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Ins Fäustchen gedacht
„Faust I + II“ von oder besser nach J.W. v. Goethe; Regie Enrico Lübbe, Schauspiel Leipzig, gesehen am 5. Oktober 2018 (zweite Vorstellung)
Mal wieder Faust im Ganzen, den Rezipienten freut es. In vier Teilen wurde das sog. National-Poem in Leipzig geboten, und so soll auch berichtet werden.
Teil 1: Requiem für Gretchen
Wer vieles bringt, hat noch lange kein Konzept. Der Teil 1, der Lübbes Variante von Faust I in knapp zwei Stunden auf die Bühne brachte, war herzlich schlecht insgesamt, auch wenn es natürlich auch Sehenswertes gab. Aber das wog die als modern kostümierte Biederkeit nicht auf. Nicht jeder Blödsinn ist auch Dadaismus, ein Marionettentheater mit Menschen ist auf Dauer langweilig, und hat der Rasche nicht ein Theater-Patent auf die Drehscheibe? Vieles sah dann doch sehr nach dem Basler „Woyzeck“ aus.
Ein 28-köpfiger Chor war dabei im Einsatz: Anfangs ganz großartig, mit einer mitreißenden Ver- bzw. Zertonung der bekannten Verse, beim zweiten Auftritt grad noch artig und in der Folge vor allem nervig. Ein Chor ist nun mal keine Schauspielbrigade, jedenfalls nicht von selbst. Daß Stiefelgetrappel gegen Chorgesang akustisch obsiegt, sollte zudem am Theater bekannt sein. Schade um die verschenkten Möglichkeiten, die man am Ende des Abends im Faust II dann kurz aufblitzen sah.
Die Spielfassung des Faust I wirkte letztlich, als wäre sie im Stadium der Improvisation zu Probenbeginn steckengeblieben. Visuell spektakulär, insbesondere in der Auftrennung des Heinrich Faust in seine diversen Persönlichkeiten, die den Mephisto ersetzen sollten, der doch tatsächlich (hörthört, Theaterwelt!) hier gestrichen war – klar, man kann Suppe auch ohne Salz kochen, es ist nur keine gute Idee -, aber in der Textauswahl willkürlich, ohne Figurenentwicklung und ohne dramaturgischen Einfall. So hat es selbst die noch recht gute Julia Preuß schwer, am Ende des ersten Teils einigermaßen glaubhaft einen großen Gretchen-Monolog zu geben, nachdem sie zuvor wahlweise rumstehen oder im Kreis latschen musste mit vielen anderen Margarethen.
Kein Konzept, nirgends. Fast schon war dies ein Best Of der belanglosesten Szenen aus dem Faust, und diese wurden dann auch noch schlecht umgesetzt. Faust ist hier vor allem müde, mürrisch und schlecht gelaunt, übt sich am Ende (als er seinen Gretchen-Missbrauch begreift, wie wir aus dem Originaltext wissen) im Schattenboxen gegen seinen alten Ego im Viererpack und wirkt dabei wie ein Luftgitarrist bei der Metal-Runde in der Dorfdisko. Wenzel Banneyer beim Spielen zuzusehen, ist leider kein Vergnügen, tut mir leid.
Teil 2: Kaschperletheater
Nach der unnötig langen Pause folgt im Saal ein Intermezzo mit Puppenspiel. In Auerbachs Keller gleich nebenan feiert sowas sicher Erfolge und stößt auf Begeisterung bei den Touristen, aber an einem Stadttheater der oberen Liga hab ich so etwas Dämliches schon lange nicht mehr gesehen. Zum Inhalt schweigt des Sängers Höflichkeit.
Nur ein hübsch gemachtes Filmchen über die Herren Goethe auf den eigenen Spuren will ich erwähnen. Doch was ist ein Einbruch in eine Bibliothek gegen die Gründung einer solchen? Man hätte es beim Film bewenden lassen können.
Und am Ende gibt es Wein für das Publikum, aber der reicht nicht für alle. Irgendwie passt das.
Teil 3: Ins Freie!
Drei Touren hat man nunmehr angesetzt, „Die Umsiedler“ am Völkerschlachtdenkmal, „Schöpfungsträume“ im Institut für Anatomie der Universität Leipzig und „Die Erfindung des Reichtums“ quer durch das Zentrum zur Alten Handelsbörse. Nur von letzterem kann ich berichten, und tue das mit Respekt, auch wenn mir der Titel unpassend scheint für den präsentierten Inhalt. Mit aufwändiger Logistik, Audio-Guide und zahlreichen Lotsen wird man über Geldgeschichte und -philosophie belehrt, das ist meist interessant und nur manchmal arg simpel. Durch den Festsaal des Alten Rathauses geht es in die Alte Handelsbörse, wo eine Pfarrerin (weil per Definition in allen Dingen zuständig) und ein Geschichtsprofessor über den Besitz und dessen Abbildung im Leben (z.B. als Papiergeld) plaudern. Das plätschert dahin, auf dem Rückweg zum Theater gibt es noch Klangkunst auf die Kopfhörer, man wird durch die Mädler-Passage gelotst und darf des Dr. Jürgen Schneider gedenken, der Abend ist wunderbar mild, die Straßen sind voller geputzter Menschen … fast ist man versöhnt mit dem Ganzen. Das willkürliche Auseinanderreißen von Sitz-Gruppen durch uneinheitliche Investments mit dem „Pudel-Geld“ verdirbt einem aber gleich wieder die freundlichen Gedanken.
Teil 4: Es muss ein Ende haben
Damit sich alle auch wieder finden, hat man noch eine dreiviertel Stunde Faust II im Großen Haus angesetzt. Nun ja, von allem Theatralen war das noch das Gelungenste, trotz der zur Unverständlichkeit gekürzten Fassung mit erschwerender Beigabe von anderen Texten aus dem Faust II, die parallel auf der die schon bekannte Drehscheibe überdeckenden Fläche eingeblendet wurden, gänzlich ohne Beziehung zum Geschehen. Zu erkennen waren die allerdings nur aus den ersten Reihen – somit schadeten sie zumindest nicht.
Das versammelte Schauspielstudio durfte sich im abwechselnden Deklamieren von Textbruchteilen an der Rampe üben (eine Fähigkeit, die sie später hoffentlich selten brauchen werden), die Scheibe wirkte mitunter wie eine Weihnachtspyramide mit reichlich Engelei, auf ihr wurden unablässig Stühle gerückt und irgendwie dabei die Szene mit Philemon und Baucis gegeben. Dramatische Musik hatte es auch, und die Glocken läuteten deutlich zu oft.
Dann nochmal zurück auf Anfang des Faust I, aber zum Glück nur als Zitat, der Wackere darf nun versterben, und wo kein Mephisto, kann auch keiner um seinen Lohn betrogen werden. Es wird schön gesungen am Ende, aber auch dies reicht nur für einen mittelprächtigen, erleichterten Beifall, es geht auf Mitternacht.
Tja, und nun, das Urteil?
Als gefühlt 75te Inszenierung des Faust im Ganzen in den letzten Jahren: krachend gescheitert.
Als Event-Theater: Kann man machen. Nur sollten Aufwand und Ertrag mehr miteinander zu tun haben.
Doch das Leipziger Schauspiel bleibt ein Gesamtkunstwerk aus Theater, Ambiente, Gastro, Umgebung und Stadt, daran ändert auch ein solcher Abend nichts.
Schöne, nicht ganz neue Welt
Die Saisonvorschau 2014/15 des Staatsschauspiels Dresden
Es ist Gründonnerstag, ein Journalistenfeiertag, wie man jetzt auch im Staatsschauspiel Dresden weiß und deshalb die Pressekonferenz zur kommenden Saison um einen Tag vorzog. Die Vorstellung vor den interessierten Publikumskreisen (zwei Vereine und einige Abweichler) konnte aber am geplanten Tag verbleiben, die meisten im mit 200 Gästen gut gefüllten Foyer sind ohnehin im Rentenalter.
Ich beschließe, den rar gewordenen Moment, zum jüngsten Viertel der Besucher zu gehören, ausgiebig auszukosten und lasse mir die Laune auch nicht durch die witzelnde Einleitung des Vereinsmeiers Eins verderben. Dessen Zumutungen lässt Intendant Wilfried Schulz locker abtropfen und hat gleich ein ärztliches Bulletin zu verkünden: Ja, Lea Ruckpaul habe sich den Fuß gebrochen, aber bei den jungen Leuten wachse sowas schnell wieder zusammen. Sie würde heute trotzdem die Titelrolle in Antigone spielen, im Sitzen, und ihre Wege würde jemand anderes gehen, was grad noch auf der Bühne geprobt würde, weswegen man mit der Spielplanvorstellung ins Foyer ausgewichen sei.
Das klingt verdammt interessant, wie schlümmstes Berliner Regietheater, auch wenn ich das Stück überhaupt nicht und die aktuelle Inszenierung auch nicht besonders mag. Ich bleib dann aber doch nicht zur Vorstellung, die Welt (oder zumindest ein Milliardstel davon) wartet auf meinen Bericht. Also:
Die „geistige Stütze“ des 61-jährigen Schulz (um den Vereinsmeier Eins zur Strafe zu zitieren), Chefdramaturg Robert Koall, weilt im fernen Amerika, um auch dort Gutes zu tun, zumindest an einigen Studierenden. Wie man ihn kennt, wird er eine Uraufführung mitbringen.
Wilfried Schulz muss heute also alleine die durchaus wohlwollende Halbfachwelt (Fachhalbwelt?) bespielen, aber dies gelingt prächtig. Die gute Stunde vergeht wie im Fluge, nur am Anfang sind es ein paar Fußballmetaphern zu viel, das hat er gar nicht nötig, zumal er gelegentlich einen Zwischenruf bekommt, den er als Steilpass aufnimmt und dem Rufer postwendend ins eigene Netz knallt. (Jaja, ich kann das auch mit den Metaphern.)
Genug geblödelt.
Es wird eine schöne Welt werden im Dresdner Theater, wenn auch keine völlig neue. Doch man startet mit einer Uraufführung, besagter „Schönen neuen Welt“ nach Aldous Huxley, die – siehe oben – Robert Koall eingesammelt und für die Bühne aufbereitet hat. Und dann führt auch noch der seit dem Dresdner „Don Carlos“ zur allerersten Reihe gehörende Roger Vontobel Regie, der diesen beängstigend-großartigen Stoff sicher in faszinierender Weise umsetzen wird. Da freu ich mich schon sehr drauf, und wenn es für den 12. September schon Karten gegeben hätte, würde eine jetzt mir gehören.
Also mal kein Klassiker zur Eröffnung, aber vielleicht wird es ja einer.
Dafür folgt dann ein richtiger: Tschechow. Das brachte Herrn Schulz zum Sinnieren, wo denn die Sehnsuchtsorte heute so wären, da ja „nach Moskau …“ nur mehr bedingt gelten würde. Die Frage blieb offen. (Ich hätte Hiddensee und das Schützenhaus in Wehlen zu bieten, aber das ist jetzt vielleicht zu banal.)
Regie wird Tilman Köhler führen, was unbedingt eine gute Idee ist, wie laut Schulz auch das Ensemble findet. Drei Dutzend Bewerber*innen hätte er auf elf Rollen … Dass er bei dieser Gelegenheit auch noch so cool ist, über sein sicher nicht unbeträchtliches Gehalt zu witzeln (und einen Teil davon als Schmerzensgeld zu definieren), zeigt eine Souveränität, die in den fünf Jahren seines Vertrags stetig gewachsen ist.
Wilfried Schulz hat inzwischen in Dresden verlängert, was ebenfalls eine gute Idee ist, und beginnt nun seine sechste Spielzeit. In dieser wird es – auch wenn „Klaus im Schrank“ noch wie geschnitten Brot geht – ein neues Kinder- und Familienstück geben, „Das Gespenst von Canterville“ nach Oscar Wilde. Auch wenn die Geschichte eigentlich jeder kennt, wird interessant sein, wie Susanne Lietzow dies auf die Bühne bringt. Dass Herr Schulz wortreich erklärte, warum nun Frau Lietzow schon wieder „sowas“ machen würde, sagt leider einiges über das Ansehen dieser Gattung in Fachkreisen aus, was einerseits schade ist, mir aber andererseits auch wurscht, denn selbst wenn es die großartigen „Ratten“ nicht gegeben hätte, würde ich ihre Arbeit dennoch schätzen.
Der Faust kommt immer wieder, das kann ich bestätigen. Nach der werktreuen Fassung von Holk Freytag vor einigen Jahren (mit einem phänomenalen Gespann Glodde/Mesgarha, ich erinnere mich gut und gern) kommt nun der hierzulande noch nicht tätig gewesene Intendant aus Uppsala, Linus Tunström, der auch als Choreograph arbeitet, und kündigt eine freie Interpretation an. Es soll irgendwie retrospektiv werden und die Best-Ager im Ensemble dürfen sich schon mal warmlaufen. Auch das klingt spannend.
Die darstellende Jugend ist dann bei „Wie es euch gefällt“ gefragt, das Jan Gehler, Hausregisseur Nr. 2, erstmals auf der großen Bühne inszeniert. Dies sei nicht mit „Was ihr wollt“ zu verwechseln, tat Schulz kund, und bescheinigte einem „Hoffentlich!“ Rufenden dann eleganter, als ich das hier widergeben kann, mangelnde geistige Reichweite. Doch auch den hier nicht mehr ganz so gut gelittenen Andreas Kriegenburg ereilte bei dieser Gelegenheit ein Schulzscher Ordnungsruf: 30 Minuten zu lang sei es geraten.
(Schulz ist da übrigens ganz meiner Meinung, den fast einhelligen Verriss der diesjährigen Inszenierung teile auch ich mitnichten.)
Egal. Kriegenburg (oder besser Dresden?) bekommt eine neue Chance, „Bernarda Albas Haus“ von Lorca wird im April 2015 premierieren und fast das gesamte weibliche Ensemble auf der Bühne versammeln, was allein schon Grund genug wäre hinzugehen. Davor gibt es noch einen unbekannten Schiller („Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“) des hier auch noch nicht so populären Regisseurs Jan Philipp Gloger und Kafkas „Amerika“, das Wolfgang Engel, auf andere Art ein Hausregisseur, inszenieren wird, mit Olaf Altmann als Bühnenbildner.
Irgendwie (vermutlich beim Stichwort Gloger) kam dann die Sprache auf die Semperoper und die „dort noch verbliebenen Kollegen“, die sich der guten Wünsche aus dem neuschwesterlichen Hause sicher sein könnten. Respekt, noch nie hat sich ein offizieller Vertreter der Kultur im Freistaat so deutlich erbost über den Rauswurf von Serge Dorny geäußert wie Wilfried Schulz heute. Aus anderen Landeshauptstädten, z.B. in Bindestrich-Ländern, hört man derzeit eher Ergebenheitsadressen an die Ministerien.
Gut, er hat frisch verlängert, einen weiteren Rauswurf eines Intendanten wegen Majestätsbeleidigung würde Frau von Minister politisch weder durchbekommen noch überstehen, dennoch: Diese klare Positionierung ist dankenswert, zumal sie einen Bogen schlug nach Wien und nach Düsseldorf, wo auch grad große Tanker schlingern.
Zurück zu einer anderen Art von Theater: Im Großen Haus sind noch die „Lehman Brothers“ zu erwähnen, die die Geschichte des Kapitalismus über 150 Jahre erzählen werden, kleiner haben wir es hier nicht. Das Stück stammt vom Italiener Stefano Massini und kommt als deutschsprachige Erstaufführung. Regie führt der Kölner Intendant Stefan Bachmann, der damit auch die große Umbaupause in Köln überbrückt. Und Friederike Heller wird „Dantons Tod“ von Büchner inszenieren, die Premiere ist im Mai 2015 geplant.
Das Kleine Haus und die Bürgerbühne kommen dann zeitbedingt recht kurz weg. Mit Philipp Löhle gibt es einen neuen Gegenwartsautor, den Barbara Bürk inszenieren wird. Der letzte Roman von Monika Maron, „Zwischenspiel“, wird vom Jung-Regisseur Malte Schiller verarbeitet, die Hauptrolle übernimmt Hannelore Koch, eine schöne Konstellation.
Ein Stück zum NSU wird es geben, von Thomas Freyer in der Regie von Tilman Köhler, fragend angelegt, wie Schulz erklärte. Und Roger Vontobel wird mit der „Panne“ von Dürrenmatt seine zweite Dresdner Produktion in dieser Saison machen und seine allererste eines Schweizer Autors auch. Arthur Miller steht mit „Alle meine Söhne“ auf dem Programm (Regie Sandra Strunz), und Martin Heckmanns wird sich mit den Qualen der Eltern bei den ersten sexuellen Erfahrungen der Kinder befassen, ein Stück ganz nach dem Geschmack des Intendanten, wie er bekundete.
Und dann kommt noch ein Musikstück von und mit Clemens Sienknecht, „Superhirn oder wie ich die Photonenklarinette erfand“. Wilfried Schulz ist sicher nicht rachsüchtig, merkt sich aber alles, und so wurde der arme Zwischenrufer von vorhin mit „nichts Ernsthaftes, also nichts für Sie!“ angesprochen. Er wird das sicher nie wieder tun.
Ach ja, und dann steht noch was Geheimes ins Kleine Haus, mit „Ein neuer Text“ umschrieben. Immerhin der Regisseur ist mit Jan Gehler schon fixiert, was dann auf die Bühne kommt, soll erst zur Frankfurter Buchmesse verraten werden. So macht man das heute.
Die beiden hiesigen Lokalzeitungen stiegen dennoch in ihrer Berichterstattung nicht darauf ein, bei der einen ist man ohnehin nicht verwöhnt, und die andere setzte den Schwerpunkt auf die Aussagen zum „Fall Dorny“. Hier kann man sich also noch investigativ betätigen, so man dies möchte oder muss.
Die Bürgerbühne ist inzwischen Normalität, was schön ist, ihr aber in solchen Veranstaltungen auch keine Extrawurst mehr beschert. Fünf neue Inszenierungen sind zu erwarten, auf jene zur jüdischen Identität in Dresden, inspiriert durch die „letzten Zeugen“ des Burgtheaters, die zum Bürgerbühnenfestival im Mai hier gastieren werden, sei besonders verwiesen. Und auf das nunmehr dritte Landschaftstheater, wieder von Uli Jäckle.
Es ist – Phrasendrescher an – ein „reicher Spielplan“, mit einer klareren inhaltlichen Trennung zwischen Großem und Kleinem Haus, wie mir scheint. Die Saison trägt kein eigenes Motto, aber dem – nicht nur wegen der ungewöhnlichen Schauspielerportraits – gelungenen Spielzeitheft ist ein Zitat von Wolfgang Herrndorf vorweggestellt:
„Wir waren unterwegs, und wir würden immer unterwegs sein, und wir sangen vor Begeisterung mit“
Ja, meinereiner kommt mit, und selbst das Mitsingen kann ich mir vorstellen, wenn das alles so eintritt.
Die Veranstaltung beschließt Vereinsmeier Zwei, kalauernd wie Nr. Eins, aber immerhin hat er Blumen dabei. Und dann ist Ostern.
Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
„The Rake’s Progress”, Oper von Igor Strawinsky, in der Inszenierung von Damiano Michieletto und unter musikalischer Leitung von Anthony Bramall, Premiere am 5. April 2014 an der Oper Leipzig (Koproduktion mit dem Teatro La Fenice, Venezia)
Der Link führt zum Bericht auf KULTURA-EXTRA.
Faust – Macht – Kopf
Unvollendete Gedanken zum Faust
Die wenigsten unter uns werden es wissen (nicht jeder kann ein Eisenbahner sein): „Kopf machen“ bedeutet, die Richtung völlig umzukehren oder zumindest deutlich zu ändern. Ein Zug macht Kopf, wenn er in einen „Sack“-Bahnhof hinein- und wieder hinausfährt. „Sack“ bezieht sich dabei nicht auf die physische Beschaffenheit der bahnhofstypischen Anlagen, sondern auf die Tatsache, dass es am Ende eines Sackes gewöhnlich nicht mehr weitergeht, solange jener intakt ist.
Nachdenken ist dabei erst einmal nicht gemeint.
A Der klassische Faust I als Kurzform in Zitaten und Assoziationen:
1. Verwirren, nicht befriedigen!
2. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
3. Die Kunst ist lang. Und kurz das Leben.
4. Dem Wurme gleiche ich und nicht den Göttern.
5. Ein verfrühter Abgang wird durch Glockengeläut verhindert
6. Botschaft hören, Glaube vermissen, Erde ihn wiederhabend
7. Zwei Seelen, ach, in meiner Brust, die eine will sich trennen
8. Ich bin ein Teil von jener Kraft …
9. Zu alt um nur zu spielen, zu jung um ohne Wunsch zu sein
10. Wenn wir uns drüben wiederfinden, sollst Du mir das Gleiche tun
11. „Augenblick, verweile doch“ … Dann wär’s vorbei
12. Blut ist ein besonderer Saft
13. Die Kraft ist schwach doch die Lust ist groß
14. Hexen – Einsdurcheins
15. Der Helena-Trunk
16. Arm und Geleit angetragen und abgelehnt
17. Verliebter Tor … Beginn des Abwegs
18. Was so ein Mann nicht alles denken kann
19. Ihre Ruh ist hin, ihr Herz ist schwer, … Und ach, sein Kuss!
20. Wie hasst Du? Es? Mit der Religion?
21. Duckt er da, duckt er sonst auch.
22. Fortgang selber denken.
23. Tod und Tod. Und Tod. Der Soldat als Hüter der Moral fällt.
24. (theoret.: Religion als Disziplinierung und Machtsicherung)
25. Walpurgisfatsche, Gretchenvision, Faust bereut ein bisschen.
26. Kerker. Grete ist schon auf dem nächsten Level, zu spät für die Rettung. Es graut ihr ohnehin vorm Heinrich.
27. Die Zweier-Karawane zieht weiter.
B Das meint?
(Man kann den Faust heutiger machen, aber sicher nicht besser. Nur, wenn man ihn nicht heutiger machen würde, wäre er deutlich schlechter.)
Faust macht also Kopf, nachdem er sich nen Kopf gemacht hat, dreht sein Leben um mit Hilfe von Mephisto.
Gretchen ist anfangs keine Gescheiterte. Aber sie wird durch Faust zu einer.
Mephisto ist dabei der hilfreiche Geist, der tut das aber nicht für lau. Faust darf nun nie glücklich werden, sonst ist seine Seele verloren
Und wenn schon. Wer braucht nach dem Tode noch seine Seele?
Faust und Mephisto sind natürlich dieselbe Person.
C Und jetzt?
Der Faust am Anfang ist heute vielleicht
• der erfolgreiche Geschäftsmann mit Selbstzweifeln und einem modischen Burnout, gelangweilt vom Wohlstand, auf der Suche nach dem Kick und nach dem Sinn
• der hochgelobte Schriftsteller, der doch weiß, dass seine Bücher nicht mehr sind als gequirlte Kacke, der den Literaturbetrieb hasst, aber das Einkommen daraus schätzt
• der Gentechniker, der weiß, dass er seine Züchtungen irgendwann nicht mehr beherrschen wird, aber diesen Gedanken im Forschungs- und Erfolgsrausch immer wieder verdrängt
• der Volkspartei-Politiker, der lange schon ahnt, dass seine einfachen Antworten nicht ausreichen, um die komplizierten Fragen zu beantworten, sich aber weiter in Macht und Anerkennung suhlt, weil er zu feige ist, die Wahrheit zu sagen
• der Professor, der routiniert seine Theorien verkündet, obwohl er schon lange nicht mehr daran glaubt, der gerne nochmal von vorn anfangen würde, aber zu viele Verpflichtungen hat
• … also im Prinzip jeder, der sich auf dem falschen Weg fühlt, sich aber nicht traut, die Richtung zu ändern
Mephisto?
Kann der Dealer sein, die Luxushure, der Schamane, das Delirium.
Er ist aber immer das Spiegelbild, die dunkle Seite des Faust.
Aber … gibt es Mephisto überhaupt?
Nein. Er ist nur ein Produkt der überreizten Phantasie von Faust, seine erdachte Legitimation zum Grenzübertritt. Eine Kopfgeburt im wahren Sinne, ein Homunkulus des Faust. Alles Böse, alles Dunkle ist doch in Faust schon drin, er braucht keinen Teufel, nur einen Anstoß, einen Katalysator, einen Vorwand. Und dann zieht er los, was kostet die Welt? Sie gehört doch sowieso schon mir. Das Glück ist auf der Seite des Tüchtigen.
Wo gehobelt wird, fallen Späne, wo verführt, Jungfrauen. Wo die Kraft des Meeres gebändigt werden soll, sind kleine Leute und ihr Häuschen fehl am Platze.
Mit uns zieht die neue Zeit … Es möge sich besser keiner in den Weg stellen.
…
Übrigens:
Gibt es Gott? Nicht den Arne aus dem Radio, sondern Gott?
Wenn es Gott gibt, muss es dann einen Teufel geben? Und wenn es keinen Gott gibt, kann es dann einen Teufel geben? (Auch in „Der Meister und Margherita“ wird das nicht endgültig geklärt.)
Und „Faust“ heute? Der Name ist meist härter als sein Träger.
Faust oder Fäustling? Oder auch Faustan? Das ist hier die Frage, Hamlet.
(Lustig, gerade eben, als ich das schreibe, sitzt das Gretchen aus der letzten „richtigen“ Faust-Inszenierung in Dresden am selben Tresen im Thalia.)
Es geht auch ohne dass man spricht
„Faust ohne Worte“, eine Produktion der Theaterzirkus Dresden gGmbH im Palais im Großen Garten Dresden, gesehen am 15. September 2013, Regie Tom Quaas, Co-Regie Lionel Menard (Wiederaufnahme-Premiere)
Beethoven ohne Musik? Eine Oper ohne Sänger? All das haben wir noch vor uns, vielleicht auch Fußball ohne Ball oder Merkel ohne Programm. Ach nee, letzteres gibt es ja schon.
Doch zuvor die Wiederaufnahme des „Faust“, ganz ohne Worte. Das geht? Und wie das geht! Ich nehme es vorweg: Ich habe den sinnlichsten Faust meines Zuschauerlebens gesehen.
Zuvor will noch die Liste der Gönner und Förderer verlesen werden, endlos lang, doch jeder gebührt Ehre, die dieses Projekt unterstützt. Impressario Quaas tut dies mit Grandezza.
Der Einstieg ist eine Art Kurzfassung von Rainer König (sonst Gott), mir persönlich zu derb, aber als Anheizer mag dies gehen. Doch man muss den Faust schon gut kennen, um folgen zu können.
Ohnehin empfiehlt es sich, Faust I zuvor mal durchzublättern, doch ich finde, das ist nicht zuviel verlangt.
Dann geht es richtig los, Faust (Wolfram von Bodecker) baut an seinem mannshohen Sockel, eine beeindruckende Körperlichkeit, nicht nur bei ihm, das ganze Ensemble ist phantastisch drauf. Dann bricht der Sockel weg, doch das ficht ihn nicht an, einer wie er kann auch über Wasser gehen, da ist Schweben doch kein Problem.
Die Werktreue ist frappierend, manchmal fühlt man sich fast aufgefordert, die passenden Zeilen hineinzurufen, zum Glück kann ich den Impuls unterdrücken.
Der Erdgeist erscheint wie der Sandwurm bei Luke Skywalker, doch der Wagner (großartig Louis Terver) platzt in die Szene. Das Bühnenbild ist nicht nur hier absolut stimmig, Tilo Schiemenz hat’s gemacht.
Faust wird nun ordnungsgemäß gerettet vorm Freitod. Ein sehr charmanter Osterspaziergang, die Kostüme (Sigrid Herfurth) sind ein Gedicht, und nicht nur die. Ein Fest der Sinne.
Der Pudel (Alexander Neander, später dann auch als Mephisto like Gründgens) zeigt Willensstärke, statt seiner apportiert Wagner. Und des Pudels Kern zeigt sich effektvoll. Überhaupt, die Effekte … Henrik Forberg am Licht sei hier stellvertretend für alle belobigt.
Auftritt eines Schülers (Tim Schreiber), am Ende wird das Wissen gerupft, ein hübsches Spektakel. Und dann Auerbachs Keller, sehr witzig, nicht nur hier ist das Schlagwerk (Bernd Sikora) voll auf der Höhe.
Die restliche Musik kommt vom Band, eine solche Produktion kostet ein Schweinegeld, und live ist nun mal teuer. Vielleicht gelingt es ja noch, das Gesamtkunstwerk, ich würd auch gern ein Scherflein dazu beitragen.
Eine nackte Schönheit eröffnet nach der Pause, aha, Hexenküche. Gott wird zur alten Roma, das mag sicher auch die Oma, die NPD wohl weniger.
Eine Verwandlung wie bei Kafka, nur andersrum. Ein junger, strahlend schöner Faust entsteigt dem Pott, er sieht Mephisto verdammt ähnlich.
Gretchen tritt auf, und die Schmetterlinge fliegen. Faust bekommt das erstmal gar nicht gut, aber er ist jetzt hartnäckig und zielfokussiert. Bald ist er in Gretchens Kammer, mit Kette und Ohrringen kriegt man jede rum.
Marthe (Kati Klasse, äh, Grasse) ist hacke, warum nicht. Sie versucht sich eine Zigarre, nun ja, einzuführen, was schließlich unter Beifall auch gelingt. Und Gretchen (becircend Katja Langnäse) ist rollig, anders kann man das nicht nennen.
Mephisto überbringt die Todesnachricht von Marthes Verflossenen, kurze Betroffenheit, doch das letzte Hemd des teuren Toten hat keine Taschen, die Trauer findet so ein schnelles Ende.
Marthens Garten, Mephisto muss und Marthe will. Beim jungen Paar wollen beide, ein Spektakulum der Liebe. Sie kriegen sich herzerweichend, die Gretchen-Frage wird vorerst vertagt. Und dann schläft die Mutter Schlafes Bruder … Yes, they did.
Doch die Bibel wird zum Sarg, und Lieschen (Rebecca Jefferson) zeigt, was passieren kann und wird. Die Musik (Michael Kaden) illustriert kongenial die Entfremdung Fausts von Gretchen, so hab ich das noch nie gesehen.
Da steht sie nun da, künftig alleinerziehend, geächtet, Hartz Vier. Der, der den ersten Stein wirft, ist ihr Bruder Valentin (Renat Safiullin). Fast freut man sich über den tödlichen Stich, den Mephisto ihm verpasst, im Duell mit dem Mädchenverderber Faust.
Und nun? Wir kommen zur persönlichen Schande des Rezensenten: Er verließ den Saal vor der Zeit, bemüht leise, aber voller Scham. Die Premiere im Kleinen Haus lockte (zu Recht, wie sich herausstellte), aber das geht gar nicht.
Eine falsche Zeitplanung, so simpel ist das manchmal. Er gelobt Besserung und wird den Schluss nachsitzen.
Was soll man da am Ende schreiben? Es wurde immer besser, und ich musste gehen. Doch selbst, wenn das Finale versemmelt worden wäre, was ich nicht glaube: Ein großartiger Faust, voller Emotion, voller Leben, voller Magie. Es braucht wirklich keine Worte.
Ganz großes Theater. Muss man gesehen haben.
Die nächsten Gelegenheiten:
17. bis 22. September in Dresden a.a.O.,
27. Oktober in der Theaterfabrik Sachsen in Leipzig.
Und Näheres hier: http://www.faust-ohne-worte.de/index.html
Zur Rolle der Bürgerbühne
Einige Gedanken nach meiner ersten Saison
Ich gebe zu, ich bin direkt betroffen. Zwiefach, als langjährig begeisterter Theatergänger und seit November 2012 als glücklich ausgewählter Darsteller in einer Bürgerbühnenproduktion. Und damit befangen? Das wertet meine Meinung eher auf, denke ich. Schließlich hab ich nun beide Perspektiven.
Die Bürgerbühne ist natürlich kein Theater im klassischen Sinne. Sie ist vielleicht auch ein wenig dem Zeitgeist geschuldet, Partizipation ist chic im Moment.
Die entscheidende Frage ist aber: Was kann sie, was klassische Theaterformen nicht können?
Sie bringt Sichtweisen hinein, die aus dem „realen Leben“ resultieren (ohne zu vergessen, dass auch das Theaterleben wirklich ist). Und sie erschließt dem Theater idealerweise neue Zuschauerkreise, die sonst nie im Saal säßen.
Im ungünstigen Fall würde sie jedoch Produktionen ersetzen, die eigentlich mit (freien) Profis gemacht werden sollten und trüge damit zur Verschlechterung deren Situation bei.
Es sollte deshalb immer einen triftigen und genau beschreibbaren Grund geben, eine Produktion ausgerechnet mit Laien zu machen. Niemand kann an einer Dreigroschenoper Interesse haben, die klassisch inszeniert wird, wo sich aber Laien auf der Bühne tummeln. Das bringt keinen Erkenntnisgewinn, und man täte den Darstellern dabei keinen Gefallen.
Die „Jungfrau von Orleans“ in Dresden ist in diesem Sinne ein Grenzfall. Durch die Jugendlichkeit der Spieler und eine für sie angepasste Bühnenfassung war dies dennoch einer der Höhepunkte der diesjährigen Bürgerbühnensaison.
Die Kernkompetenz der Bürgerbühne ist jedoch m. E. etwas anderes: Die Stück-Entwicklung mit authentischen Menschen aus dem Alltag „da draußen“, die etwas zu erzählen haben, und die Schaffung eines tragfähigen Rahmens dafür. Zu Probenbeginn existiert dabei allerhöchstens ein grobes Konzept für den Inhalt, der rote Faden muss erst noch ausgerollt werden. „Ja, ich will“, „Cash“ und der „Arme Tor“ sind dabei ideale Beispiele.
Der Ablauf der Stückentstehung, diese Mischung aus Improvisieren, Vertiefen und Verwerfen, die harte Arbeit an Text und Form ist übrigens aus meiner Sicht für die Mitwirkenden noch spannender als das spätere Rampenlicht. Man ist über ein Vierteljahr Bestandteil eines kreativen künstlerischen Prozesses, wer hat das im Alltag sonst schon?
Ein besonderer Aspekt sind dabei die zahlreichen Clubs der Bürgerbühne, deren wöchentliche Arbeit mit einer oder zwei Aufführungen beim Clubfestival den Höhepunkt findet. Hier ist der Weg noch mehr das Ziel.
Was mich persönlich immer wieder überrascht und fasziniert, ist das kreative und darstellerische Potential, dass aus dieser doch nur Halbmillionenstadt erwächst. Als hätten hier Hunderte nur darauf gewartet, wachgeküsst zu werden.
Die Bürgerbühne Dresden ist – nach dem vierten Jahr ihres Bestehens darf man das konstatieren – eine wirkliche Erfolgsgeschichte. Es bedurfte dazu einer grandiosen Idee und noch mehr des Mutes, diese umzusetzen, eine handlungsfähige Struktur dafür zu schaffen und diese auch mit den Mitteln auszustatten, um „richtiges“ Theater zu machen.
Dass die Stücke der Bürgerbühne gleichberechtigt auf dem Spielplan stehen und von Technik und Kostümerie genau wie die Großen betreut werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Und das ist wohl das eigentlich Revolutionäre am Dresdner Modell: die nahezu vollständige Integration dieser „Laienspieler“ ins Haus.
Aus heutiger Sicht (aber „aus heutiger Sicht“ gab es damals nicht) hätte das auch schiefgehen können: die Stücke Flops, verkopft oder Bauerntheater, die Kritiken vernichtend, das Interesse gering, das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Hätte alles passieren können.
Dass es nicht so kam, ist der harten und kreativen Arbeit der künstlerischen Leitung um Miriam Tscholl zu verdanken, und einem Intendanten Wilfried Schulz, der genug Mut und Vertrauen hatte.
Die Saat scheint nun auch bundes-, wenn nicht gar europaweit aufzugehen. Bereits im Januar 2013 gab es in Dresden eine hochspannende Tagung zum Modell Bürgerbühne, im November wird in Mannheim eine Art Folgeveranstaltung stattfinden. Immer mehr Theater probieren Formen der Zuschauer- bzw. Bürgerbeteiligung aus, auch wenn die Dresdner Dimension wohl nirgendwo erreicht werden wird.
Warum? Es fehlt an Geld.
Man muss sich natürlich im Klaren sein, dass auch im Kulturetat jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Gerade wenn dieser Etat immer weiter schrumpft (oder im Extremfall wie in Eilsleben gestrichen werden soll), muss die Frage gestellt werden, ob das knappe Geld nicht besser komplett jenen zugute kommen sollte, die das Theater als Beruf (und Berufung) betreiben und schlicht davon leben müssen und wollen. Ist der Kulturetat nicht zu schade dafür, die Freizeit von gewöhnlich mitten im Leben stehenden Menschen aufzupeppen?
Das wichtigste Argument dagegen: Das Theater ist nicht für das Theater da, sondern für die Gesellschaft. Und wenn es in dieser Gesellschaft das wahrnehmbare Bedürfnis gibt, sich selbst in irgendeiner Form theatralisch zu betätigen, muss die Institution Theater auch (!) diesem nachkommen.
Aber natürlich ist das in der Theorie leicht gesagt, die konkrete Ausgestaltung muss immer lokal bestimmt werden.
Es ist auch noch auf das Verhältnis der (staatlich alimentierten) Bürgerbühne zu den freien Theatern und den Laienspielgruppen der Stadt einzugehen. Vereinfachend gesagt, wird hier oft eine Wettbewerbsverzerrung in finanzieller und personeller Hinsicht beklagt. Ob die Bürgerbühne den anderen Theatern Fördermittel abgräbt, kann ich nicht beurteilen, dazu kenne ich die Strukturen zu wenig. Für die Rekrutierung von Darstellern ist es aber natürlich ein Problem, wenn ein derart attraktives und breites Alternativ-Angebot existiert. Und wer sich schon einmal im Amateurtheater betätigt hat, ist sicher froh, weder die Kulissen selber schieben noch die Eintrittskarten verkaufen zu müssen, von Marketing, Kostüm und Technik ganz zu schweigen.
Wird damit die Laienspielszene ausgetrocknet? Ich denke eher, nach einem Abschwung wird sie sich wieder aufrappeln und vielleicht über ganz neue Kräfte verfügen.
Denn das Prinzip der Bürgerbühne (auch wenn es gelegentlich durchbrochen wird) ist: „Jeder nur einmal“. Und selbst wenn es im Einzelfall schade ist, sollte man daran festhalten. Ein stehendes Ensemble aus sich fast wie Profis fühlenden Amateuren ist nicht Sinn der Sache. Die Bürgerbühne lebt von immer neuem Input aus dem wahren Leben, und ich kann nicht erkennen, dass dieser Strom abreißen würde.
Aber wo soll der nunmehr Infizierte nun hin mit seiner entdeckten Spiellust und -freude? Genau. Ich prophezeie, die Laientheater werden allgemein einen deutlichen Zufluss erfahren in den nächsten Jahren. Und dass die neuen Mitwirkenden dann vieles besser (zu) wissen (glauben) als die Etablierten, wird man schon aushalten.
Etwa 700 Menschen haben in diesen vier Jahren die verschiedenen Angebote der Bürgerbühne aktiv wahrgenommen, die Zuschauerzahl dürfte deutlich fünfstellig sein. Allein das wäre Grund genug, alle Beteiligten zu beglückwünschen.
„Mein“ Stück hat es übrigens in die nächste Saison geschafft. Also noch ein Jahr länger kann ich gelegentlich in diesen Mikrokosmos eintauchen, die ausgeklügelte Logistik von Vorstellungen und Proben bewundern, einen Blick der vielen schönen Schauspielerinnen erhaschen, mit der Technik ein Bier trinken nach der Vorstellung und mich ein bisschen zugehörig fühlen zu diesem wunderbaren, einzigartigen Konstrukt Theater.
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Faust: 1, Mephisto: 2
„Faust 1 + 2“ von Johann Wolfgang v. Goethe, Inszenierung des Thalia-Theaters Hamburg in der Regie von Nicolas Stemann, Gastspiel am Staatsschauspiel Dresden, 25./26. Mai 2013
Faust 1: Nur wetten kann man nicht alleine
Nein, heute keine Nacherzählung. Ich verweise auf die allgemeine Schulbildung und/oder Besuche anderer Stücke dieses Namens.
Allerdings, wer beides nicht nachweisen konnte, hatte schlechte Karten im Saal. Stemann lässt seine drei phantastischen Schauspieler (Patrycia Ziolkowska, Sebastian Rudolph und Philipp Hochmair) nacheinander antreten, nur selten miteinander. Und so muss man sich schon ein wenig auskennen im Stoff, um dem – zugegeben perfekten – Rollenzapping der Drei folgen zu können. Ein Ausblick auf das Neue Deutsche Budgettheater (als „Baddsched“ auszusprechen)? Einer spielt alles? Ich hoffe nicht.
Die erste ernstzunehmende Regie-Idee: Faust als eine Art Jonathan Meese in der Schaffenskrise. Das ist sehenswert, das erzielt Wirkung. Er baut sich nach und nach zum Wahnsinn auf, greift zum Benzinkanister, wird doch nicht … das Haus ist doch fast frisch renoviert! Nein, Wagner (Haha, schöner Joke in Dresden) kommt und verhindert das Schlimmste.
Das ominöse Fläschchen ist hier eine Pistole. Aber auch hier bewahren die Osterglocken den latent Suizidgefährdeten vor dem Abgang. Osterspaziergang zum Teil auf plattdütsch, warum nicht. Die Übertragung ins Sächsische hat man uns erspart.
Auftritt eines Pudels namens Mephisto. Der ist ein Zwilling von Faust, nicht neu, die Idee, aber gut. Jener holt schnell auf im Text und übernimmt. Der alte Faust/Mephisto/Wagner/Gott/3xErzengel/Theaterdirektor usw. schleicht sich, schaut noch ein bisschen zu, hat aber ersichtlich Pause.
Ein ergreifender Gesang von Friederike Harmsen (Microport oder Playback? Egal. Wunderschön.), dann die Wette. Das kann man nicht alleine, es kommt erstmals zum Dialog und dann zu Intimitäten unter Männern. „Und ach, sein Kuß …“, die IG Schauspiel dürfte kurz den Atem angehalten haben, aber das war eine großartige Szene.
Auerbachs Keller als Schwulenbar, OK, passt ja im Anschluss, ist auch gut gemacht, toller Video-Einsatz.
Nun Gretchen, aber nicht nur, auch Faust, Mephisto, Marthe. Sie lernt sich sozusagen selber kennen und will sich selbst heim begleiten, lehnt das aber ab (und geht dann doch mit sich selber mit, höhö. Auch diese Form hat also Grenzen.). Nur die Beleuchtung muss sie nicht selbst machen. Das Stilmittel erschöpft sich und mich. Gretchen ist übrigens am bestens als: Überraschung, Gretchen.
Genug genörgelt. Das Stück wird sofort um Klassen besser, wenn miteinander gespielt wird. Faustens Schuld ist hervorragend bebildert, bei der Gretchenfrage muss ihm Mephisto soufflieren, sie ist also in der Unterzahl, was ihr aber zumindest amourös gesehen nicht missfällt.
Berührend der Zwinger, die Walpurgisnacht wird mit der Nacht zuvor vermischt, Gretchens Defloration ist eher nebensächlich, Musik und Video sind wieder großartig. Der Kerker schließlich ist am Anfang ergreifend, nur, da muss man sich ohnehin schon viel Mühe geben, diese Lehrbuch-Szene zu versemmeln. Doch Stemann gelingt das fast mit einem zwanghaft modernen Ende.
Fazit dieses Teils: In der Summe toll, wenn man sich auf den Regieansatz einlassen will. Aber es ist dann doch ein Elitentheater, eines für Deutschlehrer, für Theaterroutiniers, eins fürs Feuilleton, für das Umfeld des Theatertreffens. Selbst in Hamburg wird nicht jeder den Faust auswendig können, und dies schränkt dann den Genuss schon ein. Dennoch, ein Erlebnis.
Faust 2: Der Vieles bringt
Am Anfang die Umkehrung der Situation: Zwei Herren – die einer beliebten Unsitte folgend sich nicht vorstellen – erläutern den Inhalt, allerdings derart unbeholfen, dass mich Mitleid überkommt.
Dann eine Art „Was in den letzten Folgen geschah“. Glaubt man, es sind Zuschauer hinzu gekommen? Goethe tritt im langen Kleid auf, sie zählt die Zeilen fortan mit und hakt ab. Eine alberne Vorstellung der restlichen Akteure folgt, die Verse plätschern bei moderner Klassik so dahin. Etwa achttausend haben wir noch vor uns. Ungestrichen, ja, wir haben’s dann beim vierten Mal auch kapiert.
Der Kaiser hält eine Rede mit visueller Kurvendiskussion, die Lage ist nicht gut. Mummenschanz folgt, irgendwie –tainment, weiß nur nicht welches. Aus Protest wird „Konsum“ an die Wand geschrieben, was in Dresden lustig ist. Das Volk im Blaumann protestiert gegen irgendetwas, aber das Großstadttheater traut sich dann lustigerweise nur, „Sch..e“ in den Übertitel zu schreiben. Da helfe ich doch gerne: Scheiße. Scheiße. So leicht geht das. Einfach nachmachen: Scheiße.
Man tastet und kalauert sich durch den Text. Wenn man mit dem schon nichts anzufangen weiß, kann man ihn immerhin noch verarschen. Eine schwierige Lage, bis das Papiergeld erfunden wird. Von Mephisto, klar. Da haben alle was davon. Helena tritt düster auf und wieder ab. Auch ein Affe ist immer dabei. Der erste Akt, eine Stunde, null Effekt.
Im zweiten Akt wird es nicht viel besser. Eine Knäbin liest mit Eifer, einige Requisiten aus Teil 1 tauchen auf. Die Postdramatik wird erklärt von einem Macher der ersten Stunde, der im Pflegeheim residiert, man ist also zur Selbstironie fähig, ein Pluspunkt.
Muppets übernehmen das Kommando, man muss selber lachen auf der Bühne. Spielt man jetzt auf Zeit? Man liegt doch gar nicht in Führung!
Faust krümmt sich auf der Bühne, ich mich in meinem Sessel, als ein absurder, sturzdummer Dialog über Goethe in Dresden beginnt. Nun ist der Tiefpunkt erreicht.
Ich überlege, womit ich werfen soll, aus dem 2. Rang täte das seine Wirkung, aber … im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. Und hier ist man immer höflich.
Der Glaskasten ist an sich eine gute Idee, manchmal blitzen auch andere auf, nur die Wüste bleibt trocken trotz dieser Tropfen. Vor der Pause noch was zur Klampfe, no, no, nono. Genau.
(Für meinen verbalen Ausrutscher in einem mehr oder weniger sozialen Medium um diese Zeit möchte ich mich aber in aller Form entschuldigen)
Erstaunlicherweise sind noch viele da nach der Pause. Und die werden belohnt. Trotz der wieder gestammelten Erläuterung zur griechischen Geschichte nimmt die Angelegenheit Fahrt auf, ein ganz anderer Stil, reduziert in den Mitteln, konzentriert auf den Text. Ich reibe mir die Augen. Ist das die gleiche Inszenierung? Die Kulisse dröhnt bedrohlich, Helena und Faust kriegen sich mit unlauterer Hilfe von Mephisto, jetzt passt das auch, auch wenn ein buntes Potpourri am Ende wieder einen Rückfall befürchten lässt.
Dann verdingen sich Faust und Mephisto als Söldner, gewinnen einen Krieg für den Kaiser, Helena ist schwanger, familiäres Idyll am Buddelkasten (mit schönem Gretchenfragen-Dialog), dann aber der Absturz, als der gemeinsame Sohn zu Tode stürzt. Helena entschwindet nach dem Begräbnis.
Der letzte Teil ist zweifellos der beste. Das macht nun richtig Spaß. Faust in großer Pose. Hitler? Ich bin mir nicht sicher. Im Video eine Kakophonie von Gelehrten, die einem alle den Faust erklären wollen.
Ein Gezeitenkraftwerk soll es nun werden als bleibende Tat, dafür müssen Menschen weichen. Es trifft ein altes Paar, bei der Umsiedlung geht leider ihr Haus in Flammen auf, die alten Leutchen gleich mit. Mephisto ist nur der Vollstrecker des Faustschen Willens.
Dieser Faust ist nun alt, es geht ins Endspiel. Nein, kein Graben wird das, es wird ein Grab. In jeder Art ist er verloren. Sieben Schauspieler rezitieren im Chor seine letzten Verse. Schön. Dankeschön. Ein guter Schluss.
Trotzdem geht es noch ein bisschen weiter. Der Kampf der Heerscharen (himmlisch und höllisch) muss noch geschildert werden.
Mephisto erliegt dem Charme der Engel, ist kurz unaufmerksam, schon ist die Seele weg, zum Himmel entschwunden. Alles war umsonst.
Ein honigsüßes Ende, passend mit einem Schlager vertont, großes Finale. Schön die Verlesung der Beteiligten, wie bei der großen Samstagabendshow.
Begeisterung dort, wo die Zuschauer sitzen, Jubelstürme. Es hat gefallen, das Ende war die Wende.
In diesem Sinne: Danke für den Besuch, Thalia. Gern mal wieder.
Ach so, die Überschrift. Ich denke, Faust ist eher so Dortmund. Er mag der Sieger der Herzen sein, aber die Abendkasse hat Mephisto an sich genommen. Jede Wette.
I taking a ride with my best friend
“Faust I” von J.W. v. Goethe in der Regie von Arne Retzlaff, gesehen am 1. April 2013 bei den Landesbühnen Sachsen in Radebeul
Ein schmuckes Haus, das. Modern und praktikabel eingerichtet, dass die Grundsanierung schon wieder ein paar Jahre her ist, merkt man nicht. Für meinen letzten Besuch gilt dasselbe, aber ich kann mich immerhin noch erinnern: „Die Räuber“ waren’s, einige aus dem Ensemble hab ich sogar wiedererkannt.
Der „Faust I“ ist ein Repertoirestück, Premiere war schon im November 2010. Brandaktuelle Bezüge sollte man also nicht erwarten, ebenso wenig eine völlige Neuinterpretation. Ich freu mich auf eine „seriöse“ Umsetzung dieses immer wieder faszinierenden Stoffes ohne regieseitige Bedeutungshuberei. Und hab die Reclam-Ausgabe dabei, man weiß ja nie.
Dass alle drei Vorspiele bzw. Prologe weggelassen werden (nur der im Himmel wird kurz zitiert, nicht von Engeln, sondern von Angels), überrascht dann doch. Dem „Zeitgewinn“ steht das Manko gegenüber, über Mephistopheles Motivation zur Verführung von Faust nun gar nichts zu erfahren. Dass das Allgemeingut im Publikum ist, wage ich zu bezweifeln.
Es beginnt also im Studierzimmer, ein gealterter Faust (Olaf Hörbe) hat Visionen, deklamiert den Hundemonolog in die Kamera mit einem – ach – sehr witzigen Einstieg, wird immer zorniger und ist dem Erdgeist in einem Diamonolog nicht gewachsen. Wagner wird dann von einem Chor von Rechenknechten gegeben, warum nicht.
Faust versinkt angesichts seiner Unzulänglichkeit wieder in Trübsinn, überlegt kurz, sich mittels rezeptpflichtiger Betäubungsmittel aus dem Rennen zu nehmen und hört zum Glück die Osterglocken. An den gleichnamigen Blumen fehlt es im Revier, die geputzten Menschen kommen als Fitnessgruppe daher. Man turnt indoor, das passt ja auch zum Wetter. Alles sehr dicht am Originaltext, von einem albernen Witzchen abgesehen.
Der Pudel entfällt, ohne größere Umstände tritt Mephisto in die Stube. Äußerlich scheint er als Zwilling des Faust, beide in einer Art Mitropa-Kellner-Uniform, es passt inhaltlich, sie begegnen sich auf Augenhöhe. Es wird jetzt sehr viel deklamiert, nur Mario Grünewald als Mephisto kann sich dazwischen dämonenhafte Szenen erlauben, die ihm bekanntlich gut stehen (ein schönes Wiedersehen mit dem aus Dresdner Tagen bekannten und geschätzten Schauspieler).
Die Wette ist hervorragend gespielt, im Anschluss dann allerdings viel Streichpotential.
Eine spärliche Bühne hat es hier: vorn ein schmuckloser Stuhl, auf den eine Kamera zeigt, im Hintergrund ein halbtransparenter Vorhang, der bei Bedarf durchscheinend wird und die Szenen im Hintergrund aus dem Dunkel reisst. Gefällt mir gut.
Die Schüler-Szene ist seltsam kastriert. Die Überbleibsel hätte man auch noch weglassen können, außer das sie den (späteren) jungen Faust ins Geschehen bringt, bleibt nichts an Aussage übrig. Schade, da hätte sich M. G. austoben können.
Dafür kommt Auerbachs Keller in voller Breite und mit großer, militanter Besetzung. Leider wirkt das wie Felsenbühne, und der Szenenausstieg ist nicht mehr als eine Verlegenheitslösung. Schade.
Die Hexenküche besteht aus einer Bussi-Gesellschaft mit Verjüngungsapparat. Faust hat eine Gretchen / Helena – Erscheinung und auf einmal auch Interesse an kosmetischen Eingriffen.
Die Begegnung mit dem echten Gretchen enthält auch den elegant gelösten Übergang zum jungen Faust. Dann ist Pause.
Der alte Faust Hörbe dominiert naturgemäß den ersten Teil, aber auch Mephisto Grünewald setzt Akzente.
Der Weißwein kommt hier vom Gut Hoflössnitz, so gehört sich das auch. Man hat Muße, das doch recht zahlreiche Publikum (80% etwa des Saales sind gefüllt) zu betrachten und trifft sogar Akteure einer mittlerweile renommierten Laienbühne der Radebeuler Nachbarstadt.
Jetzt setzt sich ein junger Faust (René Geisler) auf den heißen Stuhl, der alte geht ab. Aus einer wunderlich schwarzweißen Gesellschaft löst sich Gretchen, ganz in unschuldigem Weiß natürlich. Eine sehr lyrische Szene, ja, die mit dem „Arm und Geleit“, dann geht es schwungvoll zu Mephisto, dem ab sofort Dirnenbeschaffer. Faustens Schwärmen überzeugt jedoch nicht ganz.
Margarete, im Ballerina-Röckchen, singt schön in ihrem Zimmerchen und denkt an den fremden Herrn. Nach und nach wird sie aber übertönt von einer dramatischen Musik, gute Idee. Sie findet das von den Herren eingeschmuggelte Kästchen und entwickelt umgehend ein erotisches Verhältnis zur überdimensionalen Kette. So einfach geht das also.
Auftritt der Kupplerin Marthe (Julia Vincze), einsame Strohwitwe. „Mon coq et mort“ ist derzeit noch Wunschdenken. Aber Mephisto tut ihr den Gefallen und bringt die fro-, äh, traurige Botschaft. Grünewald ist hier ein großer Komödiant und wird mit einer Einladung zur Soireé belohnt. Ja, auch das Fräulein von nebenan wird dabei sein, und er darf noch einen Freund mitbringen.
Der Auftritt der jungen Dame ist eher eine Zuführung, noch sträubt sich Gretchen. Aber der Schaumwein tut das Seine. Die Veranstaltung pendelt dann zwischen Swingerparty und Veronascher Balkonszene. Aber irgendwie kriegen sich alle, jeweils auf ihre Art.
Faust und Gretchen sind fortan füreinander entflammt, und während sie dies am Spinnrade besingt (hier als Tanz im heimischen Käfig), geht er die Sache erst noch mal theoretisch an. Aber die Praxis hat die besseren Argumente.
Der alte Faust sieht mürrisch zu, er kennt das Ende ja.
Heinrich ist ein herzlich guter Mann, soviel ist klar. Aber die Gretchenfrage wird auch hier zwar liebevoll, doch nachdrücklich gestellt. Heinrich windet sich wie Tausend Fäuste vor ihm.
Ein gewisses Problem stellt übrigens über den ganzen zweiten Teil dar, dass Faust und Gretchen eher wie Romeo und Julia wirken. Da ist kein (Erfahrungs-) Gefälle, die eine ist so naiv wie der andere. Das beeinträchtigt die Geschichte doch ein bisschen.
Es kommt wie es bei Goethe beschrieben ist: Mephisto leistet Beihilfe zum Beischlaf, Faust zum Mord an der Mutter und Gretchen verliert die Unschuld und gewinnt Schuld. Auch wenn es hier anders klingt, es ist eine sehr poetische Szene, die die drei dort auf der Bühne haben. Bei Goethe wird das ja dezent beschwiegen, was in jener Nacht passiert, da muss die Dramaturgie schon was Eigenes finden. Dieses hier ist sehr gelungen.
Auch die Brunnenszene, wieder in großer Besetzung und mit umherhängenden Eimern, ist großartig. Der Auftritt von Valentin geht hingegen unter, seine Erdolchung durch das Doppel Faust/Mephisto ist kaum sichtbar.
Der alte Faust sieht inzwischen sehr nach Magengeschwür aus.
Die Dom-Szene entfällt, das ist auch nicht schlimm. Gretchen (Dörte Dreger) glänzt inzwischen auch so.
Es folgt der Höhepunkt der Inszenierung, die Walpurgisnacht. „I taking a ride with my best friend“, singt ein enthemmter Faust. Da ist richtig Leben auf der Bühne, eine Orgie reinsten Wassers wird zelebriert. Schöne, volle Bilder, zwei oder drei Leute mehr wären noch besser gewesen, aber man weiß ja um die knappen Ressourcen. Der Auftritt von Lilith bringt das Fest zum Kochen, allein dafür haben sich die zweimal 3,80 € (VVO, Preisstufe 2) gelohnt. Und die 15 € für die Eintrittskarte sowieso.
Unvermittelt erinnert sich Faust (den man überflüssigerweise hier der Damenwelt zugeordnet hat) an Gretchen. Da war doch noch was? Betreten löst sich die Fete auf, die Stimmung ist im Eimer.
Nun soll Mephisto schuld sein. Warum hast Du nicht …? Dass Herr Faust sich hätte auch mal selbst bemühen können um seine junge Gespielin, darauf kommt er nicht. Nun aber retten, was nicht mehr zu retten ist.
Übrigens – und da lehne ich mich weit aus dem Fenster meiner Souterrainwohnung, theaterwissenschaftlich gesehen – liegt für mich hier eine große dramaturgische Schwäche unseres Nationalepos. Wie kommt Faust von seinem glühenden Verlangen auf einmal zu einem völligen Vergessen des Gretchens über mindestens neun Monate hinweg? So schlecht kann der Sex doch nicht gewesen sein? (OK, das war albern, nehm ich zurück)
Mir ist das aber nicht plausibel, die Geschichte hakt an dieser Stelle. Dass Faust nicht der strahlende, strebende Held ist, als der er früher gerne dargestellt wurde, ist ja inzwischen Konsens, aber wie wird er zum egomanischen Mädchenverderber ohne Moral und Gewissen? Ist er das in sich drin schon immer? Aber wie zeigt sich das vorher? Rätselhaft. Hier sollte Herr v. Goethe nochmal nachbessern.
Zurück im Geschehen, das heißt jetzt im Kerker. Gretchen ist schon drüben, geistig gesehen. Jede Hilfe kommt zu spät. Dass das so ist, ist klar, aber wie es (von ihr) dargestellt wird, ist großartig. Dörte Dreger krönt ihre Leistung mit einer phantastischen Kerkerszene, und sieht dabei auch noch unglaublich gut aus. Eine schöne Frau kann halt auch der aufgeschminkte Wahnsinn nicht entstellen.
„Ist gerettet!“ als versöhnlicher Schlusssatz fehlt hier. Und das ist auch gut so. Woher sollte die Rettung denn kommen?
Freundlicher, langer Beifall, ohne Euphorie, aber zur Euphorie neigt man hier sicher ohnehin nicht.
Ich habe eine gute Inszenierung gesehen (die wenigen Schwachstellen hab ich oben beschrieben) und eine geschlossene Ensembleleistung. Dörte Dreger und Mario Grünewald ragten alles in allem heraus, was ich hier auch gern bescheinige.
Mein letztlich einzig ernsthafter Einwand: Die dramaturgische Idee, den Faust in alt und jung zu teilen, ist nachvollziehbar, wird aber nicht zu Ende gebracht. Dem Alten bleibt in der zweiten Hälfte nicht mehr als eine Beobachterrolle, der Junge kommt im ersten Teil nicht vor. Da wird viel Potential verschenkt.
Die Landesbühnen sind ein respektables (dank Kooperationen) All-Sparten-Haus, das manchmal vielleicht im medialen Schatten der großen Häuser der Nachbarstadt steht. Aber hier wird ein interessantes Programm geboten, nicht nur „für das Umland“, und eine Reduzierung auf die Felsenbühnen-Bespielung verbietet sich. Auch der verwöhnte Dresdner beiderlei Geschlechts sollte dem etwas Aufmerksamkeit widmen, in 25 Straßenbahnminuten ist man dort.
NOsterspaziergang
Vom Eise bedeckt sind Strom und Bäche |
Durch des Winters kühlen, gefrierenden Blick; |
Im Tale birst ein Schnüffelstück. |
Der junge Frühling, in seiner Schwäche, |
Zog sich in laue Gebäude zurück. |
Von dorther sendet er, greinend, nur |
Ohnmächtige Schauer trauriger Postings |
In Massen über die eisige Flur; |
Aber Knecht Rupprecht duldet nichts Heißes. |
Überall quält er Mensch wie auch Tier, |
Nur weiß gilt ihm als Farbe hier; |
Denn an Blumen fehlts im Revier, |
Gibt auch keine geputzte Menschen dafür. |
Kehre dich um, von diesen Höhen |
Nach der Stadt zurück zu sehen! |
Aus dem weiß glänzendem Tor |
Dringt der graue Schneematsch hervor. |
Jeder wärmte sich heute so gern. |
Sie weinen über die Vereisung des Herrn, |
Denn sie sind selber eingefroren, |
Aus schöner Häuser warmen Gemächern, |
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, |
Aus dem Schutz von Giebeln und Dächern, |
Aus der Straßen quirliger Menge, |
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht |
Sind sie alle in die Kälte gebracht. |
Sieh nur, sieh! wie mühsam sich die Menge |
Durch die Gärten und Felder zerschlägt, |
Wie der Fluß in Breit und Länge |
So manche dicke Eisscholl‘ bewegt, |
Und, bis zum Schornstein tief gefroren, |
Versinkt auch jener letzte Kahn. |
Selbst von des Berges fernen Pfaden |
Hört man die Eingeschneiten klagen. |
Ich sehe schon des Dorfes Schänke, |
Hier ist des Volkes letzte Tränke, |
Ermattet stöhnet groß und klein: |
Einst war ich Mensch, jetzt frier ich ein! |
Schön wärs, wenn man wollen würde was man tut
„Faust in uns“, Regie Andreas Neu, Theaterexperiment der Hochschule Zittau/Görlitz und des freien Theaterensembles Kunst.Bauer.Bühne sowie des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau am 27.02.13, letzte Vorstellung
Ein Trailer im Netz hat mich gelockt: Eine Faust-Inszenierung in ungewöhnlichem Ambiente, schwungvoll geschnittene Szenen, die neugierig machen. So fahre ich also in die ferne Provinz, im Bewusstsein, dass auch ich eine Art Provinz bewohne.
Der Zug nach Zittau ist gut gefüllt, es möge keiner behaupten, in der Oberlausitz wohnt keiner mehr. Nur mit dem Arbeiten ist es halt schlecht. Die Anzahl der benutzten smartphones übersteigt die der aufgeklappten Bücher beträchtlich, der Fortschritt ist auch hier angekommen. Aber ich höre vertraute Töne, es rrrulllt richtsch. Das Wort „Nato-Plane“ hab ich auch schon lang nicht gehört, man simpelt und facht über den Schutz der Automobile im Winter.
Sobald wir den Dresdner Kessel verlassen, wird es diesig, die Schneehöhe nimmt deutlich zu. Gelegentlich tauchen einige Häuser aus dem weißen Nebel, bis die Dämmerung alles verschluckt.
Warum ich mit dem Zug fahre? Man muss die Frage doch andersrum stellen: Warum fährt man nicht Zug? Im konkreten Fall fällt mir die Entscheidung angesichts der Wetterlage relativ leicht, zudem schafft nur Baron Münchhausen die Strecke in 1.25 h mit dem Auto. Gut, ich muss den letzten Zug um halb Elf kriegen, in Schiebock nochmal umsteigen, aber viertel Eins hat mich die Neustadt wieder. Wenn alles glatt geht.
Zum Thema:
Die Ankündigung des Stücks schlägt einen großen Bogen von der Überbevölkerung und dem immer mehr steigenden Ressourcenverbrauch, von den Grenzen des Wachstums und der unbeherrschbaren Ökonomie hin zur Aussage, dass „Faust … eine negative Figur“ wäre, „eine Karikatur des prometheischen Menschen“. Die Frage nach dem Faust in uns soll gestellt werden, und jene nach unserer Verantwortung in der heutigen Gesellschaft. Unterliegen auch wir dem Faustschen „Ruheverbot“? Sind wir überhaupt noch Herr unser selbst?
Eine Menge Holz, die da zu hacken sein wird.
Rein zufällig habe ich mit dem Thema ja momentan auch ein bisschen zu tun, bin deshalb natürlich besonders neugierig. Dass das Ganze im ehemaligen Labor der Elektrotechnik aufgeführt und von einem Wandflies zum Thema begleitet wird, komplettiert die Reihe von guten Gründen für meine Reise.
Ich hab die letzte Aufführung erwischt, die „Derniere“, wie ich inzwischen gelernt habe. Zehnmal wird es dann gelaufen sein. Nach Kritiken zum Stück zu suchen, hatte ich keine Lust bisher. Aber ich will mir ohnehin mein eigenes Bild machen. Dass das nun niemand mehr überprüfen kann, ist ja nicht meine Schuld.
Es ist noch Zeit bis zum Beginn, ich gönne mir einen Fußmarsch durch das Zentrum der Großen Kreisstadt Zittau. Oder ist es eher eine greise (Ex-) Großstadt? Gegen Sieben sind die Straßen verwaist, der Nebel drückt die wenigen Passanten nieder. Man könnte auch die Dreigroschenoper hier freiluft aufführen, auch wenn der Mond über Soho heute schlecht zu sehen ist, Mackie.
Eine Fußgänger-LSA (vulgo Ampel) am Theaterring (hörthört!) stoppt den spärlichen Menschenfluss, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Der Oberlausitzer hat noch Respekt vor der Obrigkeit. Meiner ist mir leider abhanden gekommen, ich quere die Straße und spüre empörte Blicke im Rücken.
Ehemals prächtige Fassaden säumen meinen Weg, Zittau war mal eine sehr reiche Stadt und gehörte zum Oberlausitzer Sechsstädtebund, einer Art Hanse. Die Substanz ist heute noch zu sehen, auch wenn die Fenster oftmals vernagelt sind.
Im Kino am Marktplatz gibt es „Stirb langsam“ im x-ten Aufguß. Nein, ich werde jetzt keinen blöden Witz im Zusammenhang mit Bevölkerungsentwicklung und regionalen Perspektiven reißen.
Schon vor geraumer Zeit gestorben ist das Kino „Schauburg“, jedoch gibt es Wiederbelebungsversuche. Leider ist es mir noch nicht gelungen, einmal dabei zu sein, die Dresdner Namensvetterin liegt halt doch günstiger.
Eine knappe Stunde vor Beginn treffe ich am Ereignisort ein. Ich fühl mich in die Studentenzeit zurückversetzt, endlos lange Flure, buntgesprenkelt durch Plakate jedweder Art, der Weg zu Faust ist ausgeschildert. Dann öffnet sich eine Tür, ja, hier wäre ich richtig, es sei ja noch Zeit, aber ich könne gern die Ausstellung ansehen. Und die Bar besuchen. Letzteres geht getreu dem alten Brecht vor.
Die freundliche Dame am Einlass nimmt meine zweite, übriggebliebene Karte zurück und will sie wieder verkaufen, was ihr auch gelingt. Ich bin positiv erschüttert. Die Oberlausitzerin ist freundlich, da merkt man immer wieder. Sympathische Gegend.
Das Zittauer Theater gehört übrigens nicht nur aus landsmännischen Gründen schon länger zu meinen Lieblingen, leider führen wir nur eine Fernbeziehung. Immerhin, eine sehr gute „Kabale und Liebe“ hab ich vor Jahren da gesehen, und an das „Kuckucksnest“ erinnere ich mich mit viel Freude. Und noch einiges mehr, enttäuscht bin ich eigentlich nie worden, auch, weil ich um die finanziellen Gegebenheiten des GHT weiß. Dass Tom Quaas dort inszeniert hat, freut mich sehr, leider habe ich das Stück nicht gesehen. Den fast alljährlichen Kampf um den Bestand des Hauses verfolge ich mit Sorge, dass das Haus nun saniert wurde, gibt ja immerhin ein bisschen Hoffnung auf eine langfristige Perspektive. Und die Premierenfeiern in der Villa Hirche sind um Einiges besser als das, was üblicherweise in Dresden stattfindet.
Nun aber dann doch schon zu dem, was wir sehen werden.
Der kluge Text auf dem Programmflyer ist dank seiner Ausführlichkeit dann doch plausibler als die wenigen Zeilen im Netz. Es wird auf den „Global Player Faust“ von Michael Jäger Bezug genommen, auf dessen Zweifel, ob das Streben an sich erstrebenswert ist angesichts der Folgen. Was ist denn so schlimm am Verweilen? Wenn jeder Ruhepunkt verschwunden ist, sind wir im Ewig-Leeren.
Auch Christoph Binswanger, der bereits in einem anderen Faust-Stück sich zum Thema Geld und der Gier danach äußert, wird zu „Geld und Magie“ zitiert. Die Schaffung des Papiergeldes, schon bei Goethe ein alchemistischer Vorgang, entkoppelt das Geld vom Gold und lädt förmlich ein, unsichere Wetten (da haben wir es wieder!) auf die Zukunft einzugehn.
Das Ambiente mit dem ehemaligen Labor der Fakultät Elektrotechnik darf man genial nennen. Der spröde Charme der Lehreinrichtung wird ergänzt durch Illuminationen und die Theatereinbauten. Die Bühne in ihrer Nüchternheit ist das ideale Podium für eine Sezierung des Faustschen Ansatzes.
Der Saal fasst etwa 150 Besucher, ca. zwei Drittel davon bevölkern ihn. Viel junges Volk, einige davon mit tschechischer oder polnischer Zunge, wir sind im Dreiländereck, angenehme Mischung. Die Getränke kann man mit reinnehmen, domestiziert durch die Dresdner Theater hab ich aus Unkenntnis mein Bier zuvor runtergestürzt. Naja, zur Pause weiß ich dann Bescheid.
Es beginnt etwas rätselhaft. Ein langes musikalisches Vorspiel, dann ein apokalyptischer Text. Faust ist in die heutige Arbeitswelt versetzt, eine Erzählerin beschreibt seine Qualen. Zumal auch das Koks alle ist, immerhin ist noch der Malt da. Burn out as usual, er ist kein Versager, nein, aber er ist tot. Der Wagner-Dialog wird von Pappnasen vorgetragen, Faust windet sich derweil im Krankenbett.
Mephisto, nein, Mephista erscheint, in Latex. Faust wettet, hätt ich auch gemacht.
Dann die Midlife-Crisis wieder im Fokus, ein Arzt mit Flasche beklagt die mangelnde Orientierung heute und erzählt uns seine HIV-Geschichte. Seele weg, alles weg.
Faust glänzt (nicht nur) durch eine beeindruckende Stimme und begibt sich in die Hexenküche, wo ihn eine propere Meerkatze sanft entkleidet. Der Zaubertrank kommt hier aus der Dose und verleiht Jugend. Als Helena muss Marylin herhalten, was ich dann doch etwas anmaßend finde. Hoffentlich werden die Götter nicht böse.
Mephisto sieht nun aus wie der selige Dirk Bach in schlank, beide tragen quietschbunte Hemden wie der Typ aus dem Fernsehen, dessen Namen ich mir zum Glück nicht merken kann.
Das Gretchen wird hier etwas anders kennengelernt, er solle doch „wieviel“ fragen, regt sie an. Faust mag es offenbar klassisch und verzieht sich erstmal.
Dann doch die Gretchenfrage. Eine prima Rollenverteilung, Grete flitzt wie ein Weberschiffchen zwischen den beiden Fäusten hin und her, die abwechselnd versuchen die Frage wegzudefinieren.
Wir springen in den Alltag und in das gefürchtete Beziehungsgespräch. Der Schlips bleibt zu kurz und Mann und Frau passen sowieso nicht zueinander. Köstlich, eine Aufwärtsspirale wie bei Loriot, unaufhaltsam bis zur Explosion. „Leben ist grundsätzlich anstrengend“, versucht er noch auszuweichen, aber sie liest seine Gedanken: „doch mit Dir ganz besonders“. Dabei wollten sie doch nur was gemeinsam unternehmen …
„Ich wäre schon froh, wenn ich immer das wollen würde, was ich tue“, in diesem schlichten Satz manifestiert sich seine Wunschlosigkeit und gesellschaftliche Kompatibilität.
Vor der Pause noch ein Ärgernis, eine Talkshow-Persiflage über die Ratlosigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, die leider nicht über Kabarettniveau hinausgeht. Ein Klischee-Stadel, plakativ und verzichtbar die Szene.
Es beginnt wieder mit einem bitteren, sprachgewaltigen Monolog namens Entropie, der dankenswerterweise auf Zettelchen ausliegt. In der Kerkerszene am Ende von Faust I wird sein Text durch Strophen aus Faust II ersetzt, was einen schönen Effekt gibt, Grete und Heinrich reden aneinander vorbei, sie erzählt von Zweisamkeit, er von der großen ganzen Welt. Da ist auch nichts mehr zu retten.
Kofferträger im Gleichschritt leiten zum Kaiser über, der immer nur Gejammer hört. Es fehlt an Geld? „So schaff es denn!“ Des Kaisers Skepsis weicht, als das von Faust/Mephisto „ausgegrabene“ Papiergeld seinen Jecken wohl gefällt und sie zum Konsum anreizt. (Papier-) Geld wird durch Glauben zu Gold.
Wachstum! Wachstum! Noch mehr Wachstum!
Ein sehr guter Dialog zwischen Kaiser und Faust übrigens.
Dann eine Fotosequenz, in blitzartiger Folge werden Bilder von Herrschern und Sonstigen mit Schlag-Halbsätzen kombiniert. Ich erkenne immerhin George W. mit Lügnernase, kann ansonsten aber damit nicht viel anfangen. Das kommt mir zu bedeutungsschwer daher.
Am Ende ist Faust glücklich. Sagt er zumindest, aber so richtig sitzt der neue Text noch nicht. Doch er macht gute Fortschritte, sagt die Therapeutin.
Man muss sich das vorstellen wie in Clockwork Orange, was von den Toten Hosen so kongenial vertont wurde. Alex ist jetzt ein guter Bürger, ein neuer Mensch und systemkonform, die Gehirnwäsche hat funktioniert.
Der Darsteller des Faust (leider sind die Namen nicht den Rollen zuordenbar) hier mit seiner besten Leistung, sehr beklemmender Monolog.
Ein beeindruckendes, aussagekräftiges Schlussbild, dann Dunkelheit, dann Stille.
Herzlicher Applaus, an dem ich mich leider nur kurz beteiligen kann, der Zug wartet nicht. Nach einem straffen Marsch durch die verwaiste Innenstadt treffe ich rechtzeitig am Bahnhof ein, und neunzig Minuten später in Dresden, der Text ist inzwischen fertig.
Ein interessantes Stück, das ich empfehlen würde, wenn es nochmal käme. Eine gute Ensembleleistung, ein passendes Ambiente, ein Theatererlebnis, wie es sein soll. Ich hab den Ausflug nicht bereut.
Nur schade, ich hätte gern früher der geneigten Öffentlichkeit hiervon berichtet. So bleibt mir nur diese postume Würdigung und der Vorsatz, die Projekte der Kunst.Bauer.Bühne künftig aufmerksam zu verfolgen.