Mensch-erinnere-dich-nicht


„Weiße Flecken“, ein Theaterstück über Demenz von Tobias Rausch, Co-Regie Matthias Reichwald, Produktion der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden, gesehen am 4. Januar 2014

  

Ich gestehe, ich hatte Manschetten vorher. Das Thema Demenz im Besonderen und Pflege bzw. stetig alternde Gesellschaft im Allgemeinen ist so beschaffen, dass man sich auch leicht verheben kann daran. Und ich bin der Bürgerbühne mehr als freundschaftlich verbunden, ein solches Fazit hätte mir leid getan.

Doch mitnichten: Mal wieder sieht man ein erstklassiges Stück Gegenwartstheater und bekommt eindrucksvoll den Mehrwert dieser speziellen Institution „Bürgerbühne“ vorgeführt.

 Ein Revival des Bürgerchors am Anfang, zahlenmäßig geringer, aber so präzise wie jener von Volker Lösch in den „Webern“, jener nach der Premiere zwangskastrierten Fassung aus 2005 (?). Große Wiedersehensfreude mit dieser Art von Theater, das fehlte mir in den letzten Jahren ein wenig.

Die von mir gewohnte Form der Nacherzählung des Stückes hat hier wenig Sinn, es gibt zwar eine (fiktive) Rahmenhandlung um den demenzkranken Heimbewohner Klaus T., doch wichtiger sind die eingewobenen fünf Krankheitsbiographien, die fast alle Blickwinkel abdecken, sowie die künstlerische Aufarbeitung der zahlreichen Interviews, die das Rechercheteam um Katharina Wessel im Bereich „der Pflege“ führte.

 Man erfährt so einiges, was man mit dem Thema bislang gottlob nicht Befasster noch nicht wusste: Der erzwungene Abschied vom Autofahren läutet das Ende ein. Man kann auch die letzten sechs Jahre seines Lebens schweigen. Erst, wenn man (gar) nicht mehr merkt, dass man dement ist, wird das Leben wieder erträglich. Ob man Mann/Frau oder Kinder noch erkennt, ist Glückssache, kein Krankheitsverlauf gleicht dem anderen. Aggression ist im Alter wieder ein Thema. Und Vereinsamung einer der Auslöser für Demenz. Gingko hilft. Ein bisschen.

 Außerdem lernt man den Minutenwalzer der Pflegedienste kennen, muss überlegen, was ein Pflegeheim vom Knast unterscheidet (der Freiheitsbegriff wird hier über ein Absturzgitter am Bett, die Art der Türklinke und die konkrete Medikamentierung definiert), erfährt, dass man mit einer hohen Pflegestufe durchaus noch Rasen mähen kann, aber sich nicht dabei erwischen lassen sollte und im Heim für Individualität kein Platz ist, das Raster ist unerbittlich.

Man sieht eine Welt der permanenten Überforderung sowohl der Angehörigen als auch des Pflegepersonals und ist beunruhigt, wenn man die Zahlen hört: Das ist erst der Anfang. Heute gibt es in Deutschland 1,3 Mio. Demenzkranke, 2040 werden es 2 Mio. sein (bei sinkendem Pflegeversicherungsaufkommen). Schon 2025 werden über 100.000 Beschäftigte in Pflegeberufen fehlen … Noch viele andere Fakten stehen im erstklassigen Programmheft. Also noch ein kollabierendes System, neben Rente, Sozialstaat, Umwelt und Was-weiß-ich. Schön ist es, auf der Welt zu sein, nicht vergessen, liebe Nachfahren.

 Klaus T. in seiner Zweimannzelle kümmert das wenig. Im Heim („Ach was, Heim, quasi ein Hotel …“ wie es in anderen Fällen vorher heißt) ist es immer halb vier, man kann Fluchtpläne schmieden (im Wäschewagen rausschmuggeln lassen mit Hilfe der niedlichen Praktikantin) und die Menschenrechte sind mit „sauber, satt, still“ hinreichend beschrieben. Man kann in seinen Erinnerungen leben, auch wenn es vielleicht nicht die eigenen sind, aber das ist doch egal, solange sie schön sind. Und so erscheint auch die verlorene Tochter wieder und versöhnt sich mit ihm. Bald holt sie ihn hier raus, ganz sicher.

Wie kommt so einer ins Heim? Geschieden, allein lebend, dem Alltag nicht mehr gewachsen, die Nachbarn haben sich beschwert, als der Gestank unerträglich wurde. „Über soziale Kontakte ist nichts bekannt“ heißt es in der Akte, mit der das Sozialamt den Umzug verfügt. Und nun der liebe Opa Hampelmampel, der nur manchmal die Pflegerin als Hampelschlampe beschimpft. Doch dagegen gibt es die Medikamente.

 Es ist ein besonderer Kreislauf des Lebens, am Ende ist man so hilflos wie am Anfang, nur die Perspektive ist eine andere. „Wenn er/sie doch endlich sterben würde“, wagt ein pflegender Angehöriger kaum zu denken, im Heim sieht das anders aus: Ab einer gewissen Pflegestufe ist es ein Geschäft, das Etwas hier am Leben zu halten.

MUSS man pflegen als Kind seiner dementen Eltern? Gibt es einen moralischen Imperativ dafür, auch wenn man das nicht leisten KANN? Das Stück wagt sich auch an diese Frage, ohne sie endgültig beantworten zu können.

 Ein Ausflug in die Zukunft, „Pflege-Drohnen“ der neuesten Bauart in 2030. Die mit dem Empathie-Modul scheint noch nicht ausgereift, sie steht unter Kontakturverdacht und muss zurück ins Werk, zum Nachbessern. Und dem „Pflege-Kunden“ wird ein ewiges 2013 vorgegaukelt, fast wie in „Good bye Lenin“.

Stabilität ist wichtig, bei Bauwerken wie beim Menschen, doch nur bei ersteren hilft Gesundbeten. Manchmal.

Klaus T. hat noch auf irgendwas gewartet, etwas, das nur in seinem Kopf stattfindet. Am Ende stirbt er doch. „Sozialverträgliches Ableben“ nennt man das wohl.

 

 Das ist keine Laientruppe, die hier spielt, es sind Profis der anderen Art, „Experten des Alltags“, wie es treffend in der Selbstbeschreibung der Bürgerbühne heißt. Getragen von einem kongenialen Text, treffen sie den Nerv des Publikums. Hier wird keiner der Beteiligten des „Systems Pflege“ denunziert oder vorgeführt, es sind die nackten Fakten, die einen dicht ans Augenwasser bringen. Eines der schmerzlichsten Themen der Gesellschaft wird hier verhandelt, eines, was man nicht den Dokutainments des Fernsehens überlassen kann. Genau dazu ist Theater da.

Dieses Stück macht keine gute Laune. „Nichts für Sonnabend-Abend“, wie meine Mutter (die übrigens im letzten Jahr siebzig wurde) vielleicht sagen würde. Aber eines für alle anderen Abende.

 Was bleibt noch zu erwähnen? Klara und Maria Wördemann sind in einer klassischen Doppel-Rolle zu sehen, mit dem besten Zwillingsgag, den ich je auf der Bühne sah. Albrecht Goette in seiner maßgeschneiderten Rolle ist unglaublich berührend. Christine Lehmann, Dagmar Michel, Iris Haubold, Karl-Heinz Kind und Charlotte Runck erzählen ergreifende Geschichten, sind aber auch schauspielerisch beeindruckend. Und der Chor der Anderen ist exakt eingestellt und unglaublich präzise im Zusammenspiel. Bühne (Jelena Nagorni) und Kostüme (Cornelia Kahlert) sind unaufdringlich gut und geben den passenden Raum.

Danke dafür.

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