auf die allgemeine Schulbildung und/oder Besuche anderer Stücke dieses Namens.
Allerdings, wer beides nicht nachweisen konnte, hatte schlechte Karten im Saal. Stemann lässt seine drei phantastischen Schauspieler (Patrycia Ziolkowska, Sebastian Rudolph und Philipp Hochmair) nacheinander antreten, nur selten miteinander. Und so muss man sich schon ein wenig auskennen im Stoff, um dem – zugegeben perfekten – Rollenzapping der Drei folgen zu können. Ein Ausblick auf das Neue Deutsche Budgettheater (als „Baddsched“ auszusprechen)? Einer spielt alles? Ich hoffe nicht.
Die erste ernstzunehmende Regie-Idee: Faust als eine Art Jonathan Meese in der Schaffenskrise. Das ist sehenswert, das erzielt Wirkung. Er baut sich nach und nach zum Wahnsinn auf, greift zum Benzinkanister, wird doch nicht … das Haus ist doch fast frisch renoviert! Nein, Wagner (Haha, schöner Joke in Dresden) kommt und verhindert das Schlimmste.
Das ominöse Fläschchen ist hier eine Pistole. Aber auch hier bewahren die Osterglocken den latent Suizidgefährdeten vor dem Abgang. Osterspaziergang zum Teil auf plattdütsch, warum nicht. Die Übertragung ins Sächsische hat man uns erspart.

Auftritt eines Pudels namens Mephisto. Der ist ein Zwilling von Faust, nicht neu, die Idee, aber gut. Jener holt schnell auf im Text und übernimmt. Der alte Faust/Mephisto/Wagner/Gott/3xErzengel/Theaterdirektor usw. schleicht sich, schaut noch ein bisschen zu, hat aber ersichtlich Pause.
Ein ergreifender Gesang von Friederike Harmsen (Microport oder Playback? Egal. Wunderschön.), dann die Wette. Das kann man nicht alleine, es kommt erstmals zum Dialog und dann zu Intimitäten unter Männern. „Und ach, sein Kuß …“, die IG Schauspiel dürfte kurz den Atem angehalten haben, aber das war eine großartige Szene.

Auerbachs Keller als Schwulenbar, OK, passt ja im Anschluss, ist auch gut gemacht, toller Video-Einsatz.
Nun Gretchen, aber nicht nur, auch Faust, Mephisto, Marthe. Sie lernt sich sozusagen selber kennen und will sich selbst heim begleiten, lehnt das aber ab (und geht dann doch mit sich selber mit, höhö. Auch diese Form hat also Grenzen.). Nur die Beleuchtung muss sie nicht selbst machen. Das Stilmittel erschöpft sich und mich. Gretchen ist übrigens am bestens als: Überraschung, Gretchen.
Genug genörgelt. Das Stück wird sofort um Klassen besser, wenn miteinander gespielt wird. Faustens Schuld ist hervorragend bebildert, bei der Gretchenfrage muss ihm Mephisto soufflieren, sie ist also in der Unterzahl, was ihr aber zumindest amourös gesehen nicht missfällt.
Berührend der Zwinger, die Walpurgisnacht wird mit der Nacht zuvor vermischt, Gretchens Defloration ist eher nebensächlich, Musik und Video sind wieder großartig. Der Kerker schließlich ist am Anfang ergreifend, nur, da muss man sich ohnehin schon viel Mühe geben, diese Lehrbuch-Szene zu versemmeln. Doch Stemann gelingt das fast mit einem zwanghaft modernen Ende.

Fazit dieses Teils: In der Summe toll, wenn man sich auf den Regieansatz einlassen will. Aber es ist dann doch ein Elitentheater, eines für Deutschlehrer, für Theaterroutiniers, eins fürs Feuilleton, für das Umfeld des Theatertreffens. Selbst in Hamburg wird nicht jeder den Faust auswendig können, und dies schränkt dann den Genuss schon ein. Dennoch, ein Erlebnis.

Faust 2: Der Vieles bringt

Am Anfang die Umkehrung der Situation: Zwei Herren – die einer beliebten Unsitte folgend sich nicht vorstellen – erläutern den Inhalt, allerdings derart unbeholfen, dass mich Mitleid überkommt.
Dann eine Art „Was in den letzten Folgen geschah“. Glaubt man, es sind Zuschauer hinzu gekommen? Goethe tritt im langen Kleid auf, sie zählt die Zeilen fortan mit und hakt ab. Eine alberne Vorstellung der restlichen Akteure folgt, die Verse plätschern bei moderner Klassik so dahin. Etwa achttausend haben wir noch vor uns. Ungestrichen, ja, wir haben’s dann beim vierten Mal auch kapiert.
Der Kaiser hält eine Rede mit visueller Kurvendiskussion, die Lage ist nicht gut. Mummenschanz folgt, irgendwie –tainment, weiß nur nicht welches. Aus Protest wird „Konsum“ an die Wand geschrieben, was in Dresden lustig ist. Das Volk im Blaumann protestiert gegen irgendetwas, aber das Großstadttheater traut sich dann lustigerweise nur, „Sch..e“ in den Übertitel zu schreiben. Da helfe ich doch gerne: Scheiße. Scheiße. So leicht geht das. Einfach nachmachen: Scheiße.
Man tastet und kalauert sich durch den Text. Wenn man mit dem schon nichts anzufangen weiß, kann man ihn immerhin noch verarschen. Eine schwierige Lage, bis das Papiergeld erfunden wird. Von Mephisto, klar. Da haben alle was davon. Helena tritt düster auf und wieder ab. Auch ein Affe ist immer dabei. Der erste Akt, eine Stunde, null Effekt.

Im zweiten Akt wird es nicht viel besser. Eine Knäbin liest mit Eifer, einige Requisiten aus Teil 1 tauchen auf. Die Postdramatik wird erklärt von einem Macher der ersten Stunde, der im Pflegeheim residiert, man ist also zur Selbstironie fähig, ein Pluspunkt.
Muppets übernehmen das Kommando, man muss selber lachen auf der Bühne. Spielt man jetzt auf Zeit? Man liegt doch gar nicht in Führung!
Faust krümmt sich auf der Bühne, ich mich in meinem Sessel, als ein absurder, sturzdummer Dialog über Goethe in Dresden beginnt. Nun ist der Tiefpunkt erreicht.
Ich überlege, womit ich werfen soll, aus dem 2. Rang täte das seine Wirkung, aber … im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. Und hier ist man immer höflich.
Der Glaskasten ist an sich eine gute Idee, manchmal blitzen auch andere auf, nur die Wüste bleibt trocken trotz dieser Tropfen. Vor der Pause noch was zur Klampfe, no, no, nono. Genau.
(Für meinen verbalen Ausrutscher in einem mehr oder weniger sozialen Medium um diese Zeit möchte ich mich aber in aller Form entschuldigen)

Erstaunlicherweise sind noch viele da nach der Pause. Und die werden belohnt. Trotz der wieder gestammelten Erläuterung zur griechischen Geschichte nimmt die Angelegenheit Fahrt auf, ein ganz anderer Stil, reduziert in den Mitteln, konzentriert auf den Text. Ich reibe mir die Augen. Ist das die gleiche Inszenierung? Die Kulisse dröhnt bedrohlich, Helena und Faust kriegen sich mit unlauterer Hilfe von Mephisto, jetzt passt das auch, auch wenn ein buntes Potpourri am Ende wieder einen Rückfall befürchten lässt.
Dann verdingen sich Faust und Mephisto als Söldner, gewinnen einen Krieg für den Kaiser, Helena ist schwanger, familiäres Idyll am Buddelkasten (mit schönem Gretchenfragen-Dialog), dann aber der Absturz, als der gemeinsame Sohn zu Tode stürzt. Helena entschwindet nach dem Begräbnis.

Der letzte Teil ist zweifellos der beste. Das macht nun richtig Spaß. Faust in großer Pose. Hitler? Ich bin mir nicht sicher. Im Video eine Kakophonie von Gelehrten, die einem alle den Faust erklären wollen.
Ein Gezeitenkraftwerk soll es nun werden als bleibende Tat, dafür müssen Menschen weichen. Es trifft ein altes Paar, bei der Umsiedlung geht leider ihr Haus in Flammen auf, die alten Leutchen gleich mit. Mephisto ist nur der Vollstrecker des Faustschen Willens.
Dieser Faust ist nun alt, es geht ins Endspiel. Nein, kein Graben wird das, es wird ein Grab. In jeder Art ist er verloren. Sieben Schauspieler rezitieren im Chor seine letzten Verse. Schön. Dankeschön. Ein guter Schluss.

Trotzdem geht es noch ein bisschen weiter. Der Kampf der Heerscharen (himmlisch und höllisch) muss noch geschildert werden.
Mephisto erliegt dem Charme der Engel, ist kurz unaufmerksam, schon ist die Seele weg, zum Himmel entschwunden. Alles war umsonst.
Ein honigsüßes Ende, passend mit einem Schlager vertont, großes Finale. Schön die Verlesung der Beteiligten, wie bei der großen Samstagabendshow.
Begeisterung dort, wo die Zuschauer sitzen, Jubelstürme. Es hat gefallen, das Ende war die Wende.

In diesem Sinne: Danke für den Besuch, Thalia. Gern mal wieder.
Ach so, die Überschrift. Ich denke, Faust ist eher so Dortmund. Er mag der Sieger der Herzen sein, aber die Abendkasse hat Mephisto an sich genommen. Jede Wette.

Une petite Marseillaise.

Fünf Tage in Marseille, man hat was zu erzählen.

Le premier jour

Reisen kann durchaus angenehm sein. Zum Beispiel, wenn man im Obergeschoss des TGV in einem bequemen Sessel lümmelt, die südfranzösische Landschaft an sich vorbeiziehen lässt und im Reiseführer blättert. Um nichts in der Welt hätte ich fliegen wollen (die Frage nach dem Auto stellte sich erst gar nicht). Acht Uhr morgens in meinem Quartier abgefahren, noch vor zehn Uhr abends die mediterrane Abendluft gespürt. Ein Tag zum Reisen halt, nicht contre la montre, sondern so, dass die Seele noch mithalten kann.

Marseille also.
Purer Zufall, dass es mich jetzt wieder in die Stadt verschlägt, die ich vor zwanzig Jahren schonmal kurz besuchte, als ich für einen Sprachkurs bei der feindlichen Cousine Aix weilte. Aber ein schöner Zufall.
Unentschlossen zwischen den Schönen und aufregenden Städten in Europa, hätte ich wohl ewig zwischen Istanbul und Barcelona, zwischen Rom und Stockholm und zwischen Athen und Lissabon hin und her geschwankt. Eine sollte es sein in diesem Jahr, mindestens.
Nun entschied man also für mich, und ich folgte dankbar.

In der Hektik der letzten Tage vor der Abreise – die mich dann auch noch den Nachtschlaf kosteten, den ich notdürftig im Zug ab Dresden nachholte – hatte ich es versäumt, mir eine grobe Karte der Region, die ich durchfahren würde zu besorgen. Geographisch war ich bislang in anderen Gegenden zuhause, die „hier unten“ sagten mir nicht viel. Strassbourg am Rhein und im Elsass, OK, aber dann fällt die landschaftliche Zuordnung schon schwer. … Mulhouse in der Bourgogne? Hier kämpf ich grad mächtig mit dem Schlaf, die Klärung entfällt.
Lyon an der … Rhone? Keine Ahnung. Aber schön gelegen auf jeden Fall. Und interessante Gebäude, neue wie alte. „Part-Dieu“ heißt der Bahnhof. Teil-Gott (wie Teil-Auto)? Gottesteil? Halbtagsgott? Mein Französisch ist nicht wirklich verhandlungssicher.

Noch knapp zwei Stunden Fahrt. Heute ist Feiertag in Frankreich, hab ich grad bemerkt. Der 8. Mai, wie früher bei uns, auch aus demselben Grund. Das ist schon mal sehr sympathisch. Warum wird das in Deutschland eigentlich nicht mehr mit einem freien Tag begangen? Ach ja, die Weltmarktfähigkeit.
Morgen dagegen kommen wir zu etwas völlig anderem, Himmelfahrt, l’Ascension, wie das hier heißt. Nur am Freitag ist leider nichts.

Während ich so sinniere, breche ich nebenbei meinen eigenen erdgebundenen Geschwindigkeitsrekord. 298 „Ka-Emm pro Ha“, wie wir Experten sagen, wenn wir uns als solche ausweisen wollen. Und dabei ein Fahrverhalten, dass mich angesichts des hohen Schwerpunkts des Doppelstöckers staunen lässt: Das Ding liegt wie ein Brett auf der Schiene.

Kommen wir wieder zu etwas ganz anderem. Meine erste Begegnung mit der französischen Gastronomie findet zwangsläufig an Bord statt. In meinem Paketpreis war außer dem 1. Klasse – Sitz (was angesichts acht Stunden Fahrt und meiner Überlänge eher Notwendigkeit als Luxus ist) auch ein Imbiss enthalten, zur Selbstabholung. Ich schlängele mich also vom Wagen 1, den ich bewohne, durch die fast voll besetzten anderen beiden Erstklasswagen zum Bistro, bemerke dabei, dass man nur oben durchlaufen kann und stehe dann in einem zweckmäßig eingerichteten Raum ohne großes Brimborium. Man versucht gar nicht erst, einen auf frisch gekocht etc. zu machen, das Angebot kommt aus der Dose, Plasteflasche oder ist eingeschweißt. Aber das ist OK, man sollte bei der Zuggastronomie ohnehin die Kirche im Dorf und die Edelköche in ihren Chalets lassen. Mein Menü ist übersichtlich, aber schmackhaft, und ich darf mir einen Rosé dazu wählen. Noch ein Dreieckssandwich – doch deutlich teurer als bei der DB – und ich trolle mich mit einem niedlichen Pappbeutel in meinen Wagen. Auf der Tüte ist grob die Reiseroute dieses TGV von DB und SNCF dargestellt, Paris wird zwar nicht angefahren, muss aber natürlich mit drauf sein.

Die Berge links und rechts werden höher, riesige Brückenbauwerke für die Eisenbahn, nächster Halt Avignon. Ein Bahnhof in luftiger Höhe. Ich assoziiere Papst, Spatz und Helmfrisur, verfolge die Gedanken aber nicht weiter.
Die Unterwegshalte dauern generell meist länger als beim ICE, ein Zeichen dafür, dass man die berechneten Fahrzeiten in Frankreich etwas großzügiger bemisst. Auch so kann man etwas für die Pünktlichkeit tun.

Gelegentlich sind in der Landschaft große Kühltürme versteckt. Frankreich ist auch das Land der Atomenergie. Die sehr niedrigen und kleinen Windräder wirken dagegen eher niedlich. Die deutsche Debatte um den Ausstieg steht den Franzosen sicher noch bevor. Ohne überheblich zu sein: Manche Dinge gehen rechtsrheinisch einfach schneller, die Berge von Verpackungsmüll, die ich aus den Neunzigern von hier noch in Erinnerung habe, sind heute so sicher auch nicht mehr da.
Nun ist es fast völlig dunkel. Ich presse meine Stirn an die Scheibe, aber es sind nur Schemen zu erkennen. Einige Steinbrüche kann ich noch ausmachen, der schneeweiße Kalkstein scheint begehrt zu sein.
Es geht noch schneller: 315 km/h. Korrekterweise muss ich natürlich sofort an die Energiebilanz denken, aber geil isses schon. On roule …

Aix, ach ja. Aix-en-Provence, so viel Zeit muss sein. Als Student quälte ich mich bei gefühlt 40 Grad durch einen vierwöchigen Sprachkurs hier, aber schön war es trotzdem. Die Ausflüge nach Arles, in die Gorges, in die Höhlen … und die Promenade von Aix. Da muss ich unbedingt nochmal hin.
Den futuristisch-schönen TGV-Bahnhof gab es damals noch nicht, wer mit dem Zug nach Aix wollte, musste über Marseille fahren. Das wird den Aix’ern nicht gefallen haben.

Hier stoße ich auch zum ersten Mal auf „Marseille-Provence 2013 capitale européenne de la culture“. Bisschen sperring vielleicht, aber ordentlich ausgesprochen klingt das nach was. Wobei ein FAZ-Speciàl von voriger Woche mir soufflierte, dass man in Aix der Meinung sei, das gar nicht nötig zu haben und nur pro forma mitmache. Na ja, on verra.

Das Ziel kommt näher, nous arrivons à Marseille-St. Charles … Fünf Tage Zeit, eine Stadt zu entdecken. Allez!

Le deuxieme jour

Ein Nachtrag natürlich noch: Auf die Sekunde pünktlich rollte mein Zug ein, eine milde, warme Nachtlust empfing mich. Gefühlt zwanzig Grad mehr als zuhause. Tout va bien.

Auch der nächste Tag ist wie schon berichtet einer zum Feiern. Erstmal die nähere Umgebung erkunden, schmale Straßen, vierstöckige Häuser, verblichener bürgerlicher Charme. Erste Überraschung: Den Boulevard Longchamp schmückt eine Straßenbahn. Wo vor wenigen Jahren noch der übliche embouteillage (Stau, Eselsbrücke: Flaschenhals) herrschte, wie meine Begleitung berichtet, verkehren jetzt futuristische anmutende Stadtbahnen im Fünf-Minuten-Takt (in der Spitzenstunde). 1:0 für Marseille.
Die nächste Überraschung ereilt auch meine Gastgeberin. Man geht halt nicht mit Touristenaugen durchs Viertel, wenn man hier wohnt. Das Palais Longchamp erstrahlt wie neu, auch der Park dahinter wurde stark aufgewertet. Wirklich sehr hübsch gemacht, wenn man von den bonbonfarbenen Plastiktieren mal absieht.
MP13 zeigt sein segensreiches Wirken. Nein, das ist nicht die übernächste Generation der digitalen Musikspeicherung, „Emm-Pe treize“ ist der griffige Kurzname für alles, was heuer mit der Kulturhauptstadt zu tun hat. Das wird mir noch häufig begegnen.

Wie alle Landratten zieht es mich zum Hafen. Dabei ist die Metro behilflich, jede Station soll hier ein gänzlich anderes Aussehen haben. Na gut, es gibt ja auch nur zwei Linien.
Die Station Cinq Avenues Longchamps beeindruckt mich sehr, eine wirkliche Lichtinstallation. Den Wagen der U-Bahn ist die Herkunft aus den Siebzigern deutlicher anzusehen, die warmen Ockertöne lassen mich an Lockenmähnen und Schlaghosen denken. Wird ja sicher bald wieder modern.
Die Wände allerdings weisen Schäden auf, das Grundwasser drückt rein und wird nur notdürftig im Zaum gehalten. Das wird wohl in Kürze ein bisschen was kosten.

Bis vor einigen Jahren war der Vieux Port von Marseille der Sündenpfuhl in Gomorrha. Nepper, Schlepper, Bauernfänger, schmuddelige Kneipen, Kriminaltango. Das ist vorbei, alles ist jetzt trés chic. Segelboote so weit das Auge reicht, eine mondäne Uferpromenade und „gehobene Gastronomie“. Der Tourist wird jetzt eleganter abgezogen. Aber dazu ist er ja auch da, das ist in der Münzgasse nicht anders.

Ein Muss: Das, nun ja, Sonnendach von Norman Foster an der Stirnseite des Quais. Hat der doch einfach eine Fläche von vielleicht 20 mal 40 Meter auf zehn Meter hohe Säulen gestellt und unten verspiegelt? Tolle Effekte, man kann sich z.B. selbst ins Dekollete gucken. Oder auch anderen.
Wir wandern zum Pharo, einem Viertel links der Hafenausfahrt mit Kastell und Palais. Hübsch. Die Sonne brennt, ein Platz im schattigen Café mit Meerblick tut not. Der Kellner mault, als er bemerkt, dass wir unschlüssig sind, ob wir essen wollen. „Jusqu’ 3 heures seulement pour manger“, oder so ähnlich. Na gut. Geteiltes Menü ist halbes Menü.
Meine erste vollwertige französische Mahlzeit: Eine fangfrische Dorade an geschmortem Gemüse und Reis. So kann es weitergehen. Auch der Rosé schmeckt.

Kommen wir zu etwas ganz anderem: Ein kleiner Elektrobus pendelt entlang der Kais des alten Hafens, niedlich und gut für fußlahme Touries. Die supermoderne Fähre, die den Hafen durchqueren soll, tut dies heute mal wieder nicht. Technische Gründe, ah ja. Meine Begleiterin schimpft mit Marseiller Zunge, ich nicke dazu tapfer.
Das MUCEM ist einerseits das Museum der Mittelmeerregion (das früher – warum auch immer – in Paris beheimatet war) und andererseits der ideelle Mittelpunkt der MP13. Leider ist es noch nicht ganz fertig … Nein, ich verkneife mir jeglichen Querverweis.
Immerhin kann man die bauliche Hülle bewundern, ein transparenter Kubus wird von einer zweiten, organisch anmutenden Haut umgeben und durch einen luftigen Steg mit dem Fort Saint-Jean nebenan verbunden.
Direkter Nachbar ist das „Regionale Zentrum des Mittelmeers“, ein nicht nur statisch interessantes Gebäude, dessen oberste Etage unwirklich weit über das Hafenbecken auskragt.
In der Umgebung gibt es weitere Baulichkeiten, die alle zum Projet Euroméditerranée gehören, einem Entwicklungsprogramm für die von alten Docks und heruntergekommenen Stadthäusern geprägte La Joliette. Dies ist langfristiger angelegt, ein Wahrzeichen ist allerdings schon fertig: Der elegant verdrehte Büroturm der Reederei CMA-CGM, entworfen von Zaha Hadid.

Und wieder etwas ganz anderes, man muss es nicht mehr extra erwähnen: Le Panier, ältestes und verwinkeltes Viertel oberhalb des Hafens. Hier ist der Euro-Fortschritt nicht ganz so offensichtlich. Immerhin, der Place du Lenche hat ein neues Gesicht bekommen. Mein Vorsatz, hier ausschließlich Wein zu trinken, zerschellt am ersten Straßencafé. Pourquoi pas, warum auch nicht, die Franzosen tun’s ja auch.
La Bière erscheint hier mit Akzent, über dem „e“, wird (auch) als pression (mit Druck, also gezapft) getrunken und kostet im Prinzip dasselbe wie in Dresden. Es ist aber leider nur die Hälfte drin im Glas. Auch wenn es überraschend gut schmeckt, selbst jenes, das nicht aus dem Elsass kommt: Der Preis ist schon heftig Aber dafür schließen die Lokale spätestens um Zwei und limitieren somit den Verzehr. Tout va bien.

Abends sind wir im Belsunce, dem Kreuzberg auf nordafrikanisch (auch hier ziehen übrigens die Hipster langsam ein). Ein bzw. das Couscous-Haus, eng, laut, heiß und mit wunderbaren Tagines voll Taboulé. Ich habe mindestens sechs verschiedene Formen von Lammfleisch gesehen. Alkohol gibt es nicht, Allah wäre not amused.

Le troisieme jour

Frühmorgens 12 Uhr (ich hatte verschlafen, vermutlich eine Nachwirkung der Anreise-Vorgeschichte, und den vereinbarten Treffpunkt Station Castellane zu spät erreicht) ein Markt am Prado, einem langen Boulevard in Richtung Süden. Ich kaufe zehn verschiedene Marseiller Seifen und damit höchstens ein Zehntel des Sortiments. Nun muss ich sie nur noch den entsprechenden Empfängern (bzw. deren Charakteren) zuhause zuordnen. Auch meine Begleitung findet einige Wässerchen.

Erstes großes Ziel: La Cité Radieuse. Von Le Corbusier 1952 fertig gestellt, nennt mein Reiseführer das neunetagige Gebäude eine Ikone des Aufbruchs. Ich tituliere es ein vertikales Stadtviertel und bin nicht minder begeistert. Eigentlich dem sozialen Wohnungsbau zuzurechnen, locken die grandiosen architektonischen Ideen des Meisters seit jeher eine Klientel in Haus, die das zu schätzen weiß und eine gewisse Zahlungsbereitschaft mitbringt. 108 qm sind schon für 350.000 Euro zu haben, auf dem Komfortstandard der fünfziger Jahre wohlgemerkt. Aber die scheinen es wert, das Haus bietet neben Wohnraum für etwa 1.000 Menschen unter anderem auch ein Restaurant mit Hotel, eine Laden- und Büroetage, eine Kita unter dem Dach sowie eine Dachterrasse mit Pool, Sporthalle und Gemeinschaftsräumen. Aber auch die Kleinigkeiten sind zu beachten, u.a. die Beleuchtung: indirekt mit Lampen, die an Trillerpfeifen erinnern, so modern, dass sie heute wie noch gar nicht erfunden wirken.
Man muss das unbedingt gesehen haben, auch den kleinen Park, der sich um die Stelzenfüße des eleganten Kolosses windet. Nein, eine Tiefgarage gibt es nicht hier.

Nach soviel Baukultur: Á la Plage! Das zieht zwar eine längere Busfahrt nach sich, weil der Avenue du Prado die längst fällige Straßenbahn noch nicht beschieden wurde, aber immerhin fahren wir mit dem ersten Gelenkbus, den die Stadt angeschafft hat. Kaum vorstellbar, wie die Menschenmengen in der Hauptverkehrszeit transportiert werden sollen (von „befördern“ ist nicht die Rede), wenn schon gegen drei Uhr nachmittags die Stehplätze umkämpft sind.

Das Nahverkehrssystem ist für eine de facto Millionenstadt (es gibt in Frankreich kein richtiges Meldewesen) ohnehin unterdimensioniert. Zwar sind die beiden U-Bahn-Linien klug angelegt und kreuzen sich zweimal am Rande der Innenstadt, zwar sind die beiden Stadtbahnlinien eine sinnvolle Ergänzung und kommen dank eigener Gleiskörper gut durch, zwar gibt es dazu noch siebzig Buslinien, die teils im 4-Minuten-Takt fahren, zwar sind die Bedürfnisse hier vielleicht ein wenig anders, dennoch: Was täglich auf den Straßen rumsteht, hupt und meterweise vorwärts rückt, spricht für einen weiteren Ausbau. Ein S-Bahn-System gibt es bisher gar nicht, die Vorortbahnhöfe werden eher sporadisch bedient, P+R scheint unbekannt. Viel zu tun, Kollegen.
(Übrigens, eben auf der Rückfahrt im TGV noch eingefügt: Die Vielzahl der wirklich schönen neuen Straßenbahnen in fast jeder größeren Stadt, in der wir halten, ist beeindruckend und macht neidisch.)

Zurück zum Strand, etwas völlig anderem. Der Marseiller verfügt dank der Lage seiner Stadt im Halbkreis am Meer über mehrere Badewannen, die schickste ist vielleicht La Plage du Prado im Süden. Es weht ein sanfter Wind, der zehn Meter breite Sandstrand ist schon gut gefüllt, als wir am Pointe Rouge den Bus verlassen. „Die Urlauber liegen wie tote Robben am Strand“, jener Satz, der mir mal an der Ostsee einfiel, passt hier nicht, es aalt sich der Einheimische.
Anfang Mai, so früh im Jahr waren meine Füße noch nie mit Meerwasser in Kontakt. Der restliche Körper muss noch warten, wir wollen mal nicht übertreiben.

Für die Rückfahrt nimmt man hier das Schiff. Stündlich fährt ein Boot, das etwa 100 Leute fasst, von hier zum vieux Port. Man erreicht den Ableger durch einen Marsch entlang der Bootswerften, die die Lieblinge hier im Hochregallager stapeln. Drei übereinander sind normal. Die Schlange ist zum Glück kürzer als hundert Menschen, wir kommen also beim ersten Mal mit, und das Boot fährt auch bald. Tout va bien.

Nicht mehr ganz so gut geht es, als das Hafenbecken verlassen wird. Der Wind ist hier alles andere als sanft. Die Wellen nicht höher als zwei Meter, aber für unsere Nussschale durchaus genug. Wir wurden gewarnt, auf dem Vorderdeck würde es nass, und hatten gelächelt. Und siehe, es wurde nass.
Während mich die regelmäßigen Duschen– in Gegensatz zu den meist quietschenden Mitpassagieren – eher erfreuen als schrecken, macht sich mein Magen ebenso regelmäßig in Richtung des Kopfes auf den Weg. Nur mühsam kann ich ihn an der Flucht hindern und muss dabei immer noch tapfer lächeln, dank meines großen Mauls zuvor.

Die Gefängnisinsel mit dem Château d’If, die wir passieren, soll schon den Grafen von Monte Christo beherbergt haben. Immerhin hatte der da festen Boden unter den Füßen, was man im normalen Leben gar nicht richtig zu schätzen weiß.
Aber auch diese Prüfung nimmt ein Ende.

Abends dann noch ein Bummel durch La Plaine, jenem Quartier, das der Dresdner Neustadt am nächsten kommt.
Neulich beim Männergespräch im Thalia thematisierten wir das Folgende schon: Automatisch den Bauch einziehen, wenn einem eine schöne Frau entgegenkommt, dokumentiert den Beginn einer neuen Lebensphase. Dazu ist reichlich Gelegenheit hier, ich absolviere ein veritables Bauchmuskeltraining.

Erst haben wir wunderbar gegessen, dann gut getrunken, sind dann nett geschlendert – schwarze Schönheiten stöckeln leicht unbeholfen im La Teranga, es gibt eine Modenschau mit Tanzeinlagen – und dann mit dem Roller meiner Gastgeberin wieder heimgefahren.
Diese Roller sind – wenn einem die Bedienung geläufig ist und man ein wenig Mut mitbringt – zumindest abends das beste Fortbewegungsmittel. Der öffentliche Verkehr macht noch vor Eins Feierabend, und Taxis sind in diesem Viertel nicht häufig und zudem teuer.

Letzte Station für diesen Abend. Eine Bar im Quartier. Merke: Alle Menschen sind gleich. Die Kneipe könnte auch in Schöneberg sein. Oder in Pieschönn. Sehr angenehm, trotzdem. Aus dem Wurlitzer dröhnt Johnny Halliday. Tout va bien.

Le quatrieme jour

Wir machen einen Ausflug, nach Arles, mit der Bahn.
Und erstmal eine Erfahrung: Was die SNCF-Homepage verspricht, muss mit der Realität nicht viel zu tun haben. Das Sonderticket zur MP13 gibt es nicht am Automaten, wär ja auch zu einfach, drei Knöpfe drücken, bezahlen, Ticket ziehen. Nein, man muss zum Schalter, wo etwa fünfzig Leute mit vielleicht ähnlichen, aber vielleicht auch ganz anderen Problemen warten.
Erklärt wird einem das mit einer wahrhaft königlichen Herablassung vom schnöseligen Auskunftsbeamten, der auf seinem Podest inmitten der Bahnhofshalle sitzt, nein, thront. Danke fürs Gespräch. Dann also regulär zahlen, zehn Euro mehr pro Nase. Zum Trost werden wir nicht kontrolliert.

Trost spendet auch das mitgenommene Croissant. Im Gegensatz zu den Dingern in l’Allemagne ist dies kein aufgeblasenes Häufchen Nichts, sondern ein vollwertiges Nahrungsmittel, das vor allem nach Butter schmeckt.

Die SNCF bietet übrigens weder im Fern- noch im Nahverkehr einen richtigen Taktfahrplan an, auch wenn sich die Abfahrtsminuten oft gleichen. Aber es gibt empfindliche Lücken am Vor- und Nachmittag und dafür ein paar mehr Züge in den Spitzenstunden. Was nun besser ist, mag ich nicht entscheiden, rechne jedoch ohnehin damit, dass auch bei uns die Lücken am Vormittag wiederkehren werden. Das Geld halt.

Arles an der Rhone, inmitten der Camargue, ist schon sehenswert. Die ersten Spuren hinterließen die Römer, innerhalb der Stadtmauer ist noch viel davon zu sehen. Für mich augenfälligstes Relikt der Vergangenheit: Die Stierkampfarena, die auch heute noch betrieben wird. Ja, zum Stiere abstechen.
Ich will darüber aber nicht groß philosophieren. Wer aus einem Land kommt, wo man Tiere industriell erzeugt und verwertet, sollte bei solchen Themen lieber die Fresse halten. Es ist eine Kultur – wenn auch nicht meine – die schon Jahrhunderte lang Tradition hat. Den Franzosen (und vor allem den Spaniern) jetzt zu erklären, dass die corriere du taureaux ganz und gar nicht geht, bedarf des Sendungsbewusstseins eines gutmenschigen Weltverbesserers, welches mir nicht zur Verfügung steht.

Etwas ganz anderes: Auf dem (viel touristischer geprägten) Markt erstehe ich einen schönen weißen Hut, der mir in der Folge nicht nur in modischen, sondern auch in gesundheitlichen Angelegenheiten gute Dienste leisten wird.
Noch ein Besuch beim Rezeptionisten eines hiesigen Nobelhotels, den man, wenn man ihn wie meine Begleiterin im Nachtleben von Marseille erlebt hat, nicht erkennen würde, so seriös wirkt er, ein kurzer Abstecher an die Rhone und schon geht es zurück. Es wartet nämlich noch l’OM!

Meine Beziehung zum Fußball ist bekanntlich zerrüttet. Früher war es Liebe … Aber Kinderzeit ist lange her, ich erinner mich nicht mehr.
Heute nutze ich diesen Sport vor allem, um mich über sein Publikum und vor allem die mediale Aufbereitung dieser fast täglichen Schicksalsmomente lustig zu machen. „Hier geht es nicht um Leben oder Tod, es geht um mehr“, wie die Sportfreunde (!) Stiller singen.

Aber wenn ich schon mal hier bin … Da kann ich gleich auch gestehen, dass ich dennoch einen Helden habe: Zinédine Zidane. Jener franko-algerische Recke, dem die Ehre von Mutter und Schwester sowie die Bestrafung eines italienischen Flegels wichtiger waren als irgendsoein Weltmeistertitel. Das wird bleiben, auch wenn seine Tore einmal vergessen sind.
M. Zidane stammt aus dem Norden von Marseille, der anderswo Favela oder Slum heißen würde. Außer Fußballer kannst du da Nichts werden, und die wenigsten werden Fußballer. Immerhin, einer hat es ganz nach oben geschafft und wird jetzt wie ein Halbgott verehrt. Sein Sportgeschäft soll gut laufen, sagt man.

Übrigens haben wir keine Karten für das Spiel heute gegen Toulouse. Meine Begleitung verlässt sich voll auf den Schwarzmarkt. Dieser profitiert jedoch sehr davon, dass das ganze Stadion eine Baustelle und somit nur die Hälfte der Plätze verfügbar ist, BWL, 1. Semester. Das Billet bzw. das Reinkommen steht bei 100 €, als wir zehn Minuten vor Spielbeginn in den Handel einsteigen. Im 2. Semester lernt man, was man dann beobachten kann: Einen Preisverfall. Mit dem Anpfiff sind es noch 50 €, Tendenz nach unten. Aber die Tatsache, dass 15 Minuten nach Beginn die Außentore geschlossen werden, fängt den Preis bei 30 € auf (3. Semester).

Wir sind drin, irgendwie. Vorausgegangen waren hektische Diskussionen unseres Schleppers mit den Einlassern und schließlich eine herrisch winkende Hand des Rudelführers. Karten haben wir keine, demzufolge auch keinen Platz, also rein in irgendeinen Block. Ein Ordner fragt uns nach den Tickets, doch wir sprechen leider kein Französisch, und nach einigen Verständigungsversuchen lässt er ab von uns, weil es auf dem Spielfeld grad spannend wird. Wir nehmen auf der Treppe Platz.

Der Fußballklub Olympique de Marseille tritt an in Himmelblau, wie Chemnitz etwa. Meine Absicht, mir ein Trikot mitzubringen, werde ich nochmal überdenken.
Droit Au But? Das ist der Leitspruch des Vereins und klingt gut, heißt letztlich aber nichts anderes als „Recht auf Tor“. Jaja, aber … gleiches Recht für alle! Wie war das nochmal mit Égalité?
Das Spiel geht nach diesem Maßstab ungerecht aus, OM 2, TFC 1, ein Bein haben sich beide nicht ausgerissen dabei. Es geht wohl um nichts mehr, so kurz vor Saisonende. Und Zinédine war auch nicht da.

Was ich aber sehr beachtlich finde: Es ist kaum Polizei zu sehen, auch im Stadionumfeld nicht. Wenn ich daran denke, welche Hundertschaften bei Spielen eines hiesigen zweitklassigen Vereins in Marsch gesetzt werden … Hier hat der Fußball offenbar den Stellenwert, der ihm zukommt. Und nicht mehr.

Place de Lenche, da waren wir schon mal, macht aber nichts, der Restaurants sind viele.
Der Mistral weht die Menschen heute vom Place nach drinnen, es wird zunehmend ungemütlich draußen.
Dann fällt sogar ein Baum aufs Trottoir! Zum Glück, heuresement, liegt niemand drunter, nur einige Tische und Stühle sind Schrott. Eigentlich war der Baum grad frisch umgesetzt und einbetoniert. Le Mistral …
Die Nachricht schafft es sogar in die Sonntagszeitung. Am nächsten Tag ist nur noch die Wurzel da. Ob die anderen Bäume ähnlich gefährdet sind, wird hoffentlich jemand geprüft haben? Ich bin ein wenig peinlich berührt ob meiner Skepsis. Die Franzosen bauen großartige Hochgeschwindigkeitseisenbahnen, da werden sie wohl Bäume am Umfallen hindern können!?

Aber der Mistral bläst einem wirklich das Hirn aus der Birne.

Le cinqieme jour:

Etwas ganz anderes. Ein Ausflug. Diesmal zur Côte Bleue, der heimlichen Côte d’Azur von Marseille. Ähnlich schön wie die berühmten Calanques, aber nicht so überlaufen, wird mir glaubhaft versichert.
Eine schöne Bahnfahrt, wieder unkontrolliert, aber vorbei an den Häfen mit den dicken Kreuzfahrtschiffen und dann eintauchend in eine wilde, felsige Uferlandschaft, die zwischen Steilküste und schmalen Buchten wechselt. Ab und zu quetschen sich Dörfer dazwischen, die vom Land her nur über einen einzigen Weg zu erreichen sind.
Unsere Station heißt La Redonne, dann noch eine Viertelstunde steile Fußwege hoch und runter und wir können auf den Felsen vor einem kleinen Hafen faire un pic-nic. Dummerweise liegt 50 m vor uns der Party-Katamaran aus Marseille mit dröhnender Uffta-Humpta-Musik. Doch noch ehe ich aus dem Wandergepäck einen Torpedo basteln kann, lichtet er den Anker und gleitet von dannen. Sonntägliche Ruhe kehrt ein.

Leider lärmen auch die Zikaden noch nicht, zu früh im Jahr. Dieses Kerngeräusch des Südens müssen wir entbehren. Und der Lavandre blüht auch erst später.
Auf dem Rückweg noch ein Stopp an einem kleinen Strand. Erneuter Fußkontakt mit dem Meer, erneute Beschränkung auf diesen. Und dann noch ein bisschen am Strand liegen, in den Himmel schauen und schließlich une bière in der Hafenkneipe.

Abends dann creolisch, auch das geht hier naturalement. Und es geht gut. Am Sonntag haben nicht viele offen außerhalb der Tourie-Region, aber das zufällig entdeckte kleine Restaurant „Le Port au Prince“ ist alles andere als eine Notlösung. Falls jemand mal in der Nähe ist: 40, rue St. Savournin, 13001 Marseille. Am Ende macht man uns noch mit Rum dumm.

Le sixieme jour:

Nun noch Aix. Der erste unbegleitete Ausflug, ich bin jetzt schon groß. Der Automat der SNCF bereitet mir keine Schwierigkeiten, ob das ein Franzose von jenem der DB auch sagen könnte? Interessant das Prinzip der Bahnsteigzuweisung. Wo fährt mein Zug denn heute? Überraschung … 100 erwartungsfrohe Reisende beobachten gespannt die Anzeigetafel, bis das „C“ fünf Minuten vor Abfahrt erscheint, worauf eine Volksbewegung einsetzt.
Nächste Überraschung: Heute spielt man TGV und kontrolliert die Fahrscheine – die man hier nicht nur kaufen, sondern auch noch „entwerten“ muss (dieses Wort bedeutet übrigens genau das Gegenteil von dem, was eigentlich gemeint ist: Man macht den Fahrschein durch die Stempelei ja erst gültig für die Fahrt) – gleich am Einstieg, mit dem üblichen massiven Personaleinsatz. Das gleicht dann auch die unkontrollierten Fahrten nach Arles und an der Côte Bleu wieder aus.
Nicht, dass ich was gegen viel Personal bei der Bahn hätte, im Gegenteil. Das ist ein ehrbarer Beruf, und die cheminots sind sich ihrer Würde auch bewusst. Ob die Mischung aus mausgrauem Anzug und fliederfarbenem Hemd dazu beiträgt, sei einmal dahingestellt. Aber sie sind ordentlich beschäftigt und entgehen damit der Gefahr, von Sarko et collegues irgendwann weggekärchert zu werden.

Der Zug durchquert die banlieus. Hier wird die Ärmlichkeit nicht mehr von Prunkbauten verdeckt. Marseille, die nördlichste Stadt Afrikas? Kann schon sein. Dennoch, von Straßenschlachten wie in Paris hat man hier nicht gehört bislang.
Steinbrüche bringen den wunderbar leuchtenden Sandstein dieser Gegend zutage. In Kombination mit der südlichen Sonne erzeugt dieser eine unglaublich warme Farbe, die man so an der Elbe nicht zu sehen bekommt.

Angekommen. Der Bahnhof ist unspektakulär, der Weg ins Zentrum aber nicht weit. Die Rotonde hab ich anders in Erinnerung, vielleicht verklärt durch die mehr als fünfzehn Jahre, die seitdem vergangen sind. Eigentlich ist das nur eine schlichte Kreuzung mit Kreisverkehr. Auch die Platanen auf dem Cours Mirabeau waren früher höher, scheint mir.
Aix verhält sich zu Marseille wie Potsdam zu Berlin oder Starnberg zu München. Selbst die Gemüseläden sind hier nobel.
Ein Spaziergang in Richtung meiner früheren Herberge, einem Studentenwohnheim östlich der Altstadt. Den Weg finde ich, aber das Ziel scheint verschwunden. Egal, ich wollte eh keinen Kranz niederlegen.

Auf dem Rückweg passiere ich ein Lycée, da ist grad Pause. Die vorherrschende Herrenmode ist hier der Trainingsanzug. Es ist erst zehn Uhr, Montag, die Innenstadt beginnt grad mit dem Aufwachen. Aber es werden schon erste Besuchergruppen durch die Gassen getrieben. Die Touristen tragen Funktionsbekleidung und außerdem aufgeklebte Nummern, die sie als einer Gruppe zugehörig kenntlich machen. Das ist schön, jeder will ja irgendwo dazugehören.

Aix ist langweilig, beschließe ich, pittoreske Altstädte mit Hunderten von Restaurants hab ich schon genug gesehen. Ich suche das empfohlene Café hinter dem Rathaus. Tatsächlich, sehr hübsch, und die Terrasse bietet zumindest zwei Kaffee lang Schatten, eh die Sonne rumkommt. Zeit genug, l’ordi portable auszupacken und diesen Text hineinzuhacken.
Und dann zurück, den letzten Halbtag in Marseille genießen. Tout va bien, immer noch.

Der Weg zum Bahnhof führt durch die Neue Mitte von Aix. Schick und verwechselbar, H&M ist auch schon da.
Der Bahnhof ist baulich das ganze Gegenteil, aber gemütlich. Neben zahlreichen Beförderungsfällen sind anwesend:
Ein Sicherheitsmann, ein Sicherheitsmann der SNCF, eine Aufsicht (hübsch) und drei Schaffner (der weibliche Teil sehr hübsch). Jeder DB-Controller würde den roten Bleistift wetzen und erstmal zwei Drittel davon streichen. Für den Anfang, um Härten zu vermeiden.

Beim Rückblick aus dem Zug sehe ich endlich Ste. Victoire, jene beeindruckende Bergkette, die meine stärkste Erinnerung an Aix ist und bleibt.

Der Zug ist voll, auch zur Mittagsstunde ein großer Andrang. Die Karten kontrolliert eine vierte Schaffnerin, auch jene ausnehmend attraktiv. Ein Fünfter und Sechster leisten Beistand, als sie charmant eine Fahrpreisnacherhebung durchführt. Nicht bei mir, was ich für einen kurzen Moment bedauere.
Die schlechte Gleislage spüre ich jetzt deutlich im Kreuz. Vermutlich die Strafe für unkeusche Gedanken über Amtspersonen.

Marseille mit seinen Wohntürmen beginnt etwa 20 Minuten vor Ankunft in St. Charles. Plattenbauten soweit das Auge reicht. Auch wenn sie nicht im Taktstrassenverfahren errichtet wurden, es ist kein Unterschied zu Gorbitz. Vielleicht stehen sie etwas aufgelockerter. Und sicher sind sie schon deutlich heruntergekommener. Instandhaltung ist keine südliche Tugend, hab ich neulich mal über Kairo gelesen. Das dürfte aber auch für Marseille gelten.

Das Meer, ach ja. Nur noch heute kann ich den Anblick genießen.
Dann ein erneuter Bummel durch Klein-Marokko, das später nahtlos in Klein-Senegal übergeht. 90 % Männer auf den Strassen, so ist das halt.

Offenbar hat man seitens der Stadtverwaltung das alte Fährboot reaktiviert, nachdem das schicke Neue öfter mal den Dienst am Touristen verweigerte. Für umsonst geht es über das Hafenbecken. Hier ist noch Potential, liebe Stadteltern.

Der (temporäre) Pavillon zur MP13 ist wie Pavillons zu irgendwas halt so sind, ganz hübsche Animationen und Hostessen, Imagefilmchen und ein bisschen Kunst. Die Mischung aus Holz und Plexiglas sieht sehr schick aus, heizt sich aber auch mächtig auf, trotz einer Batterie mobiler Klimamaschinen ist es deutlich wärmer als draußen. Und wir haben erst Mai …
Übrigens, l’Art de Vie wird dort in unzählige Sprachen übersetzt. Deutsch ist nicht darunter.

Ich will nochmal runter zum Mucem. Aber der Fußgänger hat es hier schwer: In langen Serpentinen muss er sich erst von der Leistungsfähigkeit der französischen Bauwirtschaft überzeugen, ehe er unten ankommt.

Am Ende des Kais stehen Bauwerke aus 40-Fuß-Containern, der 17. Arrondissement, jener der Zukunft, auch das natürlich MP13. Marseille hat bisher nur 16 Bezirke, eine niedliche Idee also. Am Nachmittag ist hier noch nicht so viel los, nur einige Artisten seilen sich ab. Einen Abendbesuch schaff ich leider nicht mehr.

Nach dem Treff á dix-huit’ heures mit meiner zur werktätigen Bevölkerung gehörenden Gastgeberin noch ein Ausflug zur Basilika Notre-Dame-de-la-Garde. Diese überragt die Stadt auf einem Hügel, die Anfahrt zu zweit mit dem Motorroller ist eine Herausforderung. Aber nicht er gibt auf, sondern ich, ein Krampf im Oberschenkel zwingt mich zum Absteigen. Vermutlich ähneln sich unsere Grundfrequenzen, und es kam zur Resonanzkatastrophe.
Der Blick von oben ist grandios, die ganze Marseiller Bucht liegt uns zu Füßen. Ein Moloch von Stadt, der bis zum Horizont reicht, darüber ein wunderbares Abendsonnenlicht.
Der Blick nach oben zeigt die Jungfrau mit dem (eigenen) Kind, dieses Grundrätsel der christlichen Kirche, das erst mit Hilfe der Gentechnik einigermaßen befriedigend gelöst werden konnte.
Hui, nun die Schussfahrt in den Hafen!

Dort gibt es ein Restaurant namens „La Treize“ also Dreizehn. Es scheint auch in diesem Jahr erst aufgemacht zu haben, alles neu drinnen. Aber wir wollen ja draußen.
Man verfügt über modernes Equipment, aber das Tablet zur Bestellaufnahme ist mit einem rustikalen Holzrahmen versehen. Ach …
Die zu Ehren des letzten Abends georderten Moules munden hingegen hervorragend.

Endgültig die letzte Einkehr: Longchamp Palace um die Ecke. Sehr angesagt, der Laden, zumindest in gewissen, sympathischen Kreisen. Gewöhnlich holt man sich sein Getränk am Tresen und stellt sich dann wie dreißig Andere aufs Trottoir, drinnen kann man ja nicht rauchen. So ähnlich sähe es in der Neustadt auch aus, wenn man hier genauso streng wäre.

Müde bin ich, geh zur Ruh, gleich falln mir die Augen zu. War wohl zuviel Sonne heute, zuviel Pflaster, zu viele Eindrücke. Morgen geht es nach Hause.

Le dernier jour

Ein scharfer, stechender Schmerz in meiner Brust (wie der Dichter, aber in diesem Falle auch der Internist sagen würde) begleitet mich am nächsten Morgen zum Bahnhof. Körper und Geist bilden halt doch eine Einheit.
Erst in Avignon verschwindet er langsam und ich kann mich an der Reise – erstmal entlang der Rhone, später in Sichtweite mehrerer Mittelgebirge – freuen. Und noch ein wenig sinnieren über diese Tage im Süden.

Wir halten in Aix und Avignon. TGV-Bahnhöfe wie diese außerhalb der Stadt zu bauen, hat zumindest den Vorteil, dass man die Innenstädte ungeschoren lassen kann. Wäre doch auch eine Idee für Stuttgart … Von Freunden lernen.

Außer ein paar Arbeitsdeutschen und Touristen aus aller Herren Länder habe ich in Marseille nur sehr wenige Ausländer gesehen. Ein Ort also, wo sich die Stramm-Ärsche von der NPD etc. wohlfühlen würden. Überall Bürger der Republik, überall nur Franzosen … jedweder Couleur allerdings.

Man muss dennoch nicht alles mögen hier. Dass es trotz manchmal sehr schöner, aufwendig gestalteter Flaschen für jedes denkbare Getränk noch immer kein Pfandsystem gibt und die bouteilles somit bestenfalls im Glascontainer oder auch im Hafenbecken landen, kann ich nur schwer begreifen. Von einem Einweg-Pfand ganz zu schweigen, dann würden die Straßen ja so deutsch aussehen.

Und auch wenn ich hier mit Kennermiene die eine oder andere Vokabel einstreue: Mein Französisch ist nach fünf Tagen noch immer alles andere als perfekt. Was ich inzwischen aber sehr gut kann, ist deutsch mit französischem Akzent zu sprechen. Und zum Sprechen alle Körperteile zu benutzen, das mach ich jetzt auch ein bisschen.
Über die fremden Wörter hier im Text müsste ich auch nochmal rüber, grammatikalisch und orthographisch. Da hab ich jetzt aber keine Lust zu. Und bei mir geht’s neuerdings meistens nach der Lust.

Inzwischen hat der Zug gewechselt, besser gesagt, ich habe ihn gewechselt. Das vertraute Dröhnen des ICE-T umhüllt mich. 17 Uhr ab Frankfurt, es ist richtig voll und wird auch in Fulda nur unwesentlich leerer. Hier werden die Mehrkosten von Stuttgart21 verdient.

Im Waggon gibt es mehr Frauen mit Kopftüchern als ich insgesamt in Marseille gesehen habe. Ein Zufall, sicher, nicht repräsentativ. Und man muss ohnehin aufpassen, dass man hier nicht in die Korrektheitsfalle läuft und besser als die Frauen selbst zu wissen glaubt, was diese wirklich wollen.
In Frankfurt/M. stieß ich übrigens fast mit einer einzelnen Burka-Trägerin zusammen, die mich aus schmalem Sehschlitz anfunkelte. Ob böse oder nicht, kann ich mangels einschlägiger Erfahrung nicht beurteilen. Dabei war sie schuld, was muss sie auch fast rennen und dabei noch eine sms tippen.

Ein pendelndes Businessweibchen hat nun eine Methode gefunden, auch bei beengten Platzverhältnissen die Maus am Rechner zu benutzen: Sie bewegt sie am Oberschenkel auf und ab. Das sieht durchaus erotisch aus und ist es vielleicht auch. Aber liebe Männer, bitte nicht nachmachen, das könnte zu Missverständnissen führen.

Die Mitreisenden kommen mir alle so unentspannt vor, nicht nur die im Anzug. Ich glaube, denen fehlt ein bisschen südliche Sonne.

Und in der nächsten Folge dann: Teischel Mauköh kehrt zurück und bringt den Marseillern savoir-vivre bei. Merci bis hierhin.

Unsre Welt soll Schöna werden! Ein Fall für alle.

Unsre Welt soll Schöna werden! Ein Fall für alle.

„Der Fall aus dem All“, ein Landschaftstheater von Uli Jäckle, Koproduktion mit dem Theater ASPIK, gesehen am 5. Mai 2013 nicht direkt am Staatsschauspiel Dresden

Eine Landpartie. Das Staatsschauspiel hat geladen und will uns die bis dato hier unbekannte Form „Landschaftstheater“ nahe bringen. Das funktioniert in etwa so, dass eine relativ große Darstellerschar diverse Örtlichkeiten an der frischen Luft bespielt und das Publikum dem Stück folgt, also hinterherwandert.
Bei Hildesheim soll das seit Jahren gut funktionieren, und was läge näher, als das Konzept mit der hiesigen Bürgerbühne zu verknüpfen?

Es ist eine Saison der Großtaten, also geht man mit dem Stück natürlich auch dahin, wo es weh tut: Reinhardtsdorf-Schöna, die idyllisch gelegene Gemeinde in der Sächsischen Schweiz, rangierte bei den letzten Landtagswahlen in der Spitzengruppe, was die NPD-Prozente anbelangt. „Sie zu lehren, sie zu bekehren?“ … Vielleicht. Auf jeden Fall geht man den schweren Weg, exportiert nicht einfach den Dresdner Bürgerbühnenstamm in die Provinz, sondern arbeitet mit den „Menschen im Lande“, wie es jetzt wieder öfter heißen wird. Bald sind ja Wahlen.

Und dieses Experiment – soviel sei vorab verraten – ist geglückt, die Idee funktioniert auch hier. Man kann „normale“ Menschen zum Spielen bringen, und man erntet dabei erstaunliche Ergebnisse.

Vor dem Beginn gibt es – für den, der wollte und für kleines Geld – eine Busfahrt durch die sonnendurchflutete Heimat Richtung Süden. Schließlich werden die Straßen schmaler, die Berge höher, die Dörfer pittoresker: Man ist angekommen. Ein Kuchenbasar allererster Güte, auch der Kaffee schmeckt großartig. So kann es weitergehen.
Auch der Parkplatz füllt sich langsam mit Individualanreisern, und die Dorfbevölkerung ist heute „für umsonst“ eingeladen und erscheint zahlreich.

Der Einlass ist gleichzeitig die Campingsitz-Ausgabe. Dieser ist fortan bei sich zu führen und bei Darstellungen unter den Hintern zu klemmen. Wir, etwa dreihundert Zuschauer, scharen uns um eine Polizeiblockhütte. Es kann losgehen.

(Ein technischer Hinweis: Die Ausstattung der charmanten Einweiserin mit einem Megaphon würde zum einen ihre Stimme schonen – die wird nämlich auch anderswo gebraucht – und trüge zum anderen zur Verständlichkeit bei.)

Die über sechzig Darsteller zerfallen grob in vier Gruppen:
Da wäre – wer hätte es gedacht – zunächst die Bevölkerung mit Bürgermeister. Dann ein Aquarellkurs, der aus lauter Kripo-Beamten besteht und in dem Kommissarin Ines aus Konstanz eine gewisse Rolle spielen wird (hübsche Analogie zur Soko INES übrigens). Es folgen die Nummern vom MFEA – Ministerium für außerterrestische Angelegenheiten – mit ihrem fanatischen Chef und schließlich, sonst würde die dritte Gruppe ja keinen Sinn haben, die Außerirdischen vom Planeten Zirka mit König, Königin und Kanzler Völker.
Zwischen diesen versuchen sich zwei Polizisten, Napoleon Bonaparte, eine kinderreiche Uschi, ein Ösi als frischer Gatte derselben und Herr C.D.F. zu behaupten.
Klingt komisch? Ist auch so. Manchmal auch saukomisch.

Es liegt mir fern, die Handlung komplett nachzuerzählen. Die muss sich schon jeder selbst angucken. Es geht unter anderen um Tourismusförderung, verirrte Campingurlauber (Sizilien liegt an der Elbe, ist doch klar), die Jagd auf Außerirdische mit großem Gerät, die Landung dieser mit noch größerem, ein verschwundenes Bild mit großer Bedeutung, unklare Verwandtschaftsverhältnisse, den fremdgesteuerten Polizisten und Chrysanthemen-Freund Günther, eine Zeitreise nach 1813, den Einzug der Franzosen, der CDF beim Malen stört, die Pressgeburt einer Rettungskapsel, interterrestrische Liebe, interbehördliche Liebe, interfamiliäre Liebe, darum, dass ein Bus kommen wird, um Wahlen und Machtmissbrauch und schließlich darum, wer übrig bleibt.

Einiges herausgepickt:
Die Nummern (ja, Nummern, die haben halt nur Nummern) vom MFEA verhaften zunächst Landgeräte und begreifen diese als Bedrohnung, derweil die Außerirdischen die Erde analysieren. Schließlich wollen die wissen, warum die Erdinger (Vorsicht, Schleichwerbung!) immer gewinnen beim universumsweiten Dorfschönheitscontest. Dass man Gras nicht nur essen kann, wird ihnen schon noch jemand sagen.
Köstlich die Ankunft des frischen Paares mit den drei Beutekindern. „Sag Papa zu mir!“, alles hat seinen Preis. Am Ende bleibt Kevin allein am Wohnwagen, wir befürchten das Schlimmste, er geht dann aber Pilze suchen.

Es folgt ein größerer Transfer. Hier fühlt sich der Verkehrs-Ing. berufen, auf Optimierungsbedarf hinzuweisen. Die Veranstaltung eines Auto-Corso ist sicher nicht das Gelbe vom Ei, zumal die Gäste, die weder mit Bus noch Auto anreisten, ein bisschen dumm rumstehen und auf einen Bus und die privaten Autos verteilt werden müssen. Ich bin mir sicher, dass am Wochenende irgendwo zwei oder drei Schlenkies (vulgo Gelenkbusse) aufzutreiben wären, die das Publikum gebündelt befördern könnten. Ja, das kostet extra. Aber vielleicht fühlt sich ja ein Sponsor berufen?
Schön aber, dass auch die Fahrt (wie auch die innerdörflichen Wanderungen) bespielt wird: Man sieht am Straßenrande heitere Szenen des Dorf- und exterrestrischen Lebens.

Zurück zur Kunst. In Schöna angekommen (vorher waren wir in Reinhardtsdorf), absolvieren wir eine Zeitreise, 200 Jahre zurück. Dann effektvolle Auftritte von CDF und dem Kaiser Bonaparte nebst Gefolge, darunter drei Pferde. Auch der Ösi erscheint bzw. brettert wie eine wilde Sau in einem alten Ford den Berg runter. Den Fahrstil hat er sich sicher bei den Einheimischen abgeschaut. Schließlich rollt noch ein Außerirdischer heran und gebiert eine Gestalt, die später noch eine Rolle spielen wird. Wildes Getümmel, dann Flucht und Verfolgung. Auch die Zuschauer folgen.

Die für meinen Geschmack großartigste Szene spielt sich in einem schmalen Vorgarten ab. Der Chef des MFEA (Michael Wenzlaff nicht nur mit großartiger Stimme) ist als Bilderdieb verhaftet worden, bezirzt jedoch die Kommissarin Ines (Luzia Schelling sehr ausdrucksstark) mit venezianischem Gesang. Diese wird schwach und schmachtet auch körperlich am Gartenzaun, ehe es zum erlösenden Kuss kommt. Hach.
Und es wird sich gleich weiter verliebt: Kanzler Völker von weit draußen ist schwer beeindruckt vom Töchterlein Jennifer des Ösis bzw. des Bürgermeisters, was man durchaus nachvollziehen kann. Die versuchte Emotionskorrektur scheitert, und er quittiert den Dienst und widmet sich fortan dem Familienleben, mit schönen Erfolgen. Toll.

Dann ist Pause. Und hier ein dritter technischer Einwurf: Ja, es gibt was zu essen und zu trinken, zu angenehmen Preisen. Aber das Angebot ist von dörflicher Schlichtheit. Es soll ja Leute geben, die Bratwurst weder essen noch mögen, und Apfelschorle und Wasser allein ist im alkoholfreien Bereich auch suboptimal. Ich tät mir künftig ein Bier „ohne“ wünschen, und etwas, das auch den Vegetarier nicht hungern lässt. Für mich persönlich ist das nicht schlimm, ich habe mir für solche Gelegenheiten in Hüfthöhe einen namhaften Vorrat angelegt, aber meine feingliedrige Begleitung nagt mächtig am Hungertuch.

Zum Glück kann ich sie durch die folgende Handlung ablenken. An der Bushaltestelle wartet eine Delegation von Dorfbewohnern auf Godot bzw. auf den Aquarellkurs. Ein Bus wird kommen … Es erscheint auch einer, aber ohne Insassen, und ersetzt den bekannten Bühnennebel durch Dieselruß. Dann kommt aber doch der richtige Bus.

Es wird nun etwas unübersichtlich, Frau Uschi (kapriziös-überdreht Veronika Steinböck) wird erst von dreien, dann von keinem mehr begehrt. Auch CDF (Oliver Dressel) hat sich am Wettbewerb beteiligt und mit seinen schön gedrechselten Kalendersprüchen kurzzeitig die Gunst der Dame gewonnen. Aber der Wind dreht sich dann noch ein paar Mal.
Irgendwie ist gegen Schluss die Mühsal erkennbar, die vielen Handlungsfäden wieder aufzusammeln und zu einem halbwegs plausiblen Ende zu verknoten.

Aber erst ein herzzerreißendes Duett von Uschi und Ösi (Arnd Heuwinkel mit tollen Szenen) über das Ende ihrer Beziehung. „I will survive“ heißt auf österreichisch „Geh doch in Oarsch“, toll unterstützt durch die Chöre auf den LKW-Anhängern.

Nun sind Wahlen. Bürgermeisterwahlen. Es gibt 3 (drei!) Kandidaten. Napoleon (Florian Brandhorst), den König der Aussies und einen Schwarzenegger-Verschnitt namens Chef. Geboten werden eine schicke Uniform und die Aussicht auf den Heldentod, die Lösung des Turnhallenbelegungsproblems (völlig unmöglich) sowie Ordnung, Sicherheit und AllesindieLuftsprengen.
Der alte Bürgermeister ist amtsmüde und kandidiert nicht mehr. Sein Aquarellkurs für lau kam auch nicht so gut an bei der Bevölkerung.
Diese ist jedoch nicht begeistert vom Angebot und macht vom Recht der Wahlverweigerung Gebrauch (Achtung! Falsche Botschaft!). Damit macht sie allerdings den Weg frei für den Ösi, der mit seiner Stimme den Chef zum Chef macht (Korrektur! Doch richtige Botschaft!). Und alles fällt in Scherben …

Die Umkehrung des geröchelten „Ich bin dein Vater“ ist übrigens „Du bist nicht meine Tochter“. Wir erleben beide Varianten.
Man sieht am Chef – der jetzt auch einen Namen hat, Luke natürlich – was eine schwere Kindheit anrichten kann. Er war jenes Geschöpf, das der Rettungskapsel entfiel, und musste sich selber aufziehen. Nun ist aber sein Vater wiedergekehrt und bewohnt derzeit den Polizisten Günther.
Trotz dieser erfolgreichen Familienzusammenführung kommt es zum Showdown wie im Lied vom Tod. Beide werden downgeschossen. Aber Günther überlebt seinen Tod, oder besser den seiner Innerei. Alles andere wär auch ungerecht gewesen, Philipp Lux in seiner dankbaren Doppelrolle hat das Publikum fest im Griff und kann hier sein komödiantisches Talent voll zur Geltung bringen (aber wir wissen, er kann auch anders).
Nr. 11, das Töchterchen des Chefs, schwört am Leichnam des Gemeuchelten Rache. Die Stimme dazu hat sie schon, da wächst ein Talent heran.

Handlungsmäßig wars das, aber noch ein paar Schritte zum erneuten Zirkelsteinblick sind nötig fürs Finale. Die Geburt von zahlreichen Mischlingen Erde / Zirka wird verkündet. Alles jubelt und hebt zum Gesang an: „Fremde aus dem All“ nach einer ähnlichen Vorlage. Das ist schön anzusehen, aber leider kaum zu verstehn. Zu viel Platz auf der Wiese.
Dann wird noch „Major Tom“ zu Gehör gebracht, ein Gefühl wie schweben haben sie, das kann ich gut verstehn.
Dann ist Schluss. Heftiger Beifall, viele Vorhänge, wenn man das so nennen will. Das Publikum ist begeistert, völlig zu Recht.

Beim Motorradclub gibt’s noch Bier, aber der Bus nach Dresden fährt bald. Noch eine knappe Stunde Zeit zum Nachsinnen auf der Rückfahrt, neben Sonnenuntergang gucken.

Ein schönes Stück, ein tolles Spektakel, ein Theater mitten im Dorf, die Kulisse spielt mit. Man kann gar nicht hoch genug schätzen, was den Machern da gelungen ist, ich zumindest hätte das nie für möglich gehalten und kam mit nur vorsichtigem Optimismus. Mea culpa.
Irgendwie scheint die Bürgerbühnen-Mannschaft direkt von König Midas abzustammen, ohne die Nebenwirkungen.

Noch ein ein paar praktische Hinweise:
Es ist unbedingt – nicht nur aus modischen Gründen – zum Hut zu raten. Ein eleganter Sonnenschirm tuts auch. Und falls die Sonne so weiter scheint – was wir alle hoffen – sollte man seine vornehm-großstädtisch blasse Haut nicht vier Stunden lang ungeschützt der UV-Strahlung aussetzen. So lang dauert das Spektakel, obwohl das nicht zu merken ist.
Die Anreise mit dem Bus ab Schauspielhaus empfiehlt sich sehr, falls man nicht im Spielgebiet wohnt. Erst dann wird das Erlebnis richtig rund (nur so eine Idee: Vielleicht könnte man ja im Bus auch „irgendwas“ veranstalten?).
Wer nicht mit Bier, Wasser und Bratwurst zu befriedigen ist, sollte sich vorsichtshalber seinen Kram mitbringen, auf mich hört ja gewöhnlich keiner. Aber der Kuchen vor dem Stück ist ein Muss!
Am meisten Spaß macht der Ausflug sicher in einer Gruppe. Man kann z.B. auch morgens mit der S-Bahn nach Schöna fahren, den Zirkelstein erklimmen, im Dorfgasthof rustikal zu Mittag speisen, Theater genießen und dann locker wieder zur S-Bahn absteigen. Wäre doch ein schöner Tag, oder?

Zu guter Letzt (das hab ich noch nie gemacht, aber in diesem Falle ist es mir ein Bedürfnis) alle verbleibenden Spieltermine:
11. und 12. Mai, 25. und 26. Mai, 29. und 30. Juno sowie 6. und 7. Julei.
Beginn ist jeweils 15 Uhr, der Bus fährt um 13.15 Uhr ab Schauspielhaus.

Und das Wetter muss einfach schön werden, alles andere wäre ungerecht.

Tanzt! Oder seht es Euch zumindest an!

Die Gala zur Tanzwoche Dresden war ein Augenschmaus

Heute, also gestern, am 22. April. Eigentlich war ich verhindert, aber unglückliche Umstände hielten mich in Dresden fest. Also doch zur Tanzwochen-„Eröffnungs“-Gala. Letztere läuft zwar schon seit Freitag, begann aber nun auch offiziell mit einer Gala im Kleinen Haus. Dresden.

Ich muss vorwegschicken, dass hier ein Blinder von den Farben schwärmt. Mit Tanz hatte ich bislang nicht viel am Hut, außer Respekt für die unglaublichen körperlichen Leistungen brachte ich wenig auf für die Sparte. Mir fehlt schlicht die Gabe, die Choreographien richtig lesen zu können.

Aber auch im hohen Alter kann man noch dazulernen, und da ich große Sympathie für wesentliche Organisatoren hege und einfach die Ästhetik des Tanzens mag, machte ich aus dem Ärgernis eine halbe Tugend und der Gala meine Aufwartung. Zum Glück war ich früh da, der – gar nicht so kleine – Saal wurde voll.

Eine fulminante Eröffnung mit dem Ballet Rossa der Oper Halle, zwanzig Menschen absolut synchron auf der Bühne bei einer Art Stuhltanz, toll. Dann ein Pas de deux aus Görlitz (Gerhart-Hauptmann-Theater), unter aktiver Mitwirkung von zwei Stühlen und einem Tisch. Ich greife vor und erkläre dies zu meinem Lieblingsstück des Abends.

Ich kann gar nicht alles aufzählen, was in der Folge an Beeindruckendem passierte. Die Bolero-Variation aus Schwerin blieb hängen, und die unglaubliche Sprungkraft der Eleven aus Berlin.
Mit Grönemeyers Musik hab ich meine Mühe, deswegen litt vielleicht auch der Eindruck von den Landesbühnen Sachsen aus Radebeul darunter.
Vor der Pause nochmal das Ballet Rossa, großartig, wirklich großartig.

Nach zweieinviertel Stunden enden anderswo Veranstaltungen, hier war erstmal Pause. Und es ging hochkarätig weiter: SchülerInnen der Palucca-Schule Dresden tanzten eine Bach-Bearbeitung, für mich Laien das künstlerisch bedeutendste Stück des Abends.
Dass man zu Wagner auch ohne Musik tanzen kann, bewies ein Duo des Theaters Plauen-Zwickau. Nur das Atmen war zu hören, phantastisches Erlebnis.

Wie richtig klassischer Tanz aussieht, zeigte ein Paar der Semperoper. Ich gestehe, die modernen Formen sind mir lieber. Die Überraschungsgäste vom Gärtnerplatz München waren auch nicht so meins. Originell, aber nicht mehr.

Ein furioses Finale nochmal mit den Landesbühnen, „Carmina Burana“, vor allem im letzten Teil begeisternd.
Und dann eine Bühne voller Tänzer und Tänzerinnen zum Schlussapplaus, insgesamt sechzig waren am Start. Ein wunderschönes Bild.
(Sechzig mal „Sixpack“, das macht einen, der sich kaum die Schuhe im Stehen zubinden kann, schon neidisch)

Eileen Mägel und Boris Michael Gruhl führten durch den Abend, sehr angenehm alle beide, vor allem bei Boris Gruhl hatte man das Gefühl, er hätte nie was anderes gemacht. Auch dies passte ins schöne Bild. Ein wunderbar durchkomponiertes Programm, eine unglaubliche Breite, ein trefflicher Überblick über das, was Tanzkunst ist.

Ich war, ich bin begeistert. Auch wenn der Tanz sicher nicht mehr meine bevorzugte Sparte der darstellenden Künste wird, ich hab mich ihm deutlich genähert. Chapeau!

Ach ja, „Tanzt““ steht an der Scheune geschrieben, manchmal auch einladend illuminiert. Und wer das nicht kann oder will, soll zumindest hingehen und zusehen, wie Boris Gruhl zum Abschied sagte. Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Noch bis zum 29.04.13 läuft die Tanzwoche. Alles Weitere hier:

http://tanzwoche.de

Von der systemstabilisierenden Wirkung der Ungeheuer

„Der Drache“ von Jewgeni Schwarz, Regie Wolfgang Engel, Dramaturgie Robert Koall, gesehen zur öffentlichen Hauptprobe Zwei am Staatsschauspiel Dresden, 9. April 2013

Die besten Regieeinfälle hat dann doch das Leben.
Ein freundlicher älterer Herr sitzt zu Beginn rechts der Bühne und erklärt, wegen der dicken Mandeln des Benjamin P. müsse er nun dessen Rolle lesen. Er heiße übrigens Wolfgang Engel.
Und wie das dann geschieht! Ein Fest, ein Festspiel, ein Wolfgangengelfestspiel! Mit welcher Grandezza da auch die unvermeidlichen Pannen überspielt werden! Fast wird die richtige Inszenierung Nebensache. Als er am Ende verhaftet und von der Bühne geführt wird, ruft Holger Hübner völlig zu Recht: „Das ist doch der Regisseur!“ Diesen Abgang hat er wahrlich nicht verdient.
Ohne Benjamin Pauquet zu nahe zu treten, aber das nochmal zu sehn, wär schon witzig.

Über ein Stück vor der Premiere zu schreiben gehört sich nicht, es grenzt an Hochverrat. Das ist wie Weihnachtsgeschenke vorher zeigen.
Ich beschränke mich also fortan auf die Handlung und einige geheimnisvoll-bedeutungsschwere Andeutungen.
Die erste davon: Mein nächster Kater heißt Clauß.

Man hat es mit einer Stadt zu tun, die seit 400 Jahren von einem Drachen beherrscht wird. Der frisst das halbe Bruttosozialprodukt und einmal jährlich ein Jungfrau seiner Wahl. Aber beides ist eingeplant, man hat sich arrangiert. Stabilität ist wichtig, und Ruhe, und Ordnung. Wer sollte daran etwas ändern wollen?

Da kommt zufällig ein Drachentöter des Wegs, erblickt das für den Drachen vorgesehene schöne Fräulein und – wie es märchengerecht heißen muss – entbrennt in heißer Liebe zu ihr. Jene ist allerdings schicksalsergeben und sich der hohen Ehre des Drachenfutters bewusst. Auch ihr Vater Charlesmagne sieht in diesem Akt seinen Sinn und will höchstens mit seinem eigenen Abgang protestieren.

Die vom Helden angebotene Dienstleistung „1 x pauschal Drachen töten“ will aber keiner haben, vor allem der Bürgermeister rät ab. Dessen Sohn Heinrich sollte zwar ursprünglich das Fräulein Elsa ehelichen, wurde aber mit einem schönen Posten beim Drachen abgefunden. Also alles in Ordnung. Was soll die Aufregung?

Auftritt Drache, in Menschengestalt, wegen der Augenhöhe. Die gängigen Einschüchterungsrituale verfangen beim Helden Lancelot nicht, jener fordert gar den Drachen heraus. Fauch!!! Das hat sich das letzte Mal vor 200 Jahren jemand getraut! Und verloren!
Werden Drachen älter? Jenem ist nicht ganz wohl in seiner Schuppenhaut.

Aber das Volk steht zu ihm. Verkrüppelte Seelen, gebeugte Häupter, man will ja gar nicht gerettet werden. Die Wahrheit sagt man nicht mal sich selbst.
Lancelot wird deshalb mit Küchengeschirr ausgerüstet für den Kampf, der Speer ist auch grad zur Reparatur. Aber das hat man amtlich beglaubigt, der Held soll das Papier mit sich führen und auf Verlangen vorweisen.
Der Drache arbeitet trotzdem an Plan B: Die Jungfrau soll Lancelot erdolchen, zum Dank soll eine andere dran glauben.

Wunder gibt es immer wie-hieder. Elsa ist vom Helden angetan, der Dolch fliegt in die Kulisse. Und dazu gibt es auch noch Wunderwaffen für Lancelot aus dem Untergrund. Dann kann es ja losgehn. Was wir kurz vor der Pause zu sehen bekommen, muss hier leider noch ein Geheimnis bleiben.

Der Kampf. Geschildert mit offiziellen Kommuniqués der städtischen Selbstverwaltung von Drachens Gnaden (W. Engel in Hochform). Drei Köpfe hat jener (der Drache, nicht Engel). Als der erste zu Boden plumpst, wird plausibel begründet, warum das militärstrategisch viel viel besser ist. Beim Fall des zweiten spricht man von einer Frontverkürzung. Nur beim dritten hat der Sender technische Probleme. Wir unterbrechen kurz die Übertragung, Musik bitte.

Eine Wende ist eingetreten.
An der Spitze der Bewegung: Der Bürgermeister. Endlich kann er mal so, wie er schon immer wollte. Das böse Untier ist tot. Aber die Stadt darf nicht in Anarchie versinken. Ruhe und Ordnung sind nun erste Bürgerpflicht.
Schwer verwundet schleppt sich Lancelot vom Schlachtfeld.

Ein Jahr später. Der Bürgermeister ist nun Präsident, sein Sohn hat einen neuen schönen Posten: Der Bürgermeisterstuhl wurde ja grade frei.
Das Volk hat sich gefügt, was sollen sie auch tun? Gar nichts können sie tun. Die Privilegien gehen nahtlos über, die Stafette des Machtmissbrauchs wird weitergegeben. Ist der Drache vielleicht gar nicht tot?

Gebt dem Präsidenten, was des Präsidenten ist. Im Konkreten zunächst einmal Elsa und dann jährlich eine Jungfrau. Kontinuität ist wichtig in der Politik. Morgen soll die Hochzeit sein.

Elsa hat Lancelot aufgegeben, er ist sicher tot. Ihr Vater widersetzt sich dem Embedding, aber mehr bleibt ihm auch nicht. Immerhin, ein Auftritt wie der Hofmusiker Miller, halten zu Gnaden.
Dann doch Auftritt Lancelot, sichtlich gezeichnet. Dennoch läuft das Volk über. Der böse Präsident und sein noch viel böserer Sohn hauen sich gegenseitig in die Pfanne und werden in Gewahrsam genommen. Happy end.

Und nun? Deswegen wird nach’m Happy end im Film gewöhnlich abgeblend’t. Die Bürger können mit der neuen Freiheit wenig anfangen, Chaos bricht aus. Ein Retter muss her, ein Lenker, ein … Führer? Lancelot lässt sich nur ein bisschen betteln. Es gibt einen neuen Bräutigam, das Fest kann beginnen.

Nur Elsa schwant was. Irgendwo hinten tanzt der Drache schon wieder mit.

Kein Wort zur Inszenierung, wie versprochen. Lassen wir es dabei bewenden, dass man das gesehen haben sollte. Ein weiterer Höhepunkt dieser Saison, die uns am Ende wahrscheinlich sehr verkatert zurücklassen wird. Die nächste Spielzeit wird schwer.

Aber das Grundthema des Stücks, die Abwägung zwischen Freiheit (und Verantwortung) und Unterdrückung (und „geordneten Verhältnissen“) ist noch einige Sätze wert. Wozu ein Drache gut ist, sehen wir ja grad in Korea, wo Kim Jong Dings den seinen wacker aufbläst für die innere Ordnung. Aber eigentlich sind die Drachen heute ganz andere, wie wär’s mit dem Häusle-Kredit, der guten Stellung, den Boni, dem Club-Urlaub? Das alles muss man sich auch leisten können. Da macht man schonmal Kompromisse.

Dass Jewgeni Schwarz sein 1943 in der Sowjetunion erschienenes Stück überlebt hat, mag ein Wunder sein. Dass es heute noch aktuell ist, sicher nicht.

Die Bedeutung ist die Bedeutung ist die Bedeutung

„Nichts. Was im Leben wichtig ist“, nach dem Roman von Janne Teller, Regie Tilman Köhler, Dramaturgie Julia Weinreich, gesehen am Staatsschauspiel Dresden am 8. April 2013

Es handelt sich für mich um einen Lückenschluss. Die preisbedachte Inszenierung mit dem kompletten Schauspielstudio des Hauses hatte sich meiner Betrachtung bislang immer hartnäckig entzogen, obwohl ich schon zweimal eine Karte hatte. Irgendwas Hinderndes war immer … Aber alle guten Dinge sind Drei, im wahrsten Sinne des Wortes.

Gleich vorweg: Ein sehr sehenswertes Stück, mit einer spielfreudigen Besetzung, aus der ich niemanden hervorheben mag, und einem hochinteressanten Bühnenbild (Karoly Risz). Außer ein paar überflüssigen lokalen Bezügen gibt es nichts zu mäkeln, auch das Programmheft ist wieder von besonderer Güte.

Der Inhalt ist recht schnell erzählt. Nach den Sommerferien schert Pierre Anthon aus der 7a aus, er klettert auf einen Pflaumenbaum und erklärt alles im Leben für bedeutungslos. Nichts lohne die Mühe, deshalb tue er ab sofort: Nichts.
Das Klassenkollektiv ist verunsichert, will den Abtrünnigen aber in die Gemeinschaft zurückholen und schickt sich an, das Gegenteil zu beweisen. Gebt her, was für euch Bedeutung hat! Ein Berg von wichtigen Dingen wird aufgehäuft, es beginnt mit einem Paar grüner Lieblingssandalen. Die Macht geht dann herum, jeder „Erleichterte“ darf bestimmen, wer der Nächste ist und was der verlieren soll.
Eine schöne Grausamkeitsspirale beginnt, weil jede aus ihrer eigenen Verletzung das Recht auf eine noch größere beim Nachfolger ableitet. Und über den Hamster und den Gebetsteppich kommt man zum Körperlichen: Erst die Haare, dann die Jungfräulichkeit, schließlich der rechte Zeigefinger.
Doch ehe der Reliquienhügel dem Nihilisten präsentiert werden kann, fliegt die Sache auf. Die Polizei marschiert ins dämonische Klassenzimmer, das man sich in einem alten Sägewerk eingerichtet hat.
Die Macht der Medien ist den Pennälern aber bewusst: Der Berg gelangt in die Öffentlichkeit und gewinnt damit die ultimative Bedeutung, die sich aus der medialen Aufmerksamkeit speist. Am Ende wird er für Kunst erklärt, ein Museum schlägt als erstes zu und kauft den Haufen für dreieinhalb Millionen.
Happy end? Nein, die grausam gewordene Gruppe gerät in Streit, nun jeder gegen jeden. Der Verneiner klettert vom Baum und will schlichten, aber er zieht nun alle Wut auf sich, weil er die Bedeutung des Bergs auf das reduziert, was sie ist: Ein kurzfristiger Medien-Hype. Er wird förmlich totgetreten, dann brennt die Hütte.
Am Ende bleibt nur ein Haufen Asche, von dem sich jeder etwas abfüllt. Für zu Hause, für’s Leben.

Woher kommt diese Wut?
Der Überbringer der schlechten Nachricht ist nie wohlgelitten, und wer sagt, dass alles keine Bedeutung habe, riskiert, dass die anderen das auch für dessen Leben so sehen. Wer hört schon gern, dass das Leben sinnlos ist, vor allem, wenn man grad am Anfang steht? Aus der Verstörung darüber wächst der Wille, das Gegenteil zu beweisen, und dann der Zorn, weil es nicht gelingt.
Pierre Anthon hat der 7a vorgeführt, dass der Lebensplan auf Illusionen beruht. Er lässt sich nicht bekehren und wird zu einem Giordano Bruno der Oberschule. Aber recht hat er – vermutlich – doch.

Faszinierend im analytischen Sinne ist auch die entfesselte Gruppendynamik zu beobachten. Immer einer ist das Opfer, alle anderen hetzen ihn. Begreifen sie nicht, dass sie selbst der Nächste sind? Einer versucht die mörderische Maschine anzuhalten, aber er hat gegen den Rausch keine Chance. Keiner wird mehr rausgelassen, alle müssen schuldig werden. Also denkt auch er sich eine schöne Grausamkeit für den folgenden Kameraden aus.

Man kann sich sicher streiten, ob solche Themen in den 7a dieser Welt gewälzt werden. In unserer Gegend ist das glaub ich erst in der Elften dran. Und für ein Jugendbuch ist das schon ein heftiges Thema, doch es gehört da schon hin. Mit dem Sinn des Lebens kann man sich nicht früh genug befassen, zur Einführung sei auch hier Monty Python empfohlen.

Und wer hat nun wirklich recht? Warum soll ausgerechnet ich das wissen?
Aber vielleicht noch ein paar Fragen dazu.
Wozu denn die Suche nach dem Glück? Warum denn, wenn am Ende doch alles verloren ist und sich die Zellgemeinschaft auf Zeit wieder in ihre Bestandteile auflöst?
Kann ein Glücksempfinden wirklich so tief sein, dass es das Wissen um die Vergänglichkeit des Seins überstrahlt? Welche Motivatoren wirken da noch?
Wird man durch Ignoranz glücklicher? Sicher.

Die einem zur Verfügung stehende Zeit ist – weltgeschichtlich gesehen – tatsächlich nicht mehr als ein Atemzug. Der einzelne Mensch ist weniger als ein Sandkorn in der Wüste, jeder Tropfen im Meer hat größere Bedeutung.
Warum tut man dann mit im großen Gesellschaftsspiel? Warum macht man nicht einfach was man will? Im Zweifel also nichts? Wenn interessiert es denn, ob man sich konform verhält? Doch nur die, die das noch nicht begriffen haben.

Kann man einmal Verstandenes wieder vergessen? … Weiß nicht.

Mehr als Berlin: Müller’s Haifischteich

Hai-Alarm am Müggelsee“, ein Film von Leander Haußmann und Sven Regener, 2013, gesehen in der Schauburg Dresden

Ich bin – wie so oft vorher –skeptisch. Der hl. Franziskus der deutschen Filmkritik hatte sich sehr abfällig geäußert, und es macht sicher keinen Spaß, einem halben Dutzend Leute, die sich durch „Herr Lehmann“ unsterblich gemacht haben, dann doch beim künstlerischen Tod zusehen zu müssen. Aber ich bin auch neugierig.
Zudem bin ich heute abend stolzer Besitzer einer ausgewachsenen schlechten Laune, das Traumpaar Regener / Haußmann hat also nicht die besten Voraussetzungen. Doch sie sollen ihre faire Chance kriegen.

Zu allem Überfluss wird die Latte im Werbeblock hochgehangen: Almodovar hat jetzt eine Komödie gedreht, „Fliegende Liebende“ heißt sie und macht einen sehr sympathischen Eindruck im Trailer.
Und dann noch ein Fehlstart: Film mit Ton ist ok, aber mit Bild wär er noch schöner.

Schließlich beginnt es doch. Friedrichshagen am Müggelsee. Ein Mann geht ins Wasser. Kurze Zeit später fehlt ihm eine Hand.
Auf der anderen Seite der Welt wird ein Hippie-Haifischjäger mit selbstgebastelter Greencard durch smarte Cops verhört: Wie foltert man Haie? Mit Waterboarding natürlich. Ich muss erstmals grinsen.
Selbiger wird ausgewiesen und schippert mit seinem Hausboot dann über die Weltmeere, nach Hause, zum Müggelsee. Das ist hübsch gezeichnet, bislang gibt es nichts zu meckern am Film.

Michael Gwisdek als Badeverhinderungsmeister. Szenen mit ihm können gar nicht schlecht sein.
Snake Müller, so heißt der Großfischjäger und Surfpaddler, bekommt sein Bier macchiato. Eine erste zarte Annäherung an das Fräulein vom Amt, jenem für Stadtmarketing.
Frank Castorf gibt sich auch die Ehre und säuft mit einem lieben Kollegen Ouzo beim Griechen.

Krisensitzung im Rathaus, es wurde eine herrenlose Hand gefunden. Henry Hübchen – auch einer aus der Kategorie Gwisdek – als stuhlklebender und wahlkämpfender Bürgermeister von Friedrichshagen präsidiert einer Versammlung des Grauens aus der ganz normalen Kommunalpolitik, vom schleimigen Großbesitzer (Benno Fürmann) bis hin zur stillwütigen Übermutter. Detlev Buck gibt das, was er am allerbesten kann, den ständig überforderten Polizisten Müller, und komplettiert das unfehlbare Trio.

Wer über den Gemeinderat nicht lachen kann, hat nie einen solchen erlebt. Vera vom Stadtmarketing (Anna Maria Hirsch) öffnet den Werkzeugkoffer und spielt Bullshit-Bingo. Von den drei Varianten bleibt erstmal b) übrig, wir machen weiter wie bisher. Später wird das präzisiert, weiter wie bisher, aber mit Arbeitskreis.

Die Handlung selbst ist nicht wirklich wichtig. Es reihen sich Szenen an Szenchen, jede mit schrägem Witz versehen, mal besser, mal ganz gut. Haußmann und Regener geben als running Gag ein musizierendes Polizistenduo und sind omnipräsent, auch als unparteiisches Taucher-Duo und als Kreuzberger Haifischimitate.

Man kann auch einiges lernen: Casablanca gibt es jetzt in Farbe und 3D, ein Lagerfeuer am Strand wird größer, wenn man die zugehörige Gitarre reinschmeisst. Haie kann man mit Bier fernhalten. Und Zigaretten-holen-gehen ist für einen Nichtraucher dasselbe wie Scheidung.

Der Friedrichshagener ist der Italiener Berlins, auch das ein Merksatz. Der Witz erschließt sich erst, wenn man jenen verschnarchten Teil von Köpenick (und damit auch irgendwie von Berlin) näher kennt.

Gabi Müller (Annika Kuhl), Historikerin und die Ex vom Snake (Uwe Dag Berlin spielt sich vermutlich selbst und muss sich gar keine Mühe geben, großartig zu sein) findet heraus, wie der Hai in den See gelangte: Ein RGW-Ringtausch bescherte der DDR einen kubanischen Zierhai im Tausch gegen Schafskäse, der (über die Zoffjets) von den Bulgaren erworben wurde. Und wenn das liebe Haustier größer wird, landet es halt in der freien Wildbahn, das kennen wir ja auch von anderen Arten … Der Fischexperte Müller von der HU (Tom Schilling rollenbedingt etwas eindimensional, aber gut) staunt.

Die Auslösung des Hai-Alarms ist nur noch Sache eines Formulars. Die gelbe Flagge wird gehisst, der Müggelsee wird großräumig zum Sperrgebiet erklärt. Der Bürgermeister, natürlich auch er ein Müller, trägt Helm und freut sich über die Wahlkampfhilfe.
Sogar die Rainbow Warrior wird gesichtet, sie kommt – dank eines Übermittlungsfehlers – wegen den Walen. Der Bürgermeister versteht natürlich „Wahlen“ und bekommt feuchte Hände.
Katharina Thalbach als wirre Alte ergänzt kongenial das bunte Treiben, es macht einfach Spaß zuzusehen.

Wenn wir schon Hai-Alarm haben, können wir auch das Straßenfest im sicheren Teil der Krisenregion wiederholen. Und es läuft und läuft und läuft … Der Gemeinderat besäuft und schlägt sich.

Soweit ist also alles in Ordnung, man hat sich im Ausnahmezustand eingerichtet. Aber der (nicht nur) Strandbadbesitzer tanzt am Ufer einen Zorbasschen Sirtaki, der gesperrte Müggeldamm versteppt langsam. Eine Gegenbewegung gründet sich, „Hopp hopp hopp, Hai-Alarm Stopp!“. Bürgermeister Müller-Wendig stellt sich an die Spitze derselben und fordert vom Drachen- oder besser Haifischtöter Snake Müller Taten oder zumindest das Eingeständnis eines Fehlalarms, sonst fluten die Wutbürger den Müggelsee mit Bier.

Showdown an Bord des Hausboots. Eigentlich hat man sich schon friedlich geeinigt, aber Marketing-Maus Vera (die sich, nachdem sie sich vom Fischersmann ins Netz wickeln ließ, einen veritablen Zickenkrieg mit dessen Ex liefert) hat ein wenig manipuliert: Statt weißem steigt roter Rauch auf, das Bier ergießt sich in Strömen. Schaum-Alarm! Viel Schaum um ganz viel Nichts! Das kommt marketingmäßig ganz wunderbar.

Snake Müller hat nun die Schnauze voll und will zurück nach Hawaii. Der kurze Kampf zwischen der kühlen Ex und der siegestrunkenen Maid um die freie Koje ist schnell entschieden, letztere geht über Bord.
Und die beiden schippern in den Sonnenuntergang, aus dem Unterdeck taucht noch der falsche Grieche, der Wirt vom Castorf auf, auch er ein Müller, wie Snake ein Teil des haifischaussetzenden Brüderpaars von damals.
Und der Müggelsee ist schaumbedeckt.

Es lässt sich ahnen (und ließ sich vorher auch auf facebook mitverfolgen), wie viel Spaß die Crew beim Drehen hatte. Das überträgt sich auf den Saal, selbst meine hartnäckige schlechte Laune verzieht sich klammheimlich.
Die Musik fällt ein bisschen ab, da ist man Besseres gewohnt vom Regener. Aber was will man mehr von einem Film? Ich meine, von einem, der unterhalten will und nicht die Lösung der Weltprobleme verspricht? Ich bin’s zufrieden.

I taking a ride with my best friend

“Faust I” von J.W. v. Goethe in der Regie von Arne Retzlaff, gesehen am 1. April 2013 bei den Landesbühnen Sachsen in Radebeul

Ein schmuckes Haus, das. Modern und praktikabel eingerichtet, dass die Grundsanierung schon wieder ein paar Jahre her ist, merkt man nicht. Für meinen letzten Besuch gilt dasselbe, aber ich kann mich immerhin noch erinnern: „Die Räuber“ waren’s, einige aus dem Ensemble hab ich sogar wiedererkannt.

Der „Faust I“ ist ein Repertoirestück, Premiere war schon im November 2010. Brandaktuelle Bezüge sollte man also nicht erwarten, ebenso wenig eine völlige Neuinterpretation. Ich freu mich auf eine „seriöse“ Umsetzung dieses immer wieder faszinierenden Stoffes ohne regieseitige Bedeutungshuberei. Und hab die Reclam-Ausgabe dabei, man weiß ja nie.

Dass alle drei Vorspiele bzw. Prologe weggelassen werden (nur der im Himmel wird kurz zitiert, nicht von Engeln, sondern von Angels), überrascht dann doch. Dem „Zeitgewinn“ steht das Manko gegenüber, über Mephistopheles Motivation zur Verführung von Faust nun gar nichts zu erfahren. Dass das Allgemeingut im Publikum ist, wage ich zu bezweifeln.

Es beginnt also im Studierzimmer, ein gealterter Faust (Olaf Hörbe) hat Visionen, deklamiert den Hundemonolog in die Kamera mit einem – ach – sehr witzigen Einstieg, wird immer zorniger und ist dem Erdgeist in einem Diamonolog nicht gewachsen. Wagner wird dann von einem Chor von Rechenknechten gegeben, warum nicht.
Faust versinkt angesichts seiner Unzulänglichkeit wieder in Trübsinn, überlegt kurz, sich mittels rezeptpflichtiger Betäubungsmittel aus dem Rennen zu nehmen und hört zum Glück die Osterglocken. An den gleichnamigen Blumen fehlt es im Revier, die geputzten Menschen kommen als Fitnessgruppe daher. Man turnt indoor, das passt ja auch zum Wetter. Alles sehr dicht am Originaltext, von einem albernen Witzchen abgesehen.

Der Pudel entfällt, ohne größere Umstände tritt Mephisto in die Stube. Äußerlich scheint er als Zwilling des Faust, beide in einer Art Mitropa-Kellner-Uniform, es passt inhaltlich, sie begegnen sich auf Augenhöhe. Es wird jetzt sehr viel deklamiert, nur Mario Grünewald als Mephisto kann sich dazwischen dämonenhafte Szenen erlauben, die ihm bekanntlich gut stehen (ein schönes Wiedersehen mit dem aus Dresdner Tagen bekannten und geschätzten Schauspieler).
Die Wette ist hervorragend gespielt, im Anschluss dann allerdings viel Streichpotential.

Eine spärliche Bühne hat es hier: vorn ein schmuckloser Stuhl, auf den eine Kamera zeigt, im Hintergrund ein halbtransparenter Vorhang, der bei Bedarf durchscheinend wird und die Szenen im Hintergrund aus dem Dunkel reisst. Gefällt mir gut.

Die Schüler-Szene ist seltsam kastriert. Die Überbleibsel hätte man auch noch weglassen können, außer das sie den (späteren) jungen Faust ins Geschehen bringt, bleibt nichts an Aussage übrig. Schade, da hätte sich M. G. austoben können.
Dafür kommt Auerbachs Keller in voller Breite und mit großer, militanter Besetzung. Leider wirkt das wie Felsenbühne, und der Szenenausstieg ist nicht mehr als eine Verlegenheitslösung. Schade.

Die Hexenküche besteht aus einer Bussi-Gesellschaft mit Verjüngungsapparat. Faust hat eine Gretchen / Helena – Erscheinung und auf einmal auch Interesse an kosmetischen Eingriffen.
Die Begegnung mit dem echten Gretchen enthält auch den elegant gelösten Übergang zum jungen Faust. Dann ist Pause.

Der alte Faust Hörbe dominiert naturgemäß den ersten Teil, aber auch Mephisto Grünewald setzt Akzente.
Der Weißwein kommt hier vom Gut Hoflössnitz, so gehört sich das auch. Man hat Muße, das doch recht zahlreiche Publikum (80% etwa des Saales sind gefüllt) zu betrachten und trifft sogar Akteure einer mittlerweile renommierten Laienbühne der Radebeuler Nachbarstadt.

Jetzt setzt sich ein junger Faust (René Geisler) auf den heißen Stuhl, der alte geht ab. Aus einer wunderlich schwarzweißen Gesellschaft löst sich Gretchen, ganz in unschuldigem Weiß natürlich. Eine sehr lyrische Szene, ja, die mit dem „Arm und Geleit“, dann geht es schwungvoll zu Mephisto, dem ab sofort Dirnenbeschaffer. Faustens Schwärmen überzeugt jedoch nicht ganz.
Margarete, im Ballerina-Röckchen, singt schön in ihrem Zimmerchen und denkt an den fremden Herrn. Nach und nach wird sie aber übertönt von einer dramatischen Musik, gute Idee. Sie findet das von den Herren eingeschmuggelte Kästchen und entwickelt umgehend ein erotisches Verhältnis zur überdimensionalen Kette. So einfach geht das also.

Auftritt der Kupplerin Marthe (Julia Vincze), einsame Strohwitwe. „Mon coq et mort“ ist derzeit noch Wunschdenken. Aber Mephisto tut ihr den Gefallen und bringt die fro-, äh, traurige Botschaft. Grünewald ist hier ein großer Komödiant und wird mit einer Einladung zur Soireé belohnt. Ja, auch das Fräulein von nebenan wird dabei sein, und er darf noch einen Freund mitbringen.
Der Auftritt der jungen Dame ist eher eine Zuführung, noch sträubt sich Gretchen. Aber der Schaumwein tut das Seine. Die Veranstaltung pendelt dann zwischen Swingerparty und Veronascher Balkonszene. Aber irgendwie kriegen sich alle, jeweils auf ihre Art.
Faust und Gretchen sind fortan füreinander entflammt, und während sie dies am Spinnrade besingt (hier als Tanz im heimischen Käfig), geht er die Sache erst noch mal theoretisch an. Aber die Praxis hat die besseren Argumente.
Der alte Faust sieht mürrisch zu, er kennt das Ende ja.

Heinrich ist ein herzlich guter Mann, soviel ist klar. Aber die Gretchenfrage wird auch hier zwar liebevoll, doch nachdrücklich gestellt. Heinrich windet sich wie Tausend Fäuste vor ihm.
Ein gewisses Problem stellt übrigens über den ganzen zweiten Teil dar, dass Faust und Gretchen eher wie Romeo und Julia wirken. Da ist kein (Erfahrungs-) Gefälle, die eine ist so naiv wie der andere. Das beeinträchtigt die Geschichte doch ein bisschen.

Es kommt wie es bei Goethe beschrieben ist: Mephisto leistet Beihilfe zum Beischlaf, Faust zum Mord an der Mutter und Gretchen verliert die Unschuld und gewinnt Schuld. Auch wenn es hier anders klingt, es ist eine sehr poetische Szene, die die drei dort auf der Bühne haben. Bei Goethe wird das ja dezent beschwiegen, was in jener Nacht passiert, da muss die Dramaturgie schon was Eigenes finden. Dieses hier ist sehr gelungen.
Auch die Brunnenszene, wieder in großer Besetzung und mit umherhängenden Eimern, ist großartig. Der Auftritt von Valentin geht hingegen unter, seine Erdolchung durch das Doppel Faust/Mephisto ist kaum sichtbar.
Der alte Faust sieht inzwischen sehr nach Magengeschwür aus.

Die Dom-Szene entfällt, das ist auch nicht schlimm. Gretchen (Dörte Dreger) glänzt inzwischen auch so.

Es folgt der Höhepunkt der Inszenierung, die Walpurgisnacht. „I taking a ride with my best friend“, singt ein enthemmter Faust. Da ist richtig Leben auf der Bühne, eine Orgie reinsten Wassers wird zelebriert. Schöne, volle Bilder, zwei oder drei Leute mehr wären noch besser gewesen, aber man weiß ja um die knappen Ressourcen. Der Auftritt von Lilith bringt das Fest zum Kochen, allein dafür haben sich die zweimal 3,80 € (VVO, Preisstufe 2) gelohnt. Und die 15 € für die Eintrittskarte sowieso.
Unvermittelt erinnert sich Faust (den man überflüssigerweise hier der Damenwelt zugeordnet hat) an Gretchen. Da war doch noch was? Betreten löst sich die Fete auf, die Stimmung ist im Eimer.
Nun soll Mephisto schuld sein. Warum hast Du nicht …? Dass Herr Faust sich hätte auch mal selbst bemühen können um seine junge Gespielin, darauf kommt er nicht. Nun aber retten, was nicht mehr zu retten ist.

Übrigens – und da lehne ich mich weit aus dem Fenster meiner Souterrainwohnung, theaterwissenschaftlich gesehen – liegt für mich hier eine große dramaturgische Schwäche unseres Nationalepos. Wie kommt Faust von seinem glühenden Verlangen auf einmal zu einem völligen Vergessen des Gretchens über mindestens neun Monate hinweg? So schlecht kann der Sex doch nicht gewesen sein? (OK, das war albern, nehm ich zurück)
Mir ist das aber nicht plausibel, die Geschichte hakt an dieser Stelle. Dass Faust nicht der strahlende, strebende Held ist, als der er früher gerne dargestellt wurde, ist ja inzwischen Konsens, aber wie wird er zum egomanischen Mädchenverderber ohne Moral und Gewissen? Ist er das in sich drin schon immer? Aber wie zeigt sich das vorher? Rätselhaft. Hier sollte Herr v. Goethe nochmal nachbessern.

Zurück im Geschehen, das heißt jetzt im Kerker. Gretchen ist schon drüben, geistig gesehen. Jede Hilfe kommt zu spät. Dass das so ist, ist klar, aber wie es (von ihr) dargestellt wird, ist großartig. Dörte Dreger krönt ihre Leistung mit einer phantastischen Kerkerszene, und sieht dabei auch noch unglaublich gut aus. Eine schöne Frau kann halt auch der aufgeschminkte Wahnsinn nicht entstellen.

„Ist gerettet!“ als versöhnlicher Schlusssatz fehlt hier. Und das ist auch gut so. Woher sollte die Rettung denn kommen?

Freundlicher, langer Beifall, ohne Euphorie, aber zur Euphorie neigt man hier sicher ohnehin nicht.
Ich habe eine gute Inszenierung gesehen (die wenigen Schwachstellen hab ich oben beschrieben) und eine geschlossene Ensembleleistung. Dörte Dreger und Mario Grünewald ragten alles in allem heraus, was ich hier auch gern bescheinige.
Mein letztlich einzig ernsthafter Einwand: Die dramaturgische Idee, den Faust in alt und jung zu teilen, ist nachvollziehbar, wird aber nicht zu Ende gebracht. Dem Alten bleibt in der zweiten Hälfte nicht mehr als eine Beobachterrolle, der Junge kommt im ersten Teil nicht vor. Da wird viel Potential verschenkt.

Die Landesbühnen sind ein respektables (dank Kooperationen) All-Sparten-Haus, das manchmal vielleicht im medialen Schatten der großen Häuser der Nachbarstadt steht. Aber hier wird ein interessantes Programm geboten, nicht nur „für das Umland“, und eine Reduzierung auf die Felsenbühnen-Bespielung verbietet sich. Auch der verwöhnte Dresdner beiderlei Geschlechts sollte dem etwas Aufmerksamkeit widmen, in 25 Straßenbahnminuten ist man dort.

http://www.landesbuehnen-sachsen.de

NOsterspaziergang

Vom Eise bedeckt sind Strom und Bäche

Durch des Winters kühlen, gefrierenden Blick;

Im Tale birst ein Schnüffelstück.

Der junge Frühling, in seiner Schwäche,

Zog sich in laue Gebäude zurück.

Von dorther sendet er, greinend, nur

Ohnmächtige Schauer trauriger Postings

In Massen über die eisige Flur;

Aber Knecht Rupprecht duldet nichts Heißes.

Überall quält er Mensch wie auch Tier,

Nur weiß gilt ihm als Farbe hier;

Denn an Blumen fehlts im Revier,

Gibt auch keine geputzte Menschen dafür.

Kehre dich um, von diesen Höhen

Nach der Stadt zurück zu sehen!

Aus dem weiß glänzendem Tor

Dringt der graue Schneematsch hervor.

Jeder wärmte sich heute so gern.

Sie weinen über die Vereisung des Herrn,

Denn sie sind selber eingefroren,

Aus schöner Häuser warmen Gemächern,

Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

Aus dem Schutz von Giebeln und Dächern,

Aus der Straßen quirliger Menge,

Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

Sind sie alle in die Kälte gebracht.

Sieh nur, sieh! wie mühsam sich die Menge

Durch die Gärten und Felder zerschlägt,

Wie der Fluß in Breit und Länge

So manche dicke Eisscholl‘ bewegt,

Und, bis zum Schornstein tief gefroren,

Versinkt auch jener letzte Kahn.

Selbst von des Berges fernen Pfaden

Hört man die Eingeschneiten klagen.

Ich sehe schon des Dorfes Schänke,

Hier ist des Volkes letzte Tränke,

Ermattet stöhnet groß und klein:

Einst war ich Mensch, jetzt frier ich ein!

Heiterkeit und Krieg und Frieden für das russ’sche Vaterland

“Krieg und Frieden” nach dem Roman von Lew Tolstoi in der Regie von Matthias Hartmann, Gastspiel des Burgtheaters Wien am 16./17. März 2013 im Staatsschauspiel Dresden


Viereinhalb Stunden. Man betritt das Theater und nickt zufrieden. Die Bedeutung von Inszenierungen misst sich an der Dauer. Und die Intendantur ist offenbar auch sportpädagogisch bewandert und führt uns sanft an den Marathon heran, Faust Eins bis Unendlich im Mai.
Aber, wie jetzt, zwei Pausen? Sind wir hier in Bayreuth? Schnürschuh-Theater, verweichlichtes! Im preußischen Berlin wird so was durchgesessen! Von wegen Hart-Mann! (Und was das wieder kostet an den Pausenbars!)
Na gut, der Weaner mag’s halt kommod. Lassen wir uns drauf ein und hören auf zu blödeln.

Der berühmte lange Tisch füllt die Bühne, ja, natürlich, in Wien ist er noch viel länger. Man wird eingeladen, in den Pausen das Bühnenbild und das Modell des Kasinos zu bestaunen. Trotz einjähriger öffentlicher Probe scheint es immer noch „work in progress“ zu sein, zumindest versucht man den Eindruck zu erwecken.
Die Einführung ist gewollt umständlich, dann scheint Guido Knopp auf der Bühne zu stehen. Der Eindruck verfliegt aber schnell, es geht in die erste Schlachtszene, und man ist fasziniert, mit welch einfachen Mitteln und einem exquisiten Ensemble (was ich noch öfter würdigen werde, Sie dürfen mitzählen) das Grauen einer Kampfhandlung vermittelt werden kann.
Dann die leistungskursartige Vorstellung der handelnden Personen, das ist witzig, das hat Tempo, das schadet nicht an dieser Stelle. Zumal, wenn man ein solch hervorragendes Ensemble beieinander hat.
Rechts oben über der Bühne wird der Bezug zur jeweils aktuellen Seite im Tolstoischen Schmöker hergestellt und damit Werktreue bewiesen. Auch das eine originelle Idee.

Abgefilmte Puppen spielen im Hintergrund eine wesentliche Rolle, stellen mal eine Schlachtenszene, mal eine Ballsituation her. Der anrückende Kriegslärm wird noch vom Summen der höfischen Drohnen übertönt.
Die Erzählweise ist … ja, eine stark szenisch orientierte Lesung, oder eine theatrale Umsetzung mit rezitativen Anteilen. Die Figuren treten ständig aus sich heraus, spielen und beschreiben im Wechsel. Das ist großartig, das macht Spaß beim Zusehn, so fliegt man förmlich durch das Werk.

Der Krieg kommt den gelangweilten Herren der Gesellschaft wie gerufen. Sie können türmen aus der ungeliebten Gesellschaft, wo täglich „Adel im Untergang“ gegeben wird.
Eine der Hauptfiguren, Pierre, erinnert ein wenig anTewje den Milchmann, trägt aber trotzdem die Handlung durch Saufgelage, die irrwitzige Wetten produzieren, die das wunderbare Ensemble fast wie ein Ballett umsetzt.

Darf man bei diesem Stoff soviel lachen? Manchmal kommt man sich vor wie in einem Comic. Erste Zweifel am inszenatorischen Ansatz.
Die Dialoge sind meist Kleinode, vor allem, wenn sie die ernsten Themen beleuchten. Aber auch ansonsten sind sie extrem gut gespielt (vom gesamten Ensemble) und äußerst unterhaltsam.
Noch eine Kriegsszene, in die man abrupt wechselt und die in großartig-grauenhaften Bildern daherkommt, dann ist Pause. Im Foyer werden Brote aus der Alufolie gewickelt, cool.
Der Devotionalienstand der „Burg“ ist klischeegerecht mit einem älteren Herren mit Wiener Schmäh besetzt, es macht Freude, Banales zu fragen.

Fürst Bolkonskij sen. weiß nach der Pause, dass Müßiggang und Aberglauben die Todsünden sind und nur Tätigkeit und Verstand dagegen helfe und lebt entsprechend. Bzw. lässt leben. Fürst Andrej bringt seine schwangere Gemahlin zum Vater aufs Land, die Schwägerin hat nun eine Leidensgenossin. Er selber geht Krieg machen.
Unglücklich sind hier alle. Die russische Seele ist tief und schwer. Großartiges Spiel des gesamten Ensembles.
Dann wieder Kriegswirren. Es geht mehr oder weniger heldenhaft zu. Die Umsetzung gelingt durch eine phantastische Choreographie des auf der Bühne versammelten Ensembles.

Es folgt: Comedy. Die Hochzeitsanbahnung von Fürst Wassilij für seinen missratenen Sohn Anatol mit der vermögenden Erbin Marja scheitert großartig, weil jener zur Unzeit die Finger auf der Gesellschaftsdame Bourienne hat. Dumm gelaufen.
Man philosophiert. Eine klare Quelle, ein schmutziger Becher, was soll da draus werden? Sinnkrise.
Pierre entwickelt sich inzwischen zum Gutmenschen. Es gibt einen Silvesterball, sehr schön wieder illuminiert mit den Puppen, Natascha, das junge Ding aus dem angesehenen Hause Rostow, entdeckt die erste Liebe: Den Fürsten Andrej, dessen Frau im Kindbett starb. Aber der gestrenge Vater des Bräutigams verlangt ein Jahr Aufschub zur Prüfung der Gefühle. Keine gute Idee.
Das Ensemble ist (auch) in den Kleinigkeiten groß, das macht seine Qualität aus. Jetzt weiß ich, was „auf Anschluss spielen“ wirklich bedeutet.

Der Krieg rückt näher, verdrängt die Romantik. Ein öffentlich sterbender Offizier als dramaturgischer Kontrapunkt wird auch so benannt und vom Publikum dankbar beklatscht. Aha, man nimmt uns ernst.
Der Videoeinsatz ist fast schon genial zu nennen, er öffnet dem Stück eine weitere Dimension.
Es geht in die Oper. Das Bühnengeschehen gibt einer der Akteure ganz allein, spätestens jetzt ist das Eis im Parkett endgültig gebrochen. Kann man das wirklich so verulken? Im Prinzip ja, sagt Radio Eriwan.

Natascha entdeckt Liebe Nr. 2, den Tunichtgut Anatol, und verfällt ihm augenblicklich. Seine Schwester Hélène, gefeierte Moskauer Schönheit und der Aktenlage nach Gemahlin von Pierre Besuchow (der inzwischen den Grafentitel und ein riesiges Vermögen geerbt hat, können Sie noch folgen?) betätigt sich als Kupplerin und lädt Frl. Natascha zu einer Sau-Reh oder so ein. Jene wird eine leichte Beute des Herzensbrechers.
Die geplante Entführung der Dame scheitert allerdings kläglich, Anatol flüchtet vor der Schmach ins Feld der Ehre.

Tolstoi wird mehr und mehr persifliert, man macht den schwerblütigen Stoff damit genießbarer, schießt aber an und an, halten zu Gnaden, übers Ziel hinaus.
Es sind weiter die Kleinigkeiten, die am Spiel des Ensembles begeistern. Dennoch verliert die Aufführung am Ende Tempo, es wird dann doch melodramatisch, alles wertvolle Menschen, leider liebt man überkreuz.
Die letzte „gespielte“ Szene, das Schlachten bei Borodina. Auch das wieder fürchterlich und gut. „Genug, was tut ihr“? sagt der Regen.

Man will uns nicht so aus dem Abend entlassen. Jede handelnde Figur wird (analog zum Anfang) bis zum meist bitteren Ende beschrieben. Nur Natascha wird mit ihrer dritten Liebe Pierre glücklich, alle anderen sterben irgendwie, auch wenn sie weiterleben. Auch dies großartig gespielt, hier dürfen alle nochmal richtig zeigen, was sie können.
Alles Unglück entspringt dem Überfluss, lernen wir am Ende. Da weiß ich nichts dagegen.

Man darf den Beifall frenetisch nennen. Ein ausverkauftes Schauspielhaus feiert die Gäste, erhebt sich, ruft Bravo. Offensichtlich ein Volltreffer ins Herz der Dresdner.

Dennoch seien mir einige relativierende Anmerkungen erlaubt:
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass hier der FC Bayern des deutschsprachigen Theaters zu Gast war. 50 Millionen Euro Basis-Jahresetat sorgen natürlich dafür, dass bis hin zum Masseur jede Position erstklassig besetzt ist. Und das führt dann dazu, dass kein Stück dank der hervorragenden Individualisten wirklich schlecht sein kann, auch wenn die Taktik (Dramaturgie) mal nicht die beste ist.

Ich habe Zweifel, ob man „Krieg und Frieden“ wirklich so aufführen sollte, als Gesellschaftskomödie, die gelegentlich von herzzerreißenden Schlachteszenen unterbrochen wird. Auch wenn das beschriebene Sterben 200 Jahre her ist, der Roman gewinnt seine Qualität aus dem Bezug darauf und nicht aus austauschbaren Sittenbildern der russischen Gesellschaft mit ihrer Vorabendserien-Dekadenz. Deshalb blieb ich auch sitzen beim großen Schlussapplaus.

Wovon ich allerdings uneingeschränkt begeistert war, gerne nochmal: Dieses wunderbare, großartige, begeisternde Schauspielerensemble.
Auch wenn es schwerfällt, will ich einige herausheben:

Yohanna Schwertfeger, die als Natascha vor allem im letzten Teil unglaublich anrührend war.

Ignaz Kirchner vor allem als grantelnder Fürst Bolkonskij.

Oliver Masucci, der selbst Dieter Bohlen rechts überholte.

Und Fabian Krüger in unzähligen Rollen, der als Dolochow exzellent war und als Duport das Haus rockte.

Was bleibt als Fazit? Die Burg war da, zu Schulzens Hundertstem (oder so ähnlich). Mit einer exquisiten Mannschaft, vielleicht nicht mit dem stärksten Stück. Aber sie war da. Das freut einen.