Faust – Macht – Kopf
Unvollendete Gedanken zum Faust
Die wenigsten unter uns werden es wissen (nicht jeder kann ein Eisenbahner sein): „Kopf machen“ bedeutet, die Richtung völlig umzukehren oder zumindest deutlich zu ändern. Ein Zug macht Kopf, wenn er in einen „Sack“-Bahnhof hinein- und wieder hinausfährt. „Sack“ bezieht sich dabei nicht auf die physische Beschaffenheit der bahnhofstypischen Anlagen, sondern auf die Tatsache, dass es am Ende eines Sackes gewöhnlich nicht mehr weitergeht, solange jener intakt ist.
Nachdenken ist dabei erst einmal nicht gemeint.
A Der klassische Faust I als Kurzform in Zitaten und Assoziationen:
1. Verwirren, nicht befriedigen!
2. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
3. Die Kunst ist lang. Und kurz das Leben.
4. Dem Wurme gleiche ich und nicht den Göttern.
5. Ein verfrühter Abgang wird durch Glockengeläut verhindert
6. Botschaft hören, Glaube vermissen, Erde ihn wiederhabend
7. Zwei Seelen, ach, in meiner Brust, die eine will sich trennen
8. Ich bin ein Teil von jener Kraft …
9. Zu alt um nur zu spielen, zu jung um ohne Wunsch zu sein
10. Wenn wir uns drüben wiederfinden, sollst Du mir das Gleiche tun
11. „Augenblick, verweile doch“ … Dann wär’s vorbei
12. Blut ist ein besonderer Saft
13. Die Kraft ist schwach doch die Lust ist groß
14. Hexen – Einsdurcheins
15. Der Helena-Trunk
16. Arm und Geleit angetragen und abgelehnt
17. Verliebter Tor … Beginn des Abwegs
18. Was so ein Mann nicht alles denken kann
19. Ihre Ruh ist hin, ihr Herz ist schwer, … Und ach, sein Kuss!
20. Wie hasst Du? Es? Mit der Religion?
21. Duckt er da, duckt er sonst auch.
22. Fortgang selber denken.
23. Tod und Tod. Und Tod. Der Soldat als Hüter der Moral fällt.
24. (theoret.: Religion als Disziplinierung und Machtsicherung)
25. Walpurgisfatsche, Gretchenvision, Faust bereut ein bisschen.
26. Kerker. Grete ist schon auf dem nächsten Level, zu spät für die Rettung. Es graut ihr ohnehin vorm Heinrich.
27. Die Zweier-Karawane zieht weiter.
B Das meint?
(Man kann den Faust heutiger machen, aber sicher nicht besser. Nur, wenn man ihn nicht heutiger machen würde, wäre er deutlich schlechter.)
Faust macht also Kopf, nachdem er sich nen Kopf gemacht hat, dreht sein Leben um mit Hilfe von Mephisto.
Gretchen ist anfangs keine Gescheiterte. Aber sie wird durch Faust zu einer.
Mephisto ist dabei der hilfreiche Geist, der tut das aber nicht für lau. Faust darf nun nie glücklich werden, sonst ist seine Seele verloren
Und wenn schon. Wer braucht nach dem Tode noch seine Seele?
Faust und Mephisto sind natürlich dieselbe Person.
C Und jetzt?
Der Faust am Anfang ist heute vielleicht
• der erfolgreiche Geschäftsmann mit Selbstzweifeln und einem modischen Burnout, gelangweilt vom Wohlstand, auf der Suche nach dem Kick und nach dem Sinn
• der hochgelobte Schriftsteller, der doch weiß, dass seine Bücher nicht mehr sind als gequirlte Kacke, der den Literaturbetrieb hasst, aber das Einkommen daraus schätzt
• der Gentechniker, der weiß, dass er seine Züchtungen irgendwann nicht mehr beherrschen wird, aber diesen Gedanken im Forschungs- und Erfolgsrausch immer wieder verdrängt
• der Volkspartei-Politiker, der lange schon ahnt, dass seine einfachen Antworten nicht ausreichen, um die komplizierten Fragen zu beantworten, sich aber weiter in Macht und Anerkennung suhlt, weil er zu feige ist, die Wahrheit zu sagen
• der Professor, der routiniert seine Theorien verkündet, obwohl er schon lange nicht mehr daran glaubt, der gerne nochmal von vorn anfangen würde, aber zu viele Verpflichtungen hat
• … also im Prinzip jeder, der sich auf dem falschen Weg fühlt, sich aber nicht traut, die Richtung zu ändern
Mephisto?
Kann der Dealer sein, die Luxushure, der Schamane, das Delirium.
Er ist aber immer das Spiegelbild, die dunkle Seite des Faust.
Aber … gibt es Mephisto überhaupt?
Nein. Er ist nur ein Produkt der überreizten Phantasie von Faust, seine erdachte Legitimation zum Grenzübertritt. Eine Kopfgeburt im wahren Sinne, ein Homunkulus des Faust. Alles Böse, alles Dunkle ist doch in Faust schon drin, er braucht keinen Teufel, nur einen Anstoß, einen Katalysator, einen Vorwand. Und dann zieht er los, was kostet die Welt? Sie gehört doch sowieso schon mir. Das Glück ist auf der Seite des Tüchtigen.
Wo gehobelt wird, fallen Späne, wo verführt, Jungfrauen. Wo die Kraft des Meeres gebändigt werden soll, sind kleine Leute und ihr Häuschen fehl am Platze.
Mit uns zieht die neue Zeit … Es möge sich besser keiner in den Weg stellen.
…
Übrigens:
Gibt es Gott? Nicht den Arne aus dem Radio, sondern Gott?
Wenn es Gott gibt, muss es dann einen Teufel geben? Und wenn es keinen Gott gibt, kann es dann einen Teufel geben? (Auch in „Der Meister und Margherita“ wird das nicht endgültig geklärt.)
Und „Faust“ heute? Der Name ist meist härter als sein Träger.
Faust oder Fäustling? Oder auch Faustan? Das ist hier die Frage, Hamlet.
(Lustig, gerade eben, als ich das schreibe, sitzt das Gretchen aus der letzten „richtigen“ Faust-Inszenierung in Dresden am selben Tresen im Thalia.)
Danke für diesen Beitrag! Besonders gefallen mir die Beispiele, in wem sich der Faust vom Anfang heutzutage spiegelt.
Faust und Mephisto als dieselbe Person: ja. Diese Sichtweise empfinde ich für den eigenen Weg als hilfreich. So kann man aufhören, Versuchungen, Feinde, … primär im Außen zu sehen, und sich mehr nach innen, auf den eigenen Zustand richten.
Zu den Fragen nach Gott und dem Teufel: Ich verstehe den Faust pantheistisch und meine damit: Es gibt einen absolut guten Gott, der alles umfasst und auf seiner Ebene keinen Gegenspieler hat. Ein absolut Böses gibt es nicht. Auf der ungöttlichen Erde gibt es hingegen das Wechselspiel des relativ Guten und des relativ Bösen – zwei Seiten einer Medaille. Ob gut oder böse – früher oder später führen alle Wege zum absoluten Ursprung zurück: „Ich bin ein Teil von jener Kraft …“