Kategorie: Verkehr
Von fahrlässig kann keine Rede sein
Die aktuellen Fakten zur Albertbrücken-Sanierung
Drei Tage ist es nun her, dass der Dresdner Stadtrat (mit einem Unentschieden) das laufende Projekt zur Sanierung der Albertbrücke gestoppt und eine Neuplanung mit durchgängiger Befahrbarkeit für den Kfz-Verkehr während der Bauzeit der Verwaltung aufgetragen hat. Meine heiße Wut hat sich in kalte verwandelt, und mit diesem Schwung will ich den Menschen außerhalb Dresdens erklären, was hier eigentlich los ist.
Die Albertbrücke, ein historisches Bauwerk mit Sandsteingewölben, verbindet seit 1877 die Dresdner Stadtteile Johannstadt und Neustadt. Sie quert dabei die Bundeswasserstraße Elbe und einen knapp hundert Meter breiten Überflutungsbereich. Eine grundhafte Sanierung hat sie nie erfahren, der letzte Prüfbericht wies die Zustandsklasse 4 (5 bedeutet einsturzgefährdet und sofort zu sperren) aus, wobei diese Note nur erteilt wurde, weil zum Zeitpunkt der Prüfung von einer Sanierung ab September 2013 ausgegangen wurde.
Die Erneuerung wird seit Jahren vorbereitet, wozu in 2011 auch eine Hilfsbrücke für Fußgänger und Radfahrer errichtet wurde. Die Fußwege des Bestandsbauwerks sind seitdem gesperrt. Dass auch diese Hilfsbrücke dank ihrer Billigstbauweise von Anfang an umstritten war, sei nur am Rande vermerkt. Interessant aber das Argument von damals, dass die Hilfsbrücke ja ohnehin nur zwei Jahre stehen solle. Diese sind inzwischen fast um, aber ein Nutzungsende ist nicht (mehr) absehbar.
Die planerisch fertiggestellte, ausgeschriebene und inzwischen vergabereife Variante des Baus sah vor, innerhalb einer 21monatigen Bauzeit die Brücke komplett für den Kfz-Verkehr zu sperren und lediglich die Straßenbahn eingleisig durch das Baufeld zu führen. Mit der vierstreifigen Carolabrücke und der zum Baubeginn in Betrieb befindlichen Waldschlösschenbrücke hätten dabei zwei leistungsfähige Umleitungstrassen für den Individualverkehr zur Verfügung gestanden.
Ende Mai 2013 zog Frau OB Orosz plötzlich den Planfeststellungsbeschluss zur Behelfsbrücke hervor und wollte daraus lesen, dass man die Albertbrücke gar nicht für den Kfz-Verkehr sperren dürfe. Was Frau Orosz von Beruf ist, weiß ich leider nicht, aber mit der Juristerei kann es nicht zu tun haben. Nach einigen Tagen verschwand das Thema wieder von der Bildfläche, aus heutiger Sicht muss man den Vorstoß als versuchten Bluff bezeichnen.
Doch man (eine informelle Koalition aus FDP, CDU und anderen Autorechtsaktivisten) hielt am Ziel fest, das Projekt zu kippen und besann sich seiner Machtmittel. Ein ersten Vorstoß im Stadtrat konnte noch knapp abgewehrt werden, woraufhin Frau Orosz ihr Veto einlegte und eine Neuabstimmung erzwang. Dabei fiel nun ein „freier Wähler“ (Franz-Josef Fischer, man muss sich den Namen aber nicht merken) um, damit wieder Unentschieden, diesmal aber zugunsten Zastrow (FDP-Bundesvize, MdL und Stadtrat) & Co..
Es wird nun also nicht gebaut ab September, es ist neu zu planen. Die geschlossenen Verträge für Bauüberwachung, Bauoberleitung und diverse Nebengewerke sind aufzulösen, die Bau-Ausschreibung ist aufzuheben (die bietenden Firmen haben laut Vergaberecht Anspruch auf Ersatz ihrer Kosten) und irgendwann neu zu veröffentlichen. Mit viel Glück verzögert sich der Baustart nur um ein Jahr, allerdings dauert das Ganze dann auch nochmal mindestens sieben Monate länger.
Das Straßen- und Tiefbauamt hat nun das Problembauwerk noch ein weiteres Jahr in der Unterhaltslast und freut sich sicher schon auf den nächsten Winter. Um die Verkehrssicherungspflicht auf und (vor allem) unter der Brücke beneide ich niemanden.
Das Hauptargument neben der „unzumutbaren“ Straßensperrung waren bislang immer die Kosten. Nach den aktuellen Zahlen betragen die Baukosten in der „Straßenbahnvariante“ 25,4 Mio. Euro, bei der „Auto-Variante“ hingegen 28,7 Mio. Euro. Ja, man liest richtig, die zweite Variante ist 3,3 Mio. Euro teuerer.
Spinnen die, die Dresdner? Nicht, wenn man einer sehr speziellen Haushaltslogik folgt: Für die „Auto-Variante“ hat das FDP-geführte Wirtschafts- und Verkehrsministerium des Freistaats 90% Förderung „“in Aussicht gestellt“, für die andere lediglich 75%. Unabhängig davon, wie verbindlich diese Ankündigung sein mag (es existiert m.W. nicht mal ein Schreiben des SMWAV dazu) und wie sich die Mehrheitsverhältnisse Ende 2014 im Landtag gestalten, hat man offenbar zum Taschenrechner gegriffen und ausgerechnet, dass die Landeshauptstadt (!) Dresden einen um 3,5 Mio. Euro geringeren Eigenanteil tragen müsse, wenn man autogerecht baut.
Zwar ist es seit Jahrhunderten Tradition in Sachsen, dass in Chemnitz erarbeitet, in Leipzig gehandelt und in Dresden verprasst wird, aber muss man das denn so deutlich zeigen? Nein, die „ersparten“ 3,5 Mio. fallen nicht vom Himmel, sondern kommen aus dem Haushalt des Freistaats, der von seinem Steuervolk (übrigens auch dem Dresdner) gespeist wird, neben den Transferleistungen u.a. aus wirtschaftlich so starken Regionen wie dem Ruhrgebiet oder Nordhessen.
Wie schamlos muss man sein, das seinem Wahlvolk als kluge Politik zu verkaufen? Besitzen die Damen und Herren ein Grundgesetz? Und haben sie es auch gelesen? Und waren sie bei ihrem Amtseid auch geistig anwesend?
Nochmal im Klartext: Die LH Dresden greift unter Beihilfe eines FDP-Ministers (Sven Morlok, auch das lohnt nicht zu merken) tief ins sächsische Steuersäckel und entzieht dem Gemeinwesen aus wahltaktischen Gründen dreieinhalb Millionen Euro. Nicht anders kann man die Motivation bezeichnen, nachdem sich Zastrow et al. derart weit hinauslehnten im Vorfeld, dass die CDU sie nicht mehr fallenlassen konnte und wollte. De facto werden Stadt und Land also von einer kleinen Gruppe bekennender Egoisten regiert, deren Stimmen für den Machterhalt der CDU zu wichtig sind, als ihnen solche kleinen Wünsche abzuschlagen.
Nach der Klatsche im Pfarrer-König-Prozess hätte die Staatsanwaltschaft hier eine gute Gelegenheit, verlorene Reputation zurückzugewinnen und zu beweisen, dass der Freistaat Sachsen keine Bananenrepublik ist.
Aber wie geht es nun weiter?
• Die beteiligten Ingenieurbüros freuen sich über einen lukrativen Anschlussauftrag und schreddern die alten Pläne.
• Die beauftragte Bauüberwachungsfirma lässt sich entschädigen.
• Der städtische Brückenmeister meldet einen Haushaltsmehrbedarf an oder lässt sich gleich pensionieren.
• Die Sächsische Bau GmbH, die Fa. Hentschke und andere schicken Rechnungen über verlorene Kalkulationsaufwendungen an die Stadt (wenn sie sich trauen).
• Die Kapitäne der „Weißen Flotte“ fahren nur noch mit Helm unter der Brücke durch, das (Bundes-) Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt stellt sich auf eine Vollsperrung der Elbe ein, Bundesverkehrsminister Ramsauer (oder wer immer dann im Amt sein wird) ist not amused.
• Falls auch die Straßenfahrbahn der Brücke gesperrt wird, bemerkt man mit Erstaunen, dass die benachbarten Brücken ohne Weiteres die Verkehrsmenge aufnehmen können.
• Nur die DVB hat dann die A-Karte, der Busnotverkehr kostet Millionen.
• Es wird eine umgehende Sanierung unter Totalsperrung angeordnet, die wegen der Beschleunigungskosten und einer in diesem Falle denkbaren freihändigen Vergabe am Ende mehr als 30 Mio. Euro kosten wird.
Selbst wenn nicht jeder dieser Punkte eintritt: Schon wenige davon reichen aus, um selbst den Pseudo-Vorteil für die Stadt Dresden hinfällig werden zu lassen. Und der Verlierer steht von vornherein fest: Die Gesellschaft.
Zur Untersetzung: Die DVB beziffert ihre Mehraufwendungen bislang mit 1,6 Mio. Euro, Geld, das im Rahmen der Querfinanzierung von den Technischen Werken Dresden kommen wird, einer 100%-Tochter der Stadt Dresden. In den Aufsichtsräten dieser Gesellschaften sitzen neben OB Orosz noch einige, die am Zustandekommen dieser Entscheidung beteiligt waren und sich nun fragen lassen müssen, ob sie sich nicht im Sinne des Aktiengesetzes strafbar gemacht haben. Aufsichtsräte sind dazu da, Schaden vom Unternehmen abzuwenden und nicht diesem in die Tasche zu greifen …
Der Landesrechnungshof des Freistaats Sachsen ist als akribische Prüfstelle bekannt, fast berüchtigt. Es ist zu hoffen, dass diese Vorgänge in Chemnitz nicht unbeobachtet bleiben.
Es fällt mir schwer, ein einigermaßen sachliches Fazit zu ziehen. Ein unglaublicher Vorgang ist zu konstatieren, der drastisch beleuchtet, wie die Regierungsparteien in Sachsen mit ihrer Verantwortung umgehen und dem Gemeinwohl schaden.
Von Fahrlässigkeit kann dabei keine Rede sein, ich plädiere auf Vorsatz.
Une petite Marseillaise.
Fünf Tage in Marseille, man hat was zu erzählen.
Le premier jour
Reisen kann durchaus angenehm sein. Zum Beispiel, wenn man im Obergeschoss des TGV in einem bequemen Sessel lümmelt, die südfranzösische Landschaft an sich vorbeiziehen lässt und im Reiseführer blättert. Um nichts in der Welt hätte ich fliegen wollen (die Frage nach dem Auto stellte sich erst gar nicht). Acht Uhr morgens in meinem Quartier abgefahren, noch vor zehn Uhr abends die mediterrane Abendluft gespürt. Ein Tag zum Reisen halt, nicht contre la montre, sondern so, dass die Seele noch mithalten kann.
Marseille also.
Purer Zufall, dass es mich jetzt wieder in die Stadt verschlägt, die ich vor zwanzig Jahren schonmal kurz besuchte, als ich für einen Sprachkurs bei der feindlichen Cousine Aix weilte. Aber ein schöner Zufall.
Unentschlossen zwischen den Schönen und aufregenden Städten in Europa, hätte ich wohl ewig zwischen Istanbul und Barcelona, zwischen Rom und Stockholm und zwischen Athen und Lissabon hin und her geschwankt. Eine sollte es sein in diesem Jahr, mindestens.
Nun entschied man also für mich, und ich folgte dankbar.
In der Hektik der letzten Tage vor der Abreise – die mich dann auch noch den Nachtschlaf kosteten, den ich notdürftig im Zug ab Dresden nachholte – hatte ich es versäumt, mir eine grobe Karte der Region, die ich durchfahren würde zu besorgen. Geographisch war ich bislang in anderen Gegenden zuhause, die „hier unten“ sagten mir nicht viel. Strassbourg am Rhein und im Elsass, OK, aber dann fällt die landschaftliche Zuordnung schon schwer. … Mulhouse in der Bourgogne? Hier kämpf ich grad mächtig mit dem Schlaf, die Klärung entfällt.
Lyon an der … Rhone? Keine Ahnung. Aber schön gelegen auf jeden Fall. Und interessante Gebäude, neue wie alte. „Part-Dieu“ heißt der Bahnhof. Teil-Gott (wie Teil-Auto)? Gottesteil? Halbtagsgott? Mein Französisch ist nicht wirklich verhandlungssicher.
Noch knapp zwei Stunden Fahrt. Heute ist Feiertag in Frankreich, hab ich grad bemerkt. Der 8. Mai, wie früher bei uns, auch aus demselben Grund. Das ist schon mal sehr sympathisch. Warum wird das in Deutschland eigentlich nicht mehr mit einem freien Tag begangen? Ach ja, die Weltmarktfähigkeit.
Morgen dagegen kommen wir zu etwas völlig anderem, Himmelfahrt, l’Ascension, wie das hier heißt. Nur am Freitag ist leider nichts.
Während ich so sinniere, breche ich nebenbei meinen eigenen erdgebundenen Geschwindigkeitsrekord. 298 „Ka-Emm pro Ha“, wie wir Experten sagen, wenn wir uns als solche ausweisen wollen. Und dabei ein Fahrverhalten, dass mich angesichts des hohen Schwerpunkts des Doppelstöckers staunen lässt: Das Ding liegt wie ein Brett auf der Schiene.
Kommen wir wieder zu etwas ganz anderem. Meine erste Begegnung mit der französischen Gastronomie findet zwangsläufig an Bord statt. In meinem Paketpreis war außer dem 1. Klasse – Sitz (was angesichts acht Stunden Fahrt und meiner Überlänge eher Notwendigkeit als Luxus ist) auch ein Imbiss enthalten, zur Selbstabholung. Ich schlängele mich also vom Wagen 1, den ich bewohne, durch die fast voll besetzten anderen beiden Erstklasswagen zum Bistro, bemerke dabei, dass man nur oben durchlaufen kann und stehe dann in einem zweckmäßig eingerichteten Raum ohne großes Brimborium. Man versucht gar nicht erst, einen auf frisch gekocht etc. zu machen, das Angebot kommt aus der Dose, Plasteflasche oder ist eingeschweißt. Aber das ist OK, man sollte bei der Zuggastronomie ohnehin die Kirche im Dorf und die Edelköche in ihren Chalets lassen. Mein Menü ist übersichtlich, aber schmackhaft, und ich darf mir einen Rosé dazu wählen. Noch ein Dreieckssandwich – doch deutlich teurer als bei der DB – und ich trolle mich mit einem niedlichen Pappbeutel in meinen Wagen. Auf der Tüte ist grob die Reiseroute dieses TGV von DB und SNCF dargestellt, Paris wird zwar nicht angefahren, muss aber natürlich mit drauf sein.
Die Berge links und rechts werden höher, riesige Brückenbauwerke für die Eisenbahn, nächster Halt Avignon. Ein Bahnhof in luftiger Höhe. Ich assoziiere Papst, Spatz und Helmfrisur, verfolge die Gedanken aber nicht weiter.
Die Unterwegshalte dauern generell meist länger als beim ICE, ein Zeichen dafür, dass man die berechneten Fahrzeiten in Frankreich etwas großzügiger bemisst. Auch so kann man etwas für die Pünktlichkeit tun.
Gelegentlich sind in der Landschaft große Kühltürme versteckt. Frankreich ist auch das Land der Atomenergie. Die sehr niedrigen und kleinen Windräder wirken dagegen eher niedlich. Die deutsche Debatte um den Ausstieg steht den Franzosen sicher noch bevor. Ohne überheblich zu sein: Manche Dinge gehen rechtsrheinisch einfach schneller, die Berge von Verpackungsmüll, die ich aus den Neunzigern von hier noch in Erinnerung habe, sind heute so sicher auch nicht mehr da.
Nun ist es fast völlig dunkel. Ich presse meine Stirn an die Scheibe, aber es sind nur Schemen zu erkennen. Einige Steinbrüche kann ich noch ausmachen, der schneeweiße Kalkstein scheint begehrt zu sein.
Es geht noch schneller: 315 km/h. Korrekterweise muss ich natürlich sofort an die Energiebilanz denken, aber geil isses schon. On roule …
Aix, ach ja. Aix-en-Provence, so viel Zeit muss sein. Als Student quälte ich mich bei gefühlt 40 Grad durch einen vierwöchigen Sprachkurs hier, aber schön war es trotzdem. Die Ausflüge nach Arles, in die Gorges, in die Höhlen … und die Promenade von Aix. Da muss ich unbedingt nochmal hin.
Den futuristisch-schönen TGV-Bahnhof gab es damals noch nicht, wer mit dem Zug nach Aix wollte, musste über Marseille fahren. Das wird den Aix’ern nicht gefallen haben.
Hier stoße ich auch zum ersten Mal auf „Marseille-Provence 2013 capitale européenne de la culture“. Bisschen sperring vielleicht, aber ordentlich ausgesprochen klingt das nach was. Wobei ein FAZ-Speciàl von voriger Woche mir soufflierte, dass man in Aix der Meinung sei, das gar nicht nötig zu haben und nur pro forma mitmache. Na ja, on verra.
Das Ziel kommt näher, nous arrivons à Marseille-St. Charles … Fünf Tage Zeit, eine Stadt zu entdecken. Allez!
Le deuxieme jour
Ein Nachtrag natürlich noch: Auf die Sekunde pünktlich rollte mein Zug ein, eine milde, warme Nachtlust empfing mich. Gefühlt zwanzig Grad mehr als zuhause. Tout va bien.
Auch der nächste Tag ist wie schon berichtet einer zum Feiern. Erstmal die nähere Umgebung erkunden, schmale Straßen, vierstöckige Häuser, verblichener bürgerlicher Charme. Erste Überraschung: Den Boulevard Longchamp schmückt eine Straßenbahn. Wo vor wenigen Jahren noch der übliche embouteillage (Stau, Eselsbrücke: Flaschenhals) herrschte, wie meine Begleitung berichtet, verkehren jetzt futuristische anmutende Stadtbahnen im Fünf-Minuten-Takt (in der Spitzenstunde). 1:0 für Marseille.
Die nächste Überraschung ereilt auch meine Gastgeberin. Man geht halt nicht mit Touristenaugen durchs Viertel, wenn man hier wohnt. Das Palais Longchamp erstrahlt wie neu, auch der Park dahinter wurde stark aufgewertet. Wirklich sehr hübsch gemacht, wenn man von den bonbonfarbenen Plastiktieren mal absieht.
MP13 zeigt sein segensreiches Wirken. Nein, das ist nicht die übernächste Generation der digitalen Musikspeicherung, „Emm-Pe treize“ ist der griffige Kurzname für alles, was heuer mit der Kulturhauptstadt zu tun hat. Das wird mir noch häufig begegnen.
Wie alle Landratten zieht es mich zum Hafen. Dabei ist die Metro behilflich, jede Station soll hier ein gänzlich anderes Aussehen haben. Na gut, es gibt ja auch nur zwei Linien.
Die Station Cinq Avenues Longchamps beeindruckt mich sehr, eine wirkliche Lichtinstallation. Den Wagen der U-Bahn ist die Herkunft aus den Siebzigern deutlicher anzusehen, die warmen Ockertöne lassen mich an Lockenmähnen und Schlaghosen denken. Wird ja sicher bald wieder modern.
Die Wände allerdings weisen Schäden auf, das Grundwasser drückt rein und wird nur notdürftig im Zaum gehalten. Das wird wohl in Kürze ein bisschen was kosten.
Bis vor einigen Jahren war der Vieux Port von Marseille der Sündenpfuhl in Gomorrha. Nepper, Schlepper, Bauernfänger, schmuddelige Kneipen, Kriminaltango. Das ist vorbei, alles ist jetzt trés chic. Segelboote so weit das Auge reicht, eine mondäne Uferpromenade und „gehobene Gastronomie“. Der Tourist wird jetzt eleganter abgezogen. Aber dazu ist er ja auch da, das ist in der Münzgasse nicht anders.
Ein Muss: Das, nun ja, Sonnendach von Norman Foster an der Stirnseite des Quais. Hat der doch einfach eine Fläche von vielleicht 20 mal 40 Meter auf zehn Meter hohe Säulen gestellt und unten verspiegelt? Tolle Effekte, man kann sich z.B. selbst ins Dekollete gucken. Oder auch anderen.
Wir wandern zum Pharo, einem Viertel links der Hafenausfahrt mit Kastell und Palais. Hübsch. Die Sonne brennt, ein Platz im schattigen Café mit Meerblick tut not. Der Kellner mault, als er bemerkt, dass wir unschlüssig sind, ob wir essen wollen. „Jusqu’ 3 heures seulement pour manger“, oder so ähnlich. Na gut. Geteiltes Menü ist halbes Menü.
Meine erste vollwertige französische Mahlzeit: Eine fangfrische Dorade an geschmortem Gemüse und Reis. So kann es weitergehen. Auch der Rosé schmeckt.
Kommen wir zu etwas ganz anderem: Ein kleiner Elektrobus pendelt entlang der Kais des alten Hafens, niedlich und gut für fußlahme Touries. Die supermoderne Fähre, die den Hafen durchqueren soll, tut dies heute mal wieder nicht. Technische Gründe, ah ja. Meine Begleiterin schimpft mit Marseiller Zunge, ich nicke dazu tapfer.
Das MUCEM ist einerseits das Museum der Mittelmeerregion (das früher – warum auch immer – in Paris beheimatet war) und andererseits der ideelle Mittelpunkt der MP13. Leider ist es noch nicht ganz fertig … Nein, ich verkneife mir jeglichen Querverweis.
Immerhin kann man die bauliche Hülle bewundern, ein transparenter Kubus wird von einer zweiten, organisch anmutenden Haut umgeben und durch einen luftigen Steg mit dem Fort Saint-Jean nebenan verbunden.
Direkter Nachbar ist das „Regionale Zentrum des Mittelmeers“, ein nicht nur statisch interessantes Gebäude, dessen oberste Etage unwirklich weit über das Hafenbecken auskragt.
In der Umgebung gibt es weitere Baulichkeiten, die alle zum Projet Euroméditerranée gehören, einem Entwicklungsprogramm für die von alten Docks und heruntergekommenen Stadthäusern geprägte La Joliette. Dies ist langfristiger angelegt, ein Wahrzeichen ist allerdings schon fertig: Der elegant verdrehte Büroturm der Reederei CMA-CGM, entworfen von Zaha Hadid.
Und wieder etwas ganz anderes, man muss es nicht mehr extra erwähnen: Le Panier, ältestes und verwinkeltes Viertel oberhalb des Hafens. Hier ist der Euro-Fortschritt nicht ganz so offensichtlich. Immerhin, der Place du Lenche hat ein neues Gesicht bekommen. Mein Vorsatz, hier ausschließlich Wein zu trinken, zerschellt am ersten Straßencafé. Pourquoi pas, warum auch nicht, die Franzosen tun’s ja auch.
La Bière erscheint hier mit Akzent, über dem „e“, wird (auch) als pression (mit Druck, also gezapft) getrunken und kostet im Prinzip dasselbe wie in Dresden. Es ist aber leider nur die Hälfte drin im Glas. Auch wenn es überraschend gut schmeckt, selbst jenes, das nicht aus dem Elsass kommt: Der Preis ist schon heftig Aber dafür schließen die Lokale spätestens um Zwei und limitieren somit den Verzehr. Tout va bien.
Abends sind wir im Belsunce, dem Kreuzberg auf nordafrikanisch (auch hier ziehen übrigens die Hipster langsam ein). Ein bzw. das Couscous-Haus, eng, laut, heiß und mit wunderbaren Tagines voll Taboulé. Ich habe mindestens sechs verschiedene Formen von Lammfleisch gesehen. Alkohol gibt es nicht, Allah wäre not amused.
Le troisieme jour
Frühmorgens 12 Uhr (ich hatte verschlafen, vermutlich eine Nachwirkung der Anreise-Vorgeschichte, und den vereinbarten Treffpunkt Station Castellane zu spät erreicht) ein Markt am Prado, einem langen Boulevard in Richtung Süden. Ich kaufe zehn verschiedene Marseiller Seifen und damit höchstens ein Zehntel des Sortiments. Nun muss ich sie nur noch den entsprechenden Empfängern (bzw. deren Charakteren) zuhause zuordnen. Auch meine Begleitung findet einige Wässerchen.
Erstes großes Ziel: La Cité Radieuse. Von Le Corbusier 1952 fertig gestellt, nennt mein Reiseführer das neunetagige Gebäude eine Ikone des Aufbruchs. Ich tituliere es ein vertikales Stadtviertel und bin nicht minder begeistert. Eigentlich dem sozialen Wohnungsbau zuzurechnen, locken die grandiosen architektonischen Ideen des Meisters seit jeher eine Klientel in Haus, die das zu schätzen weiß und eine gewisse Zahlungsbereitschaft mitbringt. 108 qm sind schon für 350.000 Euro zu haben, auf dem Komfortstandard der fünfziger Jahre wohlgemerkt. Aber die scheinen es wert, das Haus bietet neben Wohnraum für etwa 1.000 Menschen unter anderem auch ein Restaurant mit Hotel, eine Laden- und Büroetage, eine Kita unter dem Dach sowie eine Dachterrasse mit Pool, Sporthalle und Gemeinschaftsräumen. Aber auch die Kleinigkeiten sind zu beachten, u.a. die Beleuchtung: indirekt mit Lampen, die an Trillerpfeifen erinnern, so modern, dass sie heute wie noch gar nicht erfunden wirken.
Man muss das unbedingt gesehen haben, auch den kleinen Park, der sich um die Stelzenfüße des eleganten Kolosses windet. Nein, eine Tiefgarage gibt es nicht hier.
Nach soviel Baukultur: Á la Plage! Das zieht zwar eine längere Busfahrt nach sich, weil der Avenue du Prado die längst fällige Straßenbahn noch nicht beschieden wurde, aber immerhin fahren wir mit dem ersten Gelenkbus, den die Stadt angeschafft hat. Kaum vorstellbar, wie die Menschenmengen in der Hauptverkehrszeit transportiert werden sollen (von „befördern“ ist nicht die Rede), wenn schon gegen drei Uhr nachmittags die Stehplätze umkämpft sind.
Das Nahverkehrssystem ist für eine de facto Millionenstadt (es gibt in Frankreich kein richtiges Meldewesen) ohnehin unterdimensioniert. Zwar sind die beiden U-Bahn-Linien klug angelegt und kreuzen sich zweimal am Rande der Innenstadt, zwar sind die beiden Stadtbahnlinien eine sinnvolle Ergänzung und kommen dank eigener Gleiskörper gut durch, zwar gibt es dazu noch siebzig Buslinien, die teils im 4-Minuten-Takt fahren, zwar sind die Bedürfnisse hier vielleicht ein wenig anders, dennoch: Was täglich auf den Straßen rumsteht, hupt und meterweise vorwärts rückt, spricht für einen weiteren Ausbau. Ein S-Bahn-System gibt es bisher gar nicht, die Vorortbahnhöfe werden eher sporadisch bedient, P+R scheint unbekannt. Viel zu tun, Kollegen.
(Übrigens, eben auf der Rückfahrt im TGV noch eingefügt: Die Vielzahl der wirklich schönen neuen Straßenbahnen in fast jeder größeren Stadt, in der wir halten, ist beeindruckend und macht neidisch.)
Zurück zum Strand, etwas völlig anderem. Der Marseiller verfügt dank der Lage seiner Stadt im Halbkreis am Meer über mehrere Badewannen, die schickste ist vielleicht La Plage du Prado im Süden. Es weht ein sanfter Wind, der zehn Meter breite Sandstrand ist schon gut gefüllt, als wir am Pointe Rouge den Bus verlassen. „Die Urlauber liegen wie tote Robben am Strand“, jener Satz, der mir mal an der Ostsee einfiel, passt hier nicht, es aalt sich der Einheimische.
Anfang Mai, so früh im Jahr waren meine Füße noch nie mit Meerwasser in Kontakt. Der restliche Körper muss noch warten, wir wollen mal nicht übertreiben.
Für die Rückfahrt nimmt man hier das Schiff. Stündlich fährt ein Boot, das etwa 100 Leute fasst, von hier zum vieux Port. Man erreicht den Ableger durch einen Marsch entlang der Bootswerften, die die Lieblinge hier im Hochregallager stapeln. Drei übereinander sind normal. Die Schlange ist zum Glück kürzer als hundert Menschen, wir kommen also beim ersten Mal mit, und das Boot fährt auch bald. Tout va bien.
Nicht mehr ganz so gut geht es, als das Hafenbecken verlassen wird. Der Wind ist hier alles andere als sanft. Die Wellen nicht höher als zwei Meter, aber für unsere Nussschale durchaus genug. Wir wurden gewarnt, auf dem Vorderdeck würde es nass, und hatten gelächelt. Und siehe, es wurde nass.
Während mich die regelmäßigen Duschen– in Gegensatz zu den meist quietschenden Mitpassagieren – eher erfreuen als schrecken, macht sich mein Magen ebenso regelmäßig in Richtung des Kopfes auf den Weg. Nur mühsam kann ich ihn an der Flucht hindern und muss dabei immer noch tapfer lächeln, dank meines großen Mauls zuvor.
Die Gefängnisinsel mit dem Château d’If, die wir passieren, soll schon den Grafen von Monte Christo beherbergt haben. Immerhin hatte der da festen Boden unter den Füßen, was man im normalen Leben gar nicht richtig zu schätzen weiß.
Aber auch diese Prüfung nimmt ein Ende.
Abends dann noch ein Bummel durch La Plaine, jenem Quartier, das der Dresdner Neustadt am nächsten kommt.
Neulich beim Männergespräch im Thalia thematisierten wir das Folgende schon: Automatisch den Bauch einziehen, wenn einem eine schöne Frau entgegenkommt, dokumentiert den Beginn einer neuen Lebensphase. Dazu ist reichlich Gelegenheit hier, ich absolviere ein veritables Bauchmuskeltraining.
Erst haben wir wunderbar gegessen, dann gut getrunken, sind dann nett geschlendert – schwarze Schönheiten stöckeln leicht unbeholfen im La Teranga, es gibt eine Modenschau mit Tanzeinlagen – und dann mit dem Roller meiner Gastgeberin wieder heimgefahren.
Diese Roller sind – wenn einem die Bedienung geläufig ist und man ein wenig Mut mitbringt – zumindest abends das beste Fortbewegungsmittel. Der öffentliche Verkehr macht noch vor Eins Feierabend, und Taxis sind in diesem Viertel nicht häufig und zudem teuer.
Letzte Station für diesen Abend. Eine Bar im Quartier. Merke: Alle Menschen sind gleich. Die Kneipe könnte auch in Schöneberg sein. Oder in Pieschönn. Sehr angenehm, trotzdem. Aus dem Wurlitzer dröhnt Johnny Halliday. Tout va bien.
Le quatrieme jour
Wir machen einen Ausflug, nach Arles, mit der Bahn.
Und erstmal eine Erfahrung: Was die SNCF-Homepage verspricht, muss mit der Realität nicht viel zu tun haben. Das Sonderticket zur MP13 gibt es nicht am Automaten, wär ja auch zu einfach, drei Knöpfe drücken, bezahlen, Ticket ziehen. Nein, man muss zum Schalter, wo etwa fünfzig Leute mit vielleicht ähnlichen, aber vielleicht auch ganz anderen Problemen warten.
Erklärt wird einem das mit einer wahrhaft königlichen Herablassung vom schnöseligen Auskunftsbeamten, der auf seinem Podest inmitten der Bahnhofshalle sitzt, nein, thront. Danke fürs Gespräch. Dann also regulär zahlen, zehn Euro mehr pro Nase. Zum Trost werden wir nicht kontrolliert.
Trost spendet auch das mitgenommene Croissant. Im Gegensatz zu den Dingern in l’Allemagne ist dies kein aufgeblasenes Häufchen Nichts, sondern ein vollwertiges Nahrungsmittel, das vor allem nach Butter schmeckt.
Die SNCF bietet übrigens weder im Fern- noch im Nahverkehr einen richtigen Taktfahrplan an, auch wenn sich die Abfahrtsminuten oft gleichen. Aber es gibt empfindliche Lücken am Vor- und Nachmittag und dafür ein paar mehr Züge in den Spitzenstunden. Was nun besser ist, mag ich nicht entscheiden, rechne jedoch ohnehin damit, dass auch bei uns die Lücken am Vormittag wiederkehren werden. Das Geld halt.
Arles an der Rhone, inmitten der Camargue, ist schon sehenswert. Die ersten Spuren hinterließen die Römer, innerhalb der Stadtmauer ist noch viel davon zu sehen. Für mich augenfälligstes Relikt der Vergangenheit: Die Stierkampfarena, die auch heute noch betrieben wird. Ja, zum Stiere abstechen.
Ich will darüber aber nicht groß philosophieren. Wer aus einem Land kommt, wo man Tiere industriell erzeugt und verwertet, sollte bei solchen Themen lieber die Fresse halten. Es ist eine Kultur – wenn auch nicht meine – die schon Jahrhunderte lang Tradition hat. Den Franzosen (und vor allem den Spaniern) jetzt zu erklären, dass die corriere du taureaux ganz und gar nicht geht, bedarf des Sendungsbewusstseins eines gutmenschigen Weltverbesserers, welches mir nicht zur Verfügung steht.
Etwas ganz anderes: Auf dem (viel touristischer geprägten) Markt erstehe ich einen schönen weißen Hut, der mir in der Folge nicht nur in modischen, sondern auch in gesundheitlichen Angelegenheiten gute Dienste leisten wird.
Noch ein Besuch beim Rezeptionisten eines hiesigen Nobelhotels, den man, wenn man ihn wie meine Begleiterin im Nachtleben von Marseille erlebt hat, nicht erkennen würde, so seriös wirkt er, ein kurzer Abstecher an die Rhone und schon geht es zurück. Es wartet nämlich noch l’OM!
Meine Beziehung zum Fußball ist bekanntlich zerrüttet. Früher war es Liebe … Aber Kinderzeit ist lange her, ich erinner mich nicht mehr.
Heute nutze ich diesen Sport vor allem, um mich über sein Publikum und vor allem die mediale Aufbereitung dieser fast täglichen Schicksalsmomente lustig zu machen. „Hier geht es nicht um Leben oder Tod, es geht um mehr“, wie die Sportfreunde (!) Stiller singen.
Aber wenn ich schon mal hier bin … Da kann ich gleich auch gestehen, dass ich dennoch einen Helden habe: Zinédine Zidane. Jener franko-algerische Recke, dem die Ehre von Mutter und Schwester sowie die Bestrafung eines italienischen Flegels wichtiger waren als irgendsoein Weltmeistertitel. Das wird bleiben, auch wenn seine Tore einmal vergessen sind.
M. Zidane stammt aus dem Norden von Marseille, der anderswo Favela oder Slum heißen würde. Außer Fußballer kannst du da Nichts werden, und die wenigsten werden Fußballer. Immerhin, einer hat es ganz nach oben geschafft und wird jetzt wie ein Halbgott verehrt. Sein Sportgeschäft soll gut laufen, sagt man.
Übrigens haben wir keine Karten für das Spiel heute gegen Toulouse. Meine Begleitung verlässt sich voll auf den Schwarzmarkt. Dieser profitiert jedoch sehr davon, dass das ganze Stadion eine Baustelle und somit nur die Hälfte der Plätze verfügbar ist, BWL, 1. Semester. Das Billet bzw. das Reinkommen steht bei 100 €, als wir zehn Minuten vor Spielbeginn in den Handel einsteigen. Im 2. Semester lernt man, was man dann beobachten kann: Einen Preisverfall. Mit dem Anpfiff sind es noch 50 €, Tendenz nach unten. Aber die Tatsache, dass 15 Minuten nach Beginn die Außentore geschlossen werden, fängt den Preis bei 30 € auf (3. Semester).
Wir sind drin, irgendwie. Vorausgegangen waren hektische Diskussionen unseres Schleppers mit den Einlassern und schließlich eine herrisch winkende Hand des Rudelführers. Karten haben wir keine, demzufolge auch keinen Platz, also rein in irgendeinen Block. Ein Ordner fragt uns nach den Tickets, doch wir sprechen leider kein Französisch, und nach einigen Verständigungsversuchen lässt er ab von uns, weil es auf dem Spielfeld grad spannend wird. Wir nehmen auf der Treppe Platz.
Der Fußballklub Olympique de Marseille tritt an in Himmelblau, wie Chemnitz etwa. Meine Absicht, mir ein Trikot mitzubringen, werde ich nochmal überdenken.
Droit Au But? Das ist der Leitspruch des Vereins und klingt gut, heißt letztlich aber nichts anderes als „Recht auf Tor“. Jaja, aber … gleiches Recht für alle! Wie war das nochmal mit Égalité?
Das Spiel geht nach diesem Maßstab ungerecht aus, OM 2, TFC 1, ein Bein haben sich beide nicht ausgerissen dabei. Es geht wohl um nichts mehr, so kurz vor Saisonende. Und Zinédine war auch nicht da.
Was ich aber sehr beachtlich finde: Es ist kaum Polizei zu sehen, auch im Stadionumfeld nicht. Wenn ich daran denke, welche Hundertschaften bei Spielen eines hiesigen zweitklassigen Vereins in Marsch gesetzt werden … Hier hat der Fußball offenbar den Stellenwert, der ihm zukommt. Und nicht mehr.
Place de Lenche, da waren wir schon mal, macht aber nichts, der Restaurants sind viele.
Der Mistral weht die Menschen heute vom Place nach drinnen, es wird zunehmend ungemütlich draußen.
Dann fällt sogar ein Baum aufs Trottoir! Zum Glück, heuresement, liegt niemand drunter, nur einige Tische und Stühle sind Schrott. Eigentlich war der Baum grad frisch umgesetzt und einbetoniert. Le Mistral …
Die Nachricht schafft es sogar in die Sonntagszeitung. Am nächsten Tag ist nur noch die Wurzel da. Ob die anderen Bäume ähnlich gefährdet sind, wird hoffentlich jemand geprüft haben? Ich bin ein wenig peinlich berührt ob meiner Skepsis. Die Franzosen bauen großartige Hochgeschwindigkeitseisenbahnen, da werden sie wohl Bäume am Umfallen hindern können!?
Aber der Mistral bläst einem wirklich das Hirn aus der Birne.
Le cinqieme jour:
Etwas ganz anderes. Ein Ausflug. Diesmal zur Côte Bleue, der heimlichen Côte d’Azur von Marseille. Ähnlich schön wie die berühmten Calanques, aber nicht so überlaufen, wird mir glaubhaft versichert.
Eine schöne Bahnfahrt, wieder unkontrolliert, aber vorbei an den Häfen mit den dicken Kreuzfahrtschiffen und dann eintauchend in eine wilde, felsige Uferlandschaft, die zwischen Steilküste und schmalen Buchten wechselt. Ab und zu quetschen sich Dörfer dazwischen, die vom Land her nur über einen einzigen Weg zu erreichen sind.
Unsere Station heißt La Redonne, dann noch eine Viertelstunde steile Fußwege hoch und runter und wir können auf den Felsen vor einem kleinen Hafen faire un pic-nic. Dummerweise liegt 50 m vor uns der Party-Katamaran aus Marseille mit dröhnender Uffta-Humpta-Musik. Doch noch ehe ich aus dem Wandergepäck einen Torpedo basteln kann, lichtet er den Anker und gleitet von dannen. Sonntägliche Ruhe kehrt ein.
Leider lärmen auch die Zikaden noch nicht, zu früh im Jahr. Dieses Kerngeräusch des Südens müssen wir entbehren. Und der Lavandre blüht auch erst später.
Auf dem Rückweg noch ein Stopp an einem kleinen Strand. Erneuter Fußkontakt mit dem Meer, erneute Beschränkung auf diesen. Und dann noch ein bisschen am Strand liegen, in den Himmel schauen und schließlich une bière in der Hafenkneipe.
Abends dann creolisch, auch das geht hier naturalement. Und es geht gut. Am Sonntag haben nicht viele offen außerhalb der Tourie-Region, aber das zufällig entdeckte kleine Restaurant „Le Port au Prince“ ist alles andere als eine Notlösung. Falls jemand mal in der Nähe ist: 40, rue St. Savournin, 13001 Marseille. Am Ende macht man uns noch mit Rum dumm.
Le sixieme jour:
Nun noch Aix. Der erste unbegleitete Ausflug, ich bin jetzt schon groß. Der Automat der SNCF bereitet mir keine Schwierigkeiten, ob das ein Franzose von jenem der DB auch sagen könnte? Interessant das Prinzip der Bahnsteigzuweisung. Wo fährt mein Zug denn heute? Überraschung … 100 erwartungsfrohe Reisende beobachten gespannt die Anzeigetafel, bis das „C“ fünf Minuten vor Abfahrt erscheint, worauf eine Volksbewegung einsetzt.
Nächste Überraschung: Heute spielt man TGV und kontrolliert die Fahrscheine – die man hier nicht nur kaufen, sondern auch noch „entwerten“ muss (dieses Wort bedeutet übrigens genau das Gegenteil von dem, was eigentlich gemeint ist: Man macht den Fahrschein durch die Stempelei ja erst gültig für die Fahrt) – gleich am Einstieg, mit dem üblichen massiven Personaleinsatz. Das gleicht dann auch die unkontrollierten Fahrten nach Arles und an der Côte Bleu wieder aus.
Nicht, dass ich was gegen viel Personal bei der Bahn hätte, im Gegenteil. Das ist ein ehrbarer Beruf, und die cheminots sind sich ihrer Würde auch bewusst. Ob die Mischung aus mausgrauem Anzug und fliederfarbenem Hemd dazu beiträgt, sei einmal dahingestellt. Aber sie sind ordentlich beschäftigt und entgehen damit der Gefahr, von Sarko et collegues irgendwann weggekärchert zu werden.
Der Zug durchquert die banlieus. Hier wird die Ärmlichkeit nicht mehr von Prunkbauten verdeckt. Marseille, die nördlichste Stadt Afrikas? Kann schon sein. Dennoch, von Straßenschlachten wie in Paris hat man hier nicht gehört bislang.
Steinbrüche bringen den wunderbar leuchtenden Sandstein dieser Gegend zutage. In Kombination mit der südlichen Sonne erzeugt dieser eine unglaublich warme Farbe, die man so an der Elbe nicht zu sehen bekommt.
Angekommen. Der Bahnhof ist unspektakulär, der Weg ins Zentrum aber nicht weit. Die Rotonde hab ich anders in Erinnerung, vielleicht verklärt durch die mehr als fünfzehn Jahre, die seitdem vergangen sind. Eigentlich ist das nur eine schlichte Kreuzung mit Kreisverkehr. Auch die Platanen auf dem Cours Mirabeau waren früher höher, scheint mir.
Aix verhält sich zu Marseille wie Potsdam zu Berlin oder Starnberg zu München. Selbst die Gemüseläden sind hier nobel.
Ein Spaziergang in Richtung meiner früheren Herberge, einem Studentenwohnheim östlich der Altstadt. Den Weg finde ich, aber das Ziel scheint verschwunden. Egal, ich wollte eh keinen Kranz niederlegen.
Auf dem Rückweg passiere ich ein Lycée, da ist grad Pause. Die vorherrschende Herrenmode ist hier der Trainingsanzug. Es ist erst zehn Uhr, Montag, die Innenstadt beginnt grad mit dem Aufwachen. Aber es werden schon erste Besuchergruppen durch die Gassen getrieben. Die Touristen tragen Funktionsbekleidung und außerdem aufgeklebte Nummern, die sie als einer Gruppe zugehörig kenntlich machen. Das ist schön, jeder will ja irgendwo dazugehören.
Aix ist langweilig, beschließe ich, pittoreske Altstädte mit Hunderten von Restaurants hab ich schon genug gesehen. Ich suche das empfohlene Café hinter dem Rathaus. Tatsächlich, sehr hübsch, und die Terrasse bietet zumindest zwei Kaffee lang Schatten, eh die Sonne rumkommt. Zeit genug, l’ordi portable auszupacken und diesen Text hineinzuhacken.
Und dann zurück, den letzten Halbtag in Marseille genießen. Tout va bien, immer noch.
Der Weg zum Bahnhof führt durch die Neue Mitte von Aix. Schick und verwechselbar, H&M ist auch schon da.
Der Bahnhof ist baulich das ganze Gegenteil, aber gemütlich. Neben zahlreichen Beförderungsfällen sind anwesend:
Ein Sicherheitsmann, ein Sicherheitsmann der SNCF, eine Aufsicht (hübsch) und drei Schaffner (der weibliche Teil sehr hübsch). Jeder DB-Controller würde den roten Bleistift wetzen und erstmal zwei Drittel davon streichen. Für den Anfang, um Härten zu vermeiden.
Beim Rückblick aus dem Zug sehe ich endlich Ste. Victoire, jene beeindruckende Bergkette, die meine stärkste Erinnerung an Aix ist und bleibt.
Der Zug ist voll, auch zur Mittagsstunde ein großer Andrang. Die Karten kontrolliert eine vierte Schaffnerin, auch jene ausnehmend attraktiv. Ein Fünfter und Sechster leisten Beistand, als sie charmant eine Fahrpreisnacherhebung durchführt. Nicht bei mir, was ich für einen kurzen Moment bedauere.
Die schlechte Gleislage spüre ich jetzt deutlich im Kreuz. Vermutlich die Strafe für unkeusche Gedanken über Amtspersonen.
Marseille mit seinen Wohntürmen beginnt etwa 20 Minuten vor Ankunft in St. Charles. Plattenbauten soweit das Auge reicht. Auch wenn sie nicht im Taktstrassenverfahren errichtet wurden, es ist kein Unterschied zu Gorbitz. Vielleicht stehen sie etwas aufgelockerter. Und sicher sind sie schon deutlich heruntergekommener. Instandhaltung ist keine südliche Tugend, hab ich neulich mal über Kairo gelesen. Das dürfte aber auch für Marseille gelten.
Das Meer, ach ja. Nur noch heute kann ich den Anblick genießen.
Dann ein erneuter Bummel durch Klein-Marokko, das später nahtlos in Klein-Senegal übergeht. 90 % Männer auf den Strassen, so ist das halt.
Offenbar hat man seitens der Stadtverwaltung das alte Fährboot reaktiviert, nachdem das schicke Neue öfter mal den Dienst am Touristen verweigerte. Für umsonst geht es über das Hafenbecken. Hier ist noch Potential, liebe Stadteltern.
Der (temporäre) Pavillon zur MP13 ist wie Pavillons zu irgendwas halt so sind, ganz hübsche Animationen und Hostessen, Imagefilmchen und ein bisschen Kunst. Die Mischung aus Holz und Plexiglas sieht sehr schick aus, heizt sich aber auch mächtig auf, trotz einer Batterie mobiler Klimamaschinen ist es deutlich wärmer als draußen. Und wir haben erst Mai …
Übrigens, l’Art de Vie wird dort in unzählige Sprachen übersetzt. Deutsch ist nicht darunter.
Ich will nochmal runter zum Mucem. Aber der Fußgänger hat es hier schwer: In langen Serpentinen muss er sich erst von der Leistungsfähigkeit der französischen Bauwirtschaft überzeugen, ehe er unten ankommt.
Am Ende des Kais stehen Bauwerke aus 40-Fuß-Containern, der 17. Arrondissement, jener der Zukunft, auch das natürlich MP13. Marseille hat bisher nur 16 Bezirke, eine niedliche Idee also. Am Nachmittag ist hier noch nicht so viel los, nur einige Artisten seilen sich ab. Einen Abendbesuch schaff ich leider nicht mehr.
Nach dem Treff á dix-huit’ heures mit meiner zur werktätigen Bevölkerung gehörenden Gastgeberin noch ein Ausflug zur Basilika Notre-Dame-de-la-Garde. Diese überragt die Stadt auf einem Hügel, die Anfahrt zu zweit mit dem Motorroller ist eine Herausforderung. Aber nicht er gibt auf, sondern ich, ein Krampf im Oberschenkel zwingt mich zum Absteigen. Vermutlich ähneln sich unsere Grundfrequenzen, und es kam zur Resonanzkatastrophe.
Der Blick von oben ist grandios, die ganze Marseiller Bucht liegt uns zu Füßen. Ein Moloch von Stadt, der bis zum Horizont reicht, darüber ein wunderbares Abendsonnenlicht.
Der Blick nach oben zeigt die Jungfrau mit dem (eigenen) Kind, dieses Grundrätsel der christlichen Kirche, das erst mit Hilfe der Gentechnik einigermaßen befriedigend gelöst werden konnte.
Hui, nun die Schussfahrt in den Hafen!
Dort gibt es ein Restaurant namens „La Treize“ also Dreizehn. Es scheint auch in diesem Jahr erst aufgemacht zu haben, alles neu drinnen. Aber wir wollen ja draußen.
Man verfügt über modernes Equipment, aber das Tablet zur Bestellaufnahme ist mit einem rustikalen Holzrahmen versehen. Ach …
Die zu Ehren des letzten Abends georderten Moules munden hingegen hervorragend.
Endgültig die letzte Einkehr: Longchamp Palace um die Ecke. Sehr angesagt, der Laden, zumindest in gewissen, sympathischen Kreisen. Gewöhnlich holt man sich sein Getränk am Tresen und stellt sich dann wie dreißig Andere aufs Trottoir, drinnen kann man ja nicht rauchen. So ähnlich sähe es in der Neustadt auch aus, wenn man hier genauso streng wäre.
Müde bin ich, geh zur Ruh, gleich falln mir die Augen zu. War wohl zuviel Sonne heute, zuviel Pflaster, zu viele Eindrücke. Morgen geht es nach Hause.
Le dernier jour
Ein scharfer, stechender Schmerz in meiner Brust (wie der Dichter, aber in diesem Falle auch der Internist sagen würde) begleitet mich am nächsten Morgen zum Bahnhof. Körper und Geist bilden halt doch eine Einheit.
Erst in Avignon verschwindet er langsam und ich kann mich an der Reise – erstmal entlang der Rhone, später in Sichtweite mehrerer Mittelgebirge – freuen. Und noch ein wenig sinnieren über diese Tage im Süden.
Wir halten in Aix und Avignon. TGV-Bahnhöfe wie diese außerhalb der Stadt zu bauen, hat zumindest den Vorteil, dass man die Innenstädte ungeschoren lassen kann. Wäre doch auch eine Idee für Stuttgart … Von Freunden lernen.
Außer ein paar Arbeitsdeutschen und Touristen aus aller Herren Länder habe ich in Marseille nur sehr wenige Ausländer gesehen. Ein Ort also, wo sich die Stramm-Ärsche von der NPD etc. wohlfühlen würden. Überall Bürger der Republik, überall nur Franzosen … jedweder Couleur allerdings.
Man muss dennoch nicht alles mögen hier. Dass es trotz manchmal sehr schöner, aufwendig gestalteter Flaschen für jedes denkbare Getränk noch immer kein Pfandsystem gibt und die bouteilles somit bestenfalls im Glascontainer oder auch im Hafenbecken landen, kann ich nur schwer begreifen. Von einem Einweg-Pfand ganz zu schweigen, dann würden die Straßen ja so deutsch aussehen.
Und auch wenn ich hier mit Kennermiene die eine oder andere Vokabel einstreue: Mein Französisch ist nach fünf Tagen noch immer alles andere als perfekt. Was ich inzwischen aber sehr gut kann, ist deutsch mit französischem Akzent zu sprechen. Und zum Sprechen alle Körperteile zu benutzen, das mach ich jetzt auch ein bisschen.
Über die fremden Wörter hier im Text müsste ich auch nochmal rüber, grammatikalisch und orthographisch. Da hab ich jetzt aber keine Lust zu. Und bei mir geht’s neuerdings meistens nach der Lust.
Inzwischen hat der Zug gewechselt, besser gesagt, ich habe ihn gewechselt. Das vertraute Dröhnen des ICE-T umhüllt mich. 17 Uhr ab Frankfurt, es ist richtig voll und wird auch in Fulda nur unwesentlich leerer. Hier werden die Mehrkosten von Stuttgart21 verdient.
Im Waggon gibt es mehr Frauen mit Kopftüchern als ich insgesamt in Marseille gesehen habe. Ein Zufall, sicher, nicht repräsentativ. Und man muss ohnehin aufpassen, dass man hier nicht in die Korrektheitsfalle läuft und besser als die Frauen selbst zu wissen glaubt, was diese wirklich wollen.
In Frankfurt/M. stieß ich übrigens fast mit einer einzelnen Burka-Trägerin zusammen, die mich aus schmalem Sehschlitz anfunkelte. Ob böse oder nicht, kann ich mangels einschlägiger Erfahrung nicht beurteilen. Dabei war sie schuld, was muss sie auch fast rennen und dabei noch eine sms tippen.
Ein pendelndes Businessweibchen hat nun eine Methode gefunden, auch bei beengten Platzverhältnissen die Maus am Rechner zu benutzen: Sie bewegt sie am Oberschenkel auf und ab. Das sieht durchaus erotisch aus und ist es vielleicht auch. Aber liebe Männer, bitte nicht nachmachen, das könnte zu Missverständnissen führen.
Die Mitreisenden kommen mir alle so unentspannt vor, nicht nur die im Anzug. Ich glaube, denen fehlt ein bisschen südliche Sonne.
Und in der nächsten Folge dann: Teischel Mauköh kehrt zurück und bringt den Marseillern savoir-vivre bei. Merci bis hierhin.
Das 130% – Auto
Nein, das ist alles andere als Werbung. Das ist eine Polemik.
Im Durchschnitt zweimal täglich nutze ich die Dresdner Königsstraße, das heißt den Fußweg derselben, und dies seit einem knappen dreiviertel Jahr. Da es meist an Passanten mangelt und der Mensch, also ich in diesem Falle, sich doch auch beim Gehen gern mit irgendwas beschäftigen möchte, widme ich meine Aufmerksamkeit zumeist den dort geparkten Fahrzeugen, bis das prächtige, leider untergenutzte Japanische Palais bzw. auf dem Rückweg die schönen Brunnen des Albertplatzes in den Blick kommen.
Dabei habe ich die folgende These entwickelt und in der Folgezeit empirisch untermauern können:
Der Anteil der Autos, die eher wie Schützenpanzer aussehen, nimmt immer mehr zu und hat die absolute Mehrheit in der „Kö“ lange erreicht.
Nun muss man oder wird man wissen, dass die Gegend um die Königsstraße sich zu den edelsten von Dresden zählt, um die „Bülow Residenz“ gruppieren sich zahlreiche Modegeschäfte aus dem hochpreisigen Segment (die gerne von Exfußballergattinnen geleitet werden) und andere Läden für den täglichen Bedarf der Oberschicht. Sie ist deshalb nicht wirklich repräsentativ zu nennen. Da jener aber eine gewisse Trendbestimmungsfunktion innewohnt, lohnt es, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen.
Bei jenen zivilen Schützenpanzern handelt es sich um „SUV“, sport utility vehicle oder wortgetreu übersetzt „für den Sport brauchbare Fahrzeuge“. Nun mag ich nicht bestreiten, dass der Kofferraum durchaus für ein Netz voller Fußbälle, eine Reihe Golfschläger und sogar für ein, zwei Kästen Bier Platz bietet. Dies haben die SUV’s jedoch mit den meisten anderen Autos gemein. Was verleiht ihnen also diese fast schon olympischen Würden?
Es ist schlicht das „geländegängige“ Aussehen. Nicht mehr, denn selbst bei Achsen- und Getriebeauslegung und bei den gängigen Kriterien wie Steigfähigkeit oder Bodenfreiheit gleichen sie einer Limousine aufs Haar.
Das Hauptverkaufsargument für die young urban professionels (YUPPIE’s), um im sprachlichen Duktus zu bleiben, ist also das Gefühl.
Das Gefühl, nach einem demütigungsreichen Arbeitstag in der Tiefgarage den Pseudogeländewagen zu besteigen, die Krawatte ein Stück weit (nicht zu sehr, wer weiß, wer an der Ausfahrt steht) zu lockern und dann durch die Wildnis zu brettern, die im Wesentlichen aus Tempo 30 – Zonen, Kreisverkehren und verstopften Straßen besteht, ehe man bei der heimischen Ranch bzw. Doppelhaushälfte ankommt und den SUV ein letztes Mal aufheulen lässt. Gern wird dazu Cat Stevens gehört, dem Fahrer wächst ein Holzfällerhemd.
Das Gefühl, das den Boutiquenbesitzer stolz befällt, wenn er beim geschickten Ausparken vor seinem Laden die Blicke der Nachbarn förmlich sprechen hört: „Aha, hat der jetzt also auch so einen. Der Laden muss ja gut laufen …“ Das lässt die Gedanken an den fetten Kredit und die Ladenmiete kurz einmal verblassen.
Das Gefühl des Endvierzigers, wenn er mit kreischenden Bremsen vor der Nobeldisko vorfährt und sich die Köpfe nach ihm wenden, auch die der feingliedrigen Schönen im strahlenden Blond. Gern bleibt er dann noch ein bisschen am Wagen stehen, fummelt an irgendwas und hofft, die Ausstrahlung würde auf ihn selbst übergehen.
Das Gefühl der gestressten jungen Mutter, die kurz vor ihrem Kosmetiktermin noch schnell Ann-Sophie in der Kita abliefern muss, dazu gern mal auf dem Bürgersteig parkt, es handelt sich schließlich um einen Notfall, und die Blicke der Mütter und Väter mit den Fahrradanhängern als Beleg dafür begreift, dass sie ihn geschafft hat, den sozialen Aufstieg.
Damit lassen sich sicher eine Menge Autos verkaufen.
Daneben nehmen sich die nackten Fakten doch recht hässlich aus.
Der SUV ist ein 130%-Auto im Vergleich zu einer Limousine derselben Klasse. Dies gilt durchgängig für Luftwiderstand, Motorisierung, Masse und Verbrauch, für den Preis übrigens auch, auch wenn das für die Klientel keine Rolle zu spielen scheint.
Der SUV stellt für andere Verkehrsteilnehmer ein erhöhtes Unfallrisiko dar: Durch die hohe Fahrzeugfront wird das Verletzungsrisiko gesteigert, insbesondere bei Frontschutzbügeln (sog. „Kinderfänger“). Ein Halbwüchsiger hat kaum eine Chance, nicht überrollt zu werden, wenn er frontal mit einem SUV kollidiert.
Die Knautschzonen sind zu anderen Fahrzeugen nur teilweise kompatibel, das leichtere Fahrzeug, also der Aufprallgegner, wird deutlich stärker beschädigt.
Für Motorradfahrer sind SUV bei einem Zusammenstoß in der Regel tödlich, da sie nicht über das Wagendach hinweggleiten, sondern auf die Front aufprallen oder in das Fahrzeuginnere (wo sich übrigens auch der SUV-Fahrer aufhält) eindringen.
Ein SUV ist nicht zuletzt für seinen Fahrer selbst gefährlich: Bei Anprallereignissen an Fahrzeugrückhaltesystemen ist die Gefahr eines Überschlags achtmal so hoch im Vergleich zu „normalen“ Autos, eine Folge des hohen Schwerpunkts.
(Alle Fakten wurden dem Wikipedia-Artikel „Sport Utility Vehicle“ entnommen, deutsche Ausgaben mit Stand vom 24.03.13 18 Uhr)
Aber der Markt boomt, die Zulassungszahlen nehmen rasant zu. Ausnahmslos jeder Autohersteller bietet inzwischen diese Waffen an, hier ist sicher gutes Geld zu verdienen.
Man kann es jenen sicher nur bedingt zum Vorwurf machen: Wirtschaft tut im Allgemeinen das, was erlaubt (oder auch nicht verboten) ist, und versucht die Profite zu maximieren. Das ist bei Kinderspielzeug nicht anders.
Aber man kann es denen um die Ohren hauen, die für die Gestaltung der Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft verantwortlich sind: Allgemein der Politik, konkret der Regierung. „Verbieten“ ist heutzutage sicher schwer, aber lenkend wirken über Abgaben und Steuern ist jederzeit möglich. Aber ich merke nichts von alledem.
Und man muss der Gesellschaft selbst den größten Vorwurf machen:
Warum sind solche tödlichen Spielzeuge nicht verpönt, warum werden deren Besitzer statt mit Verachtung mit Bewunderung bedacht, warum gibt es keinen Druck auf die Politik? Es soll ja niemandem sein geliebtes Auto genommen werden, aber wenn er oder sie das Feature „Allgemeingefährlichkeit“ gern noch dazu hätte, soll es auch entsprechend bezahlt werden.
„… Inwischen ist die breite Masse fasziniert von dem Konzept, weil es ihr ermöglicht, zumindest in Gedanken dem Alltag zu entfliehen. Das SUV ist das Fahrzeug des Eskapismus.“
Autodesigner Paolo Tumminelli, in DIE ZEIT, 24.01.12
Wir können es uns aber nicht leisten, für die Selbstverwirklichung und den Frustabbau einiger weniger unsere Umweltsituation weiter zu verschlechtern. Bisher führte noch jeder technische Fortschritt in der Fahrzeugtechnik dazu, dass die Gefährte nur stärker, größer und schwerer wurden. Am Absolutverbrauch änderte sich so gut wie nichts. Das muss endlich aufhören.
Es gibt kein Menschenrecht auf kostenloses Parken!
Dass diese Überschrift so kategorisch daherkommt, hat mit dem Ärger zu tun, den ich heute (7. März) beim Zeitungslesen verspürte. Die „Sächsische Zeitung“ hatte auf ihrer Lokalseite Dresden-Neustadt mal wieder einen ihrer berüchtigten Jammer-Artikel platziert, die sich mit dem Thema Auto beschäftigen. An Begriffe wie „Staufalle“ im Zusammenhang mit baustellenbedingten Einschränkungen oder „Abzocke“ für Geschwindigkeitsüberwachungen und Parkscheinkontrollen haben wir uns mittlerweile gewöhnt, und heute waren mal wieder die angeblich fehlenden Parkplätze dran. Stein des Anstoßes sind die Bauarbeiten auf der Bautzner Straße in Höhe des Lutherplatzes, die überraschenderweise dafür sorgen, dass man dort nicht mehr (kostenlos) parken kann. Zur Untermalung des schrecklichen Leids darf der Besitzer der „Hütte“ am Steuer seines Großraumfahrzeuges mit traurigen Hundeaugen aus dem Bild herausblicken. Er muss nun deutlich länger nach einem Parkplatz suchen und dann auch noch ein Stück zu Fuß gehen, wie seine Angestellten auch. Aber zumindest an Trekkingschuhen zur Abfederung der Strapazen dürfte es dort ja zum Glück nicht mangeln.
Nein, der öffentliche Verkehr käme zur Anreise gar nicht in Frage, schließlich wohne man in der Sächsischen Schweiz. Ganz abgesehen davon, dass niemand gezwungen wird, aufs Land zu ziehen, gibt es an fast jeder S-Bahn-Station dort draußen genug Parkplätze, die das Einpendeln nach Dresden erleichtern.
Und auch die Friseurin von der anderen Straßenseite, die in Wachwitz wohnt, muss selbstverständlich mit dem Auto kommen, denn Busse und Straßenbahnen sind gerade für Friseurinnen völlig unzumutbar.
Verstehen wir uns nicht falsch: Natürlich kann sich einE jedeR bewegen wie er möchte und wie er es vertreten kann, aber er/sie soll doch dann bitte nicht erwarten, dass jemand ihm das Equipment dafür kostenlos zur Verfügung stellt. Platz ist in der Stadt ein knappes Gut und ist, solange er in städtischem Besitz ist, generell für alle da. Wenn also eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern die Straßenrandflächen zum Parken nutzt und sie damit der Allgemeinheit entzieht, ist es nur recht und billig, dafür einen Obolus zu verlangen.
Es gibt nämlich gar keinen Mangel an Parkplätzen im Großraum Neustadt. Was es aus Sicht einer interessierten Gruppe gibt, ist eine zu geringe Anzahl an kostenlosen Parkflächen in unmittelbarer Nähe zum jeweiligen Ziel. Aber ist das aus Sicht der Gesellschaft wirklich ein Mangel? Warum muss der innerstädtische Lebensraum dem Teil der Bevölkerung, der sich per Auto fortbewegen kann, will und muss, unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, wenn er doch für viele andere Zwecke nutzbar wäre? Breitere Fußwege, Radfahrstreifen oder auch Grünpflanzungen fallen mir da zuerst ein. Nein, wer ein knappes Gut verbraucht, muss auch dafür bezahlen. Kostenloses Parken ist kein Menschenrecht.
Die Tatsache, dass das neue Parkhaus an der Bautzner Straße bislang täglich maximal zur Hälfte gefüllt ist, stützt die These vom ausreichenden Parkraum. Und der Preis (von 1 € für die erste Stunde bis max. 3 € für den ganzen Tag) dürfte niemanden überfordern, der auf das Auto angewiesen ist oder dies zumindest glaubt. Nur steht hier offenbar das Gewohnheitsrecht entgegen: Ich hab hier immer umsonst geparkt, das muss auch so bleiben.
Auch das Argument, die Kundschaft wolle und müsse unbedingt mit dem Auto kommen, wird im SZ-Artikel wieder aufgewärmt. Eine Inzahlungnahme des Parktickets (im Normalfall also ein Euro) kann sich der „Hütten“-Besitzer nicht leisten, achgottchen. Da sind andere Läden aber deutlich weiter, und einen (entgeltlichen) Lieferservice würden sicher viele Kunden in Anspruch nehmen. Wenn man denn wollte.
Zumindest die Großfilialisten im Revier wissen, dass ihre Kunden im Wesentlichen Laufkundschaft im wörtlichen Sinne sind und gehen mit dem Thema gelassen um.
Was bleibt also? Der angebliche Aufreger löst sich in Luft auf, der Artikel dokumentiert eher die Unflexibilität einiger Ladeninhaber.
Die Diskussion, ob der öffentliche Parkraum nicht generell bewirtschaftet werden solle, muss aber gerade in Zeiten, wo für den Straßenunterhalt kaum Geld zur Verfügung steht, unbedingt geführt werden. Auch ist zu hinterfragen, ob Anwohnerparkkarten wie jene für die Neustadt, für die man jährlich 50 Euro zahlt, also weniger als 5 Euro im Monat, noch den richtigen Preis haben.
Eine inspiriertere Verkehrspolitik, als wir sie in Dresden haben, hätte ohnehin aus der Neustadt längst eine Modellregion für autoarmes Wohnen und Arbeiten gemacht. Nirgendwo sonst (in Dresden) sind die Voraussetzungen so günstig: Eine dichte Bebauung mit sehr schmalen Straßen und eine äußerst geringe Kfz-Dichte (statistisch gesehen) treffen auf eine diesem Thema gegenüber in großen Teilen prinzipiell aufgeschlossene Bevölkerung. Zwei Drittel aller Straßen wären ohne Weiteres als Anlieger- bzw. Spielstraßen ausweisbar, mit einer geschickten Verkehrslenkung durch Einbahnstraßen und zeitlich begrenzten Ausnahmeregelungen könnte die Erreichbarkeit auch für den Lieferverkehr jederzeit gewährleistet werden. Es mangelt auch hier schlicht am Wollen.
Stattdessen baut man Sporthallen mit Parkdecks, wo vorher Parkplätze halb leer gestanden haben, selbst wenn im Umfeld immer mehr Parkhäuser entstehen. Gute Verkehrspolitik geht anders.
Aber wie heißt es so schön? „Der Schuster hat die schlechtesten Schuhe.“ Und warum sollte in der Stadt der ehemaligen Verkehrshochschule und heutigen Fakultät Verkehrswissenschaften der TU, wo viele interessante Konzepte auch zu diesem Thema entwickelt wurden und werden, die Stadtverwaltung davon Notiz nehmen? Der Prophet gilt nichts im eigenen Land.
Schön wärs, wenn man wollen würde was man tut
„Faust in uns“, Regie Andreas Neu, Theaterexperiment der Hochschule Zittau/Görlitz und des freien Theaterensembles Kunst.Bauer.Bühne sowie des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau am 27.02.13, letzte Vorstellung
Ein Trailer im Netz hat mich gelockt: Eine Faust-Inszenierung in ungewöhnlichem Ambiente, schwungvoll geschnittene Szenen, die neugierig machen. So fahre ich also in die ferne Provinz, im Bewusstsein, dass auch ich eine Art Provinz bewohne.
Der Zug nach Zittau ist gut gefüllt, es möge keiner behaupten, in der Oberlausitz wohnt keiner mehr. Nur mit dem Arbeiten ist es halt schlecht. Die Anzahl der benutzten smartphones übersteigt die der aufgeklappten Bücher beträchtlich, der Fortschritt ist auch hier angekommen. Aber ich höre vertraute Töne, es rrrulllt richtsch. Das Wort „Nato-Plane“ hab ich auch schon lang nicht gehört, man simpelt und facht über den Schutz der Automobile im Winter.
Sobald wir den Dresdner Kessel verlassen, wird es diesig, die Schneehöhe nimmt deutlich zu. Gelegentlich tauchen einige Häuser aus dem weißen Nebel, bis die Dämmerung alles verschluckt.
Warum ich mit dem Zug fahre? Man muss die Frage doch andersrum stellen: Warum fährt man nicht Zug? Im konkreten Fall fällt mir die Entscheidung angesichts der Wetterlage relativ leicht, zudem schafft nur Baron Münchhausen die Strecke in 1.25 h mit dem Auto. Gut, ich muss den letzten Zug um halb Elf kriegen, in Schiebock nochmal umsteigen, aber viertel Eins hat mich die Neustadt wieder. Wenn alles glatt geht.
Zum Thema:
Die Ankündigung des Stücks schlägt einen großen Bogen von der Überbevölkerung und dem immer mehr steigenden Ressourcenverbrauch, von den Grenzen des Wachstums und der unbeherrschbaren Ökonomie hin zur Aussage, dass „Faust … eine negative Figur“ wäre, „eine Karikatur des prometheischen Menschen“. Die Frage nach dem Faust in uns soll gestellt werden, und jene nach unserer Verantwortung in der heutigen Gesellschaft. Unterliegen auch wir dem Faustschen „Ruheverbot“? Sind wir überhaupt noch Herr unser selbst?
Eine Menge Holz, die da zu hacken sein wird.
Rein zufällig habe ich mit dem Thema ja momentan auch ein bisschen zu tun, bin deshalb natürlich besonders neugierig. Dass das Ganze im ehemaligen Labor der Elektrotechnik aufgeführt und von einem Wandflies zum Thema begleitet wird, komplettiert die Reihe von guten Gründen für meine Reise.
Ich hab die letzte Aufführung erwischt, die „Derniere“, wie ich inzwischen gelernt habe. Zehnmal wird es dann gelaufen sein. Nach Kritiken zum Stück zu suchen, hatte ich keine Lust bisher. Aber ich will mir ohnehin mein eigenes Bild machen. Dass das nun niemand mehr überprüfen kann, ist ja nicht meine Schuld.
Es ist noch Zeit bis zum Beginn, ich gönne mir einen Fußmarsch durch das Zentrum der Großen Kreisstadt Zittau. Oder ist es eher eine greise (Ex-) Großstadt? Gegen Sieben sind die Straßen verwaist, der Nebel drückt die wenigen Passanten nieder. Man könnte auch die Dreigroschenoper hier freiluft aufführen, auch wenn der Mond über Soho heute schlecht zu sehen ist, Mackie.
Eine Fußgänger-LSA (vulgo Ampel) am Theaterring (hörthört!) stoppt den spärlichen Menschenfluss, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Der Oberlausitzer hat noch Respekt vor der Obrigkeit. Meiner ist mir leider abhanden gekommen, ich quere die Straße und spüre empörte Blicke im Rücken.
Ehemals prächtige Fassaden säumen meinen Weg, Zittau war mal eine sehr reiche Stadt und gehörte zum Oberlausitzer Sechsstädtebund, einer Art Hanse. Die Substanz ist heute noch zu sehen, auch wenn die Fenster oftmals vernagelt sind.
Im Kino am Marktplatz gibt es „Stirb langsam“ im x-ten Aufguß. Nein, ich werde jetzt keinen blöden Witz im Zusammenhang mit Bevölkerungsentwicklung und regionalen Perspektiven reißen.
Schon vor geraumer Zeit gestorben ist das Kino „Schauburg“, jedoch gibt es Wiederbelebungsversuche. Leider ist es mir noch nicht gelungen, einmal dabei zu sein, die Dresdner Namensvetterin liegt halt doch günstiger.
Eine knappe Stunde vor Beginn treffe ich am Ereignisort ein. Ich fühl mich in die Studentenzeit zurückversetzt, endlos lange Flure, buntgesprenkelt durch Plakate jedweder Art, der Weg zu Faust ist ausgeschildert. Dann öffnet sich eine Tür, ja, hier wäre ich richtig, es sei ja noch Zeit, aber ich könne gern die Ausstellung ansehen. Und die Bar besuchen. Letzteres geht getreu dem alten Brecht vor.
Die freundliche Dame am Einlass nimmt meine zweite, übriggebliebene Karte zurück und will sie wieder verkaufen, was ihr auch gelingt. Ich bin positiv erschüttert. Die Oberlausitzerin ist freundlich, da merkt man immer wieder. Sympathische Gegend.
Das Zittauer Theater gehört übrigens nicht nur aus landsmännischen Gründen schon länger zu meinen Lieblingen, leider führen wir nur eine Fernbeziehung. Immerhin, eine sehr gute „Kabale und Liebe“ hab ich vor Jahren da gesehen, und an das „Kuckucksnest“ erinnere ich mich mit viel Freude. Und noch einiges mehr, enttäuscht bin ich eigentlich nie worden, auch, weil ich um die finanziellen Gegebenheiten des GHT weiß. Dass Tom Quaas dort inszeniert hat, freut mich sehr, leider habe ich das Stück nicht gesehen. Den fast alljährlichen Kampf um den Bestand des Hauses verfolge ich mit Sorge, dass das Haus nun saniert wurde, gibt ja immerhin ein bisschen Hoffnung auf eine langfristige Perspektive. Und die Premierenfeiern in der Villa Hirche sind um Einiges besser als das, was üblicherweise in Dresden stattfindet.
Nun aber dann doch schon zu dem, was wir sehen werden.
Der kluge Text auf dem Programmflyer ist dank seiner Ausführlichkeit dann doch plausibler als die wenigen Zeilen im Netz. Es wird auf den „Global Player Faust“ von Michael Jäger Bezug genommen, auf dessen Zweifel, ob das Streben an sich erstrebenswert ist angesichts der Folgen. Was ist denn so schlimm am Verweilen? Wenn jeder Ruhepunkt verschwunden ist, sind wir im Ewig-Leeren.
Auch Christoph Binswanger, der bereits in einem anderen Faust-Stück sich zum Thema Geld und der Gier danach äußert, wird zu „Geld und Magie“ zitiert. Die Schaffung des Papiergeldes, schon bei Goethe ein alchemistischer Vorgang, entkoppelt das Geld vom Gold und lädt förmlich ein, unsichere Wetten (da haben wir es wieder!) auf die Zukunft einzugehn.
Das Ambiente mit dem ehemaligen Labor der Fakultät Elektrotechnik darf man genial nennen. Der spröde Charme der Lehreinrichtung wird ergänzt durch Illuminationen und die Theatereinbauten. Die Bühne in ihrer Nüchternheit ist das ideale Podium für eine Sezierung des Faustschen Ansatzes.
Der Saal fasst etwa 150 Besucher, ca. zwei Drittel davon bevölkern ihn. Viel junges Volk, einige davon mit tschechischer oder polnischer Zunge, wir sind im Dreiländereck, angenehme Mischung. Die Getränke kann man mit reinnehmen, domestiziert durch die Dresdner Theater hab ich aus Unkenntnis mein Bier zuvor runtergestürzt. Naja, zur Pause weiß ich dann Bescheid.
Es beginnt etwas rätselhaft. Ein langes musikalisches Vorspiel, dann ein apokalyptischer Text. Faust ist in die heutige Arbeitswelt versetzt, eine Erzählerin beschreibt seine Qualen. Zumal auch das Koks alle ist, immerhin ist noch der Malt da. Burn out as usual, er ist kein Versager, nein, aber er ist tot. Der Wagner-Dialog wird von Pappnasen vorgetragen, Faust windet sich derweil im Krankenbett.
Mephisto, nein, Mephista erscheint, in Latex. Faust wettet, hätt ich auch gemacht.
Dann die Midlife-Crisis wieder im Fokus, ein Arzt mit Flasche beklagt die mangelnde Orientierung heute und erzählt uns seine HIV-Geschichte. Seele weg, alles weg.
Faust glänzt (nicht nur) durch eine beeindruckende Stimme und begibt sich in die Hexenküche, wo ihn eine propere Meerkatze sanft entkleidet. Der Zaubertrank kommt hier aus der Dose und verleiht Jugend. Als Helena muss Marylin herhalten, was ich dann doch etwas anmaßend finde. Hoffentlich werden die Götter nicht böse.
Mephisto sieht nun aus wie der selige Dirk Bach in schlank, beide tragen quietschbunte Hemden wie der Typ aus dem Fernsehen, dessen Namen ich mir zum Glück nicht merken kann.
Das Gretchen wird hier etwas anders kennengelernt, er solle doch „wieviel“ fragen, regt sie an. Faust mag es offenbar klassisch und verzieht sich erstmal.
Dann doch die Gretchenfrage. Eine prima Rollenverteilung, Grete flitzt wie ein Weberschiffchen zwischen den beiden Fäusten hin und her, die abwechselnd versuchen die Frage wegzudefinieren.
Wir springen in den Alltag und in das gefürchtete Beziehungsgespräch. Der Schlips bleibt zu kurz und Mann und Frau passen sowieso nicht zueinander. Köstlich, eine Aufwärtsspirale wie bei Loriot, unaufhaltsam bis zur Explosion. „Leben ist grundsätzlich anstrengend“, versucht er noch auszuweichen, aber sie liest seine Gedanken: „doch mit Dir ganz besonders“. Dabei wollten sie doch nur was gemeinsam unternehmen …
„Ich wäre schon froh, wenn ich immer das wollen würde, was ich tue“, in diesem schlichten Satz manifestiert sich seine Wunschlosigkeit und gesellschaftliche Kompatibilität.
Vor der Pause noch ein Ärgernis, eine Talkshow-Persiflage über die Ratlosigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, die leider nicht über Kabarettniveau hinausgeht. Ein Klischee-Stadel, plakativ und verzichtbar die Szene.
Es beginnt wieder mit einem bitteren, sprachgewaltigen Monolog namens Entropie, der dankenswerterweise auf Zettelchen ausliegt. In der Kerkerszene am Ende von Faust I wird sein Text durch Strophen aus Faust II ersetzt, was einen schönen Effekt gibt, Grete und Heinrich reden aneinander vorbei, sie erzählt von Zweisamkeit, er von der großen ganzen Welt. Da ist auch nichts mehr zu retten.
Kofferträger im Gleichschritt leiten zum Kaiser über, der immer nur Gejammer hört. Es fehlt an Geld? „So schaff es denn!“ Des Kaisers Skepsis weicht, als das von Faust/Mephisto „ausgegrabene“ Papiergeld seinen Jecken wohl gefällt und sie zum Konsum anreizt. (Papier-) Geld wird durch Glauben zu Gold.
Wachstum! Wachstum! Noch mehr Wachstum!
Ein sehr guter Dialog zwischen Kaiser und Faust übrigens.
Dann eine Fotosequenz, in blitzartiger Folge werden Bilder von Herrschern und Sonstigen mit Schlag-Halbsätzen kombiniert. Ich erkenne immerhin George W. mit Lügnernase, kann ansonsten aber damit nicht viel anfangen. Das kommt mir zu bedeutungsschwer daher.
Am Ende ist Faust glücklich. Sagt er zumindest, aber so richtig sitzt der neue Text noch nicht. Doch er macht gute Fortschritte, sagt die Therapeutin.
Man muss sich das vorstellen wie in Clockwork Orange, was von den Toten Hosen so kongenial vertont wurde. Alex ist jetzt ein guter Bürger, ein neuer Mensch und systemkonform, die Gehirnwäsche hat funktioniert.
Der Darsteller des Faust (leider sind die Namen nicht den Rollen zuordenbar) hier mit seiner besten Leistung, sehr beklemmender Monolog.
Ein beeindruckendes, aussagekräftiges Schlussbild, dann Dunkelheit, dann Stille.
Herzlicher Applaus, an dem ich mich leider nur kurz beteiligen kann, der Zug wartet nicht. Nach einem straffen Marsch durch die verwaiste Innenstadt treffe ich rechtzeitig am Bahnhof ein, und neunzig Minuten später in Dresden, der Text ist inzwischen fertig.
Ein interessantes Stück, das ich empfehlen würde, wenn es nochmal käme. Eine gute Ensembleleistung, ein passendes Ambiente, ein Theatererlebnis, wie es sein soll. Ich hab den Ausflug nicht bereut.
Nur schade, ich hätte gern früher der geneigten Öffentlichkeit hiervon berichtet. So bleibt mir nur diese postume Würdigung und der Vorsatz, die Projekte der Kunst.Bauer.Bühne künftig aufmerksam zu verfolgen.
Die fünf Anomalien des Autofahrers
In meinen gut vier Jahrzehnten als Verkehrsteilnehmer ist mir ein Sachverhalt immer wieder bewusst geworden, den ich anfangs nur ahnte, letztlich mit langjähriger Feldforschung und einigen Selbstversuchen vorgestern endlich endgültig verifizieren konnte:
Der Autofahrer unterscheidet sich vom normalen Menschen durch einige Anomalien, genauer gesagt durch Stücker fünf an der Zahl. Diese sollen im Folgenden kurz skizziert werden.
A1 (um hier einen Fachterminus zu verwenden):
Bewusstseinsübergang vom Fahrer zum Fahrzeug
Im Ergebnis kann der Fahrer die Körperlichkeiten beider Ob- bzw. Subjekte nicht mehr sauber trennen, es kommt dann zu dem schönen Satz „Ich steh dahinten“. Von anderen Transportmitteln ist dies bisher nicht bekannt, weder bei Kreuzfahrtschiffen, Bollerwagen, Fahrrädern oder Pferden liegen entsprechende Augenzeugenberichte vor. Ob der Bewusstseinsübergang auch bei LKW und Motorrädern stattfindet, ist in der Fachwelt noch umstritten.
A2:
Übertragung der Hygieneregeln vom Fahrer auf das Fahrzeug
Diese eng mit A1 verwandte Anomalie führt dazu, dass der Fahrer seine eigenen Körperpflegerituale auch an seinem Fahrzeug ausführt. Gern wird dies im traditionellen Fahrzeugpflegergewand vollzogen, das aus einem ehemals weißen Feinrippunterhemd, einer zerschlissenen Jogginghose in Schockfarben (wichtig sind dabei die großen Beulen an den Knien) und strassentauglichen Pantoffeln besteht. Profis tragen dazu noch ein Käppi mit der im Besitz befindlichen Automarke, um nicht versehentlich den falschen Wagen zu putzen.
Es sind auch Fälle einer vollständigen, also restlosen Übertragung des eigenen Reinigungsbedürfnisses auf das Fahrzeug bekannt, bzw. es wurden solche ruchbar.
A3:
Persönlichkeitsspaltung am Steuer
Die letzte der intrarelationalen Anomalien beschreibt die Verwandlung eines an sich friedfertigen Menschens in einen überreizten Fluchkanonier, der seine Umwelt generell als feindlich betrachtet, sobald er ein Lenkrad umfasst. Hier steht die Wissenschaft noch ganz am Anfang, eine Arbeitshypothese geht von einem doppelt asymptotischen Zusammenhang zwischen dem Verhalten außerhalb und innerhalb des Fahrzeugs aus, d.h., beide Alltagsextreme (lammfromm und bösartig) zeigen signifikant negative Verhaltensweisen im Verkehr, alle anderen sind irgendwie beherrschbar.
Über die Ursachen dieses Phänomens ist erst recht nichts bekannt, auch kennt man bislang kein Gegenmittel.
B1:
Krankhaft verändertes Rechtsempfinden
Hier handelt es sich um eine Anomalie in Bezug auf die (natürlich feindliche) Umwelt. Sie tritt oftmals in Verbindung mit A3 auf und führt beim Fahrer zum Grundgefühl, generell im Recht zu sein. Gern wird dies auch mit „eingebauter Vorfahrt“ beschrieben, vor allem bei Fahrzeugen mit höherem Kraftstoffverbrauch. Der davon Befallene nimmt Verkehrszeichen und Ampeln nur dann wahr, wenn sie ihn in Vorteil setzen.
Sollte sich das Problem nicht kurzfristig von selbst erledigen, erzielt man gute Therapieerfolge mit der Verschreibung von Kleinwagen oder bei schweren Fällen mit der Versetzung in den einstweiligen Fußgängerstatus.
B2:
Selektive Wahrnehmung von Verkehrsteilnehmern
Diese Anomalie ist inzwischen so weit verbreitet, dass die Fachwelt sich streitet, ob sie überhaupt noch als solche bezeichnet werden kann.
Sie bezeichnet das Vermögen von Autofahrern, durch nichtmotorisierte Strassenpartner einfach hindurchzusehen. Gut beobachten lässt sich dies an Einmündungen unterrangiger Strassen (wer nicht gesehen wird, kann auch kein Vorrecht haben) oder beim beliebten Parken vor abgesenkten Bordsteinen. Da ersteres inzwischen zum guten Ton gehört, verzichten viele Fußgänger und Radfahrer inzwischen auf die Ausübung ihres Vorrangs und tragen damit dazu bei, diese Anomalie in eine gesellschaftlich anerkannte Verhaltensweise zu überführen.
Das Vorstehende kann natürlich nur der allererste Einstieg in eine breit angelegte, interdisziplinäre Forschung sein. Neben der notwendigen weiteren Befassung mit den Grundlagen (eventuell sind sogar weitere Anomalien zu entdecken) gibt es zahlreiche Einzelfragen, die einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen. Exemplarisch seien genannt:
- Aus welchem Missverständnis speist sich das oftmals angenommene Menschenrecht auf kostenloses Parken vor der eigenen Haustür?
- Warum kauft jemand Pseudo-Geländewagen, wenn er doch maximal Bordsteine überfährt?
- Was führt zur generellen Ignorierung von Geschwindigkeitsvorgaben bei ansonsten kreuzbraven Bürgern?
- Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Selbstbewusstsein des Fahrzeughalters (oder ggf. von körperlichen Ausprägungen) und der Leistungsstärke seines Fahrzeugs?
- usw.
Also ein weites, dankbares Feld, ihr jungen Forscher und -innen. Frischauf ans Werk, oder auch: Vollgas! Die Welt wird es euch einmal danken.
Kunst am öffentlichen Verkehr – legitimes Recht oder illegale Inbesitznahme?
Einige subjektive Betrachtungen, inspiriert von einem mailwechsel
Alles begann mit einem Hinweis auf der Plattform cynal.de:
Conceptual Vandalism
03.12.2012 14:57
“ Eine ganz kriminelle Ausstellung“
Mitte der 1980er schwappte das US-amerikanische Phänomen U-Bahn Wagen zu besprühen nach Europa über. Da es in wenigen Städten großflächige Metrosystem gab, konzentrierte man sich auf andere Nahverkehrsmittel . S-Bahnen und Regionalzüge schienen das perfekte Pendant zu sein, um die amerikanischen Vorbilder zu imitieren. Die Writing Ideologie “Schreibe deinen Namen so oft wie nur möglich auf Züge” wurde dabei übernommen.
Seit 2000 sind neue Tendenzen zu entdecken. Das simple Namedropping wurde einer Gruppe Sprüher zu langweilig. Sie entwickelten neue Strategien auf Zügen zu malen. Bis 2009 war es eine kleine Gruppe an Zugkünstlern, die sich vom klassischen Writing auf Zügen getrennt haben. Seitdem scheinen, durch den Einfluss des Internets, immer mehr Writer das “Züge Verkunsten” als ernsthafte Strategie zu begreifen.
Conceptual Vandalism fasst eine Gruppe Zugmaler zusammen die bereits vor 2009 im non-writing Kontext konzeptuell auf Zügen arbeiteten.
Werke der Ausstellung
Die Originalkunstwerke werden in Deutschland immer binnen kürzester Zeit zerstört. Die Fotografie ist das am weitesten verbreitete Medium zur Dokumentation der Werke.
Deshalb zeigt die Ausstellung vor allem dokumentarische Fotografie. Ergänzt wird der Inhalt durch Skizzen, Objekte, Videos und Internetinhalte.
Künstler
An der Ausstellung beteiligen sich Künstler, die nicht öffentlich in Erscheinung treten. Die Künstler agieren ausschließlich im Untergrund. Zugmalerei ist bis heute illegal und wird strafrechtlich verfolgt.
Kurator: Jens Besser
Der Verfasser fühlte sich berufen, seine Meinung als Kommentar dazuzugeben:
„Züge verkunsten“, so kann man das auch nennen.
Unabhängig vom künstlerischen Wert der Hervorbringungen und von der Diskussion, ob man ohne weiteres anderer Leute / Firmen Eigentum als Grundfläche für seine Arbeiten nehmen sollte: Ich schau gerne aus dem Fenster in der S-Bahn. In der Straßenbahn ist das ja inzwischen meist durch Werbung verklebt.
Was ich wirklich schick fände, wär mal eine farbenfrohe Aufhellung der inzwischen unzähligen Stadtgeländewagen, aber privates Eigentum scheint höher zu stehen als quasi-öffentliches. Schade.“
Der Kurator Jens Besser antwortete prompt und ausführlich. Es entspann sich eine Diskussion per mail, die kurzzeitig und teilweise auf dem blog teichelmauke.me dokumentiert wurde, dort aber wegen einiger Missverständnisse nicht mehr zu finden ist.
Davon angeregt, entstand aber der folgende Text, der nicht den Anspruch haben soll, ein „Urteil“ zu fällen, aber dank der vorausgegangenen Debatte etwas gelassener mit dem Thema umgeht.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass wir alle in (rechtlich) sehr geregelten Verhältnissen leben. Für jeden Lebensbereich gibt es unzählige Gesetze, Richtlinien und Vorschriften, und wenn doch mal eine Lücke auftaucht, hilft meist das Bürgerliche Gesetzbuch.
In diesem nimmt das Eigentum einen prominenten Platz ein. Auch durch die Verfassung ist es geschützt, obgleich dort auch die Wendung „Eigentum verpflichtet“ zu finden ist.
Wenn also jemand (A) hergeht, das Eigentum eines anderen (B) mit was auch immer zu versehen, ohne dass ihm dessen Einwilligung vorliegt, ist dies in unserer Gesellschaft Unrecht, und B kann erwarten, dass deren Vollzugsorgane gegen A aktiv werden, um B zu seinem Recht zu verhelfen. So weit, so theoretisch.
Schwieriger scheint die (mentale) Lage zu sein, wenn es sich bei B um ein Unternehmen im Besitz des Staates (also von uns allen) handelt und bei A um einen ambitionierten Künstler, der seinen Werken damit öffentliche Aufmerksamkeit bescheren will, auch, um Nachdenken zu provozieren und für Aufklärung zu sorgen (oder zumindest das, was er dafür hält). A beruft sich dabei auf die Kunstfreiheit und die positiven Reaktionen, die er gelegentlich erfährt.
„Juristisch“ ändert das natürlich nichts, aber darum soll es hier nicht gehen. Ich will ein wenig über die etwaige moralische Rechtfertigung oder mögliche Alternativen nachdenken.
Einen „Notstand“ zu definieren, bei welchem die Gesetze nicht mehr gelten, dürfte selbst dem glühendsten Verfechter dieser Kunstform schwer fallen. Unzweifelhaft ist Kunst dringend notwendig, aber aus der Verhinderung einer sehr kleinen Sparte davon erwächst noch kein Recht zum Regelbruch.
Auch die Krokodilstränen, die wegen der gewöhnlich schnellen Zerstörung dieser Schöpfungen vergossen werden, können mich nicht rühren. Jeder Sprüher weiß das vorher, und jedes infrage kommende Werk mit dem Titel „Kunst“ zu schmücken und ihm damit den Status einer heiligen Kuh zu verschaffen, scheitert an der fehlenden Ausstattung der Fahrzeugwerkstätten mit künstlerischem Fachpersonal.
Hier sei auch auf „Nipple Jesus“ verwiesen, ein Stück von Nick Hornby, das derzeit am Schauspielhaus läuft. Hier ist die Zerstörung (und deren Dokumentation) eines Bildes das eigentliche Kunstwerk, was sich aber sicher nicht 1:1 übertragen lässt.
Berechtigterweise kann man nun einwenden, dass „legal“ diese Kunst so gut wie unmöglich sei, da Unternehmen wie B im Allgemeinen nicht von Leuten geleitet werden, die für ihre Kunstsinnigkeit bekannt sind. Aber auch das reicht als Argument bei weitem nicht aus, die von B meist so genannte „Sachbeschädigung“ zu vollziehen.
Interessanter ist aber die Frage nach einem „öffentlichen Interesse“. Ist es für die Gesellschaft wichtig, solche Kunstformen zu fördern, auch wenn diese sich bisher meist illegaler Methoden bedienen? Hier fällt mir ein „Ja“ nicht schwer, auch wenn die Meinungen über den Grad des Interesses der Öffentlichkeit zwischen Jens Besser und mir deutlich auseinandergehen.
Nur, wie? Natürlich gibt es auch hier Behörden und Institutionen, die sich dafür zuständig fühlen müssten, wir haben ja sogar auch seit mehr als zehn Jahren einen Bundeskultur- äh, Beauftragten. Nur ist es sicher illusorisch zu glauben, dass beispielsweise das Dresdner Kulturamt die Sprayflaschen kaufen würde, mit denen dann nachts die S-Bahn verkunstet wird.
Die Lösung kann ja nur sein, dass diese Institutionen behilflich sind, diese Kunstform in die Legalität zu überführen, indem sie vermitteln, fördern und organisieren. Dass dies ein dickes Brett ist, was zu bohren wäre, weiß ich selbst.
(Ich habe allerdings den leisen Verdacht, ohne ihn mangels Szenekenntnis belegen zu können, dass für einige Akteure dann der Reiz des Nervenkitzels entfiele und sie ihre gewohnte Arbeitsweise fortsetzen würden. Aber das ist nur eine Behauptung.)
Dies hätte übrigens einen weiteren Vorteil: Die Arbeiten würden zuvor kuratiert werden. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, muss man sich ja doch oft viel Schrott ansehen, auch handwerklich betrachtet (ok, das ist subjektiv).
Das ist nämlich meiner Meinung nach neben der Unrechtmäßigkeit der zweite große Mangel an der aktuellen Situation: Jeder, der sich traut und eine Sprühflache halten kann, verschafft sich ein Podium, egal, ob er eine anspruchslose Sammlung von Tags produziert oder ein ambitioniertes Bild. Ich hatte mich im mailwechsel mit dem Kurator auch schon über die Arroganz jener ereifert, denen das Zuglayout zu langweilig sei und die es deshalb nach eigenem Duktus aufhübschen wollten.
Nicht, dass ich glaube, das oben Geschilderte wäre illusorisch. „Irgendwann“ kann ein solcher Zustand eintreten, Jens Besser erwähnte auch einige entsprechende Aktivitäten. Der Zeitraum bis dahin dürfte allerdings ein großer sein. Also was tun, bis es soweit ist?
Meiner Meinung nach gibt es keine dringende Notwendigkeit, auf Fahrzeuge zu sprühen (die Experten werden vielleicht widersprechen). Die Werke wirken ebenso auf bewegungslosen Flächen, auch wenn sie dort vielleicht nicht dieselbe Reichweite erzielen. Und es gibt überall genug Ruinen, denen eine Gestaltung gut täte (auch dies ist an sich nicht rechtmäßig, aber deutlich unproblematischer).
Nur wird diese meine Meinung die Protagonisten der Szene nicht sonderlich interessieren, es wird also weitergehen mit dem Sprayen, wobei zu hoffen ist, dass parallel eine „legale Szene“ heranwächst, die sich dann – auch dank der zu erwartenden qualitativen Überlegenheit – irgendwann durchsetzen wird.
Dass diese sich dann natürlich aus dem vormals illegalen Agieren herleitet und dort ihre Wurzeln hat, ist unbestritten. Und im Umkehrschluss würde sich daraus auch eine gewisse Legitimation der wilden Sprayerei ergeben, originellerweise aber eben erst in dem Moment, wo genug gesellschaftliche Akzeptanz vorhanden ist. Ich denke, dass es da viele Parallelen zu anderen Entwicklungen gibt, nur leider meist mit dem Unterschied, dass sich die Vorreiter nicht illegaler Methoden bedienten resp. bedienen mussten.
Abschließend: Beim Mailwechsel mit Jens Besser habe ich auf diesem Felde vieles dazugelernt, ich sehe jetzt einiges differenzierter. Zum Konsens sind wir aber nicht gelangt, wie auch.
Ein Zitat von ihm: „Sprüher sehen ihre Werke eben als Kunst und nicht als Vandalismus.“ Ja, gern, aber auch die Kunst heiligt nicht alle Mittel.
Ich wünsche mir sehr, dass es mehr Kunst im öffentlichen Raum gibt, auch auf Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs. Ich denke aber, dass das noch ein langer Weg ist, und ich glaube nicht, dass das eigenmächtige Besprühen von Zügen uns da wesentlich voranbringt. Es verhärtet eher die Fronten. Hier ist Vermittlung gefragt, und vielleicht auch mal eine Art Waffenstillstand.
