Kategorie: Betrachtungen
Die Stadt braucht mehr Beton
Der Elite unseres kommunalen Demokratietheaters sei Dank: Wir haben Beschluss, wir sind Brücke. Der vierspurige Holger vom Team Krawallo und seinen Brüdern und Schwestern im Geiste vom Stamme der betonummantelten Rechtsfossilien ist es tatsächlich gelungen, der weltgrößten und bedeutendsten Landeshauptstadt von ganz Sachsen an einem Nachmittag den mittelfristigen Haushalt zu crashen als auch der Stadtgesellschaft für die nächsten zehn Jahre ein Diskussionsthema zu besorgen, das alles hat, was eine Provinzposse so braucht.
Vielleicht war ja Letzteres das Entscheidende: Im Wissen darum, daß der gewählte Weg in einer juristischen Extraschleife landen wird, baut man schon am Wahlkampfschlager für das Superduperwahljahr 2029, wo man dann dem kleinen Mann auf der Umgehungsstraße und der alleinerziehenden Seniorin mit Mindestrente sowie allen jungen Familien auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum und Verwahrmöglichkeiten für die 2,3 Durchschnittsplagen erklären kann, daß nur eine breitestmögliche Carolabrücke all ihre Probleme lösen kann. Denn spätestens wenn es vier Entwürfe für das neue stadtbildprägende Monstrum gibt und einer davon zum Bau auserwählt wird, darf man getrost davon ausgehen, daß die üblichen Verdächtigen auf der guten Seite der Macht (die „Träger öffentlicher Belange“, kurz TÖB) gerichtlich überprüfen werden lassen wollen, ob der Begriff „Ersatzneubau“ nicht doch etwas überdehnt wurde angesichts Breite und Überdimensioniertheit des Bauwerks. Es sei denn, die Merzsche Kettensäge hat bis dahin das Verbandsklagerecht geschreddert, auszuschließen ist das nicht, wo es doch um Wachstum geht.
Gewachsen sein dürfte auch eine Erkenntnis in der hiesigen Wissenschaftsszene: Melde dich nur zu Wort, wenn du gefragt wirst, und äußere dich dann gefälligst nur im Sinne der gefühlten Mehrheit, sonst bist du ganz schnell eine „sogenannte Expertin“ und selbsternannt sowieso. Gute Aussichten für den Wissenschaftsstandort Dresden, aber scheiß auf Exzellenz, Prognosen sind sowieso Ideologie und was gut für Dresden ist, liegt per Definition im Bauchgefühl des Volkskörpers, und wer wüsste besser als die CDU, was dort im Dickdarm so abgeht?
IHK, Handwerkskammer und andere Lobbyisten sind dagegen sakrosankt, die sorgen schließlich dafür, daß es in Dresden brummt, wenn auch derzeit unter nahezu unmenschlichen Bedingungen im täglichen 15 min – Stau auf den Hauptachsen. Was in Dresden „Verkehrschaos“ heißt, wird in wirklichen Großstädten übrigens Berufsverkehr genannt, aber in ihrer Selbstbezogenheit und Larmoyanz lässt sich diese Stadt von niemanden übertreffen. Soll man es „Eierschecken-Blues“ nennen? Dresden hat es ganz ganz schwer, nur merkt das außerhalb des Elbtals niemand, wie gemein.
Nun werden wir also viel Geld, sehr viel Geld an vier Ingenieurbüros zahlen, die dann jeweils eine Lösung für ein nicht existierendes Problem erarbeiten. Das gibt zumindest der planenden Zunft Lohn und Brot und ist deshalb nicht grundsätzlich abzulehnen – aber mit dem Wissen, de facto für die Papiertonne zu arbeiten, motiviert man sicher keine Ingenieurin zu Höchstleistungen. Vielleicht gibt es auch beim vorgeschalteten Vergabeverfahren Rügen und Einsprüche, dann hätten wir schonmal eine Strafrunde über die Vergabekammer geschossen. Warum unbedingt vier, lässt sich leider weder religiös noch metaphorisch begründen. Phantastisch ist daran nichts, und die Drei wäre naheliegender gewesen, wenn man der Dreifaltigkeit und Monty Python glauben mag, und auch die Sieben hätte Charme – Zwerge, Schwaben und Geißlein fallen mir da ein.
Persönlich freu ich mich auf die nächsten Jahre. Holger „Generalexperte“ Zastrow wird seiner Klientel erklären, daß die Schwimmhalle in Klotzsche deswegen nicht gebaut werden könne, weil ein übergriffiger Staat der Carolabrücke Rad- und Fußwege vorschreiben würde, die schon deswegen überflüssig seien, weil er da nur motorisiert drüberfahren würde. Die CDU wird dann ihren regionalen Eischnee drüber kippen und auf die Sozen schimpfen, die dem Fortschritt im Wege stünden. Die Rechtsextremen werden fordern, daß die neue Brücke nur für richtige Deutsche freigegeben werden solle, weil sich die Auslenda nur Dank ihrer genetisch bedingten Kriminalität ein Auto leisten könnten. Das BSW wird darauf bestehen, daß zur Eröffnung Frank Schöbel singt. Viel Gelegenheit also, die ganzen Provinzpossenreißer zu verspotten.
Im Übrigen glaube ich fest daran, daß am Ende eine wirklich schöne und bedarfsgerechte Brücke entstehen wird – ob ich es selbst erlebe, da bin ich allerdings skeptisch.
Nicht grausam ist gut
Robert Stadlober war am 26.09.2024 mit einem Tucholsky-Programm beim LITERATUR JETZT! – Festival im Zentralwerk Dresden, und er hat mich begeistert.
http://www.kultura-extra.de/literatur/veranstaltung/programm_RobertStadtlober_LiteraturJetzt2024.php

Eine unterirdische Idee – die Dresdner CDU will tunneln
Wahlkampfzeiten sind dankbare Zeiten für Spötter und Klugscheißerinnen. Zu offensichtlich sind die Stilblüten, als daß man der Versuchung widerstehen könnte. Diesmal soll aber nicht der verhinderte Deutschpauker in mir zum Zuge kommen, es geht um andere Dinge.
Bei jeder Wahl geht es ja auch darum, die MLPD in puncto Dümmlichkeit auf den Wahlplakaten zu überbieten. Auch dieses Mal gab es einige hoffnungsvolle Versuche, aber die Genossen haben die Angriffe souverän mit „Arbeiter in die Offensive“ abgewehrt. Chapeau! Aber dies nur nebenher, es soll hier nicht um die Weltrevolution gehen, sondern um profanere Dinge.
Wie im Bilde zum Text zu besichtigen ist, möchte die CDU Dresden-Neustadt in Person von Johannes Schwenk den Neustädter Markt mit einem Autotunnel bereichern und damit eine „Flaniermeile zwischen Albertplatz und Altstadt“ schaffen. Neustädter Markt, das ist dort, wo ein scheinbar goldenes Pferd samt pummeligen Reiter der barocken Langeweile den Rücken zuwendet, um durch eine platanengesäumte Hauptstraße seiner Befreiung entgegen zu galoppieren (meine Interpretation). Oftmals muss es dabei durch Würstchen- und Nippesstände hindurch, die dann „Fest“ genannt werden, in Verbindung mit Jahreszeiten oder was der Marketing-Kalender sonst so hergibt. An Weihnachten (wie es anderswo heißt, was die Weltläufigkeit des Verfassers belegt) gibt es die Festivität gar unter Leitung eines stadtbekannten Gastwirts und Grünenfressers, der neuerdings seinen Namen zum Programm gemacht hat, übrigens genau wie eine Dame mit stählernem Antlitz, die er aber vermutlich gar nicht leiden kann. Aber was weiß ich schon von der Kollegialität unter Populisten (Frauen sind mitgemeint).
Ich schweife ab. Hier soll es doch um die mit Verlaub unterirdische Idee gehen, im Zuge der Großen Meißner Straße einen großen Dresdner Tunnel zu graben. Hatte man vor Wochen auf einschlägigen Plakaten noch schamhaft gefragt, ob dies wohl sinnvoll wäre, sind nun alle Hemmungen gefallen, der Spruch ist mit einem Ausrufezeichen versehen.
Ich gehe davon aus, daß der (mir) unbekannte Kandidat Schwenk die finanzielle Situation der weltgrößten Landeshauptstadt von ganz Sachsen einigermaßen überblickt. Vielleicht ist ihm sogar bewusst, daß sogar für den Neubau der Nossener Brücke noch zahlreiche Scheinchen zusammengekratzt werden müssen, ehe es zum großen Werke kommen kann, was nicht unwesentlich daran liegt, daß ein früher in Dresden tätiger Kassenwart nunmehr konservativ (also bewahrend) auf den freistaatlichen Töpfen sitzt. Auch einige andere Infrastrukturprojekte der Kommune, denen Dringlichkeit zugesprochen werden muss, sind „finanziell nicht untersetzt“, wie es in diesen Kreisen heißt, bei Bedarf könnte ich eine Liste senden.
Aber das Praktische an einer solchen Forderung, mal eben 100 Millionen plus x im HQ50-Gebiet der Elbe zu vergraben (könnte ich erklären, aber es soll hier niemand überfordert werden), ist ja, daß man nie in die Verlegenheit kommen wird, diese ernsthaft diskutieren zu müssen, sie gleichwohl irgendwie als innovativ hängenbleibt, solange man nicht drüber nachdenkt. Es ist ein bißchen so wie ein schöner großer Wahlkampfballon voller heißer Luft, der ganz schnell aufsteigt in schwindelerregende Höhen, dann außer Sicht gerät und abgekühlt auf irgendeinem Rieselfeld weit vor der Stadt landet. Aber dann hat die hiesige CDU sicher schon einige andere Säue über die Augustusbrücke getrieben.
Nochmal im Klartext: Die Stadt hat für solchen Schmarrn auf Jahrzehnte hinaus kein Geld, und der Freistaat auch nicht. Der Bund nicht, die EU nicht, und wenn es die Weltregierung wirklich gibt, hätte die dafür auch nichts übrig. Oder was soll Dresden dafür besser liegenlassen? Blaues Wunder verschrotten, BUGA absagen, ESMC-Erschließung sein lassen, Tunnel am Wiener Platz sperren (weil nicht mehr sanierbar), Ullersdorfer Platz canceln, Schulen und Kita verrotten lassen, Königsbrücker Straße und Stauffenbergallee unter Denkmalschutz stellen? Ideen sind willkommen.
Mal abgesehen davon, daß es also „schwierig“ wird, das Geld dafür zu besorgen, ist die Idee als solche aber auch krude. Die Piktogramme auf dem Bild sind zwar ganz hübsch, aber entsprechen nur links der Wahrheit. Das erste illustriert tatsächlich zutreffend die Maxime der Verkehrsplaner des vorigen Jahrhunderts (das in Dresden nachvollziehbarerweise noch bis 2016 andauerte) „der Fußgänger gehört unter die Erde“, unabhängig übrigens von der Weltanschauung. Was mittig den Ist-Zustand beschreiben soll, vernachlässigt den Umstand, daß durch die revolutionäre Erfindung der LSA (Lichtsignalanlage, vulgo „Ampel“) der Verkehrsraum zumindest auf der Zeitachse unterschiedlich zugeordnet werden kann.
Das Problem, was hier beschworen wird, ist schlicht keines. Im Gegenteil, mit dem Umbau der Kreuzung und der Sperrung der Augustusbrücke für den privaten Autoverkehr sind dort Verhältnisse zu verzeichnen, von denen in anderen Stadtteilen geträumt wird. OK, es fehlen längs der Großen Meißner noch ordentliche Radwege, aber das sind vergleichsweise Luxusprobleme.
Dreist ist allerdings die Darstellung rechts. Gerne wüsste ich, was mit der Straßenbahn passiert, wie künftig die Andienung des Hotels und der Museen erfolgt und wo die Ver- und Entsorger sowie die Rettungsdienste fahren sollen. Das ganze ist eine große Mogelpackung, denn eine oberirdische Verkehrsführung wird immer notwendig sein, wenn auch nur noch mit einer Spur je Richtung. Aber das kann man deutlich billiger haben.
Die für einen Tunnel erforderlichen Rampen werden mitten im Carolaplatz und am Palaisplatz beginnen müssen, damit ist die generelle Umgestaltung dieser Örtlichkeiten verbunden. Von mir aus kann man ja gerne ein Stückchen vom Palast des Ministerpräsidenten abschneiden, aber beim Japanischen Palais bin ich hartleibig, dort findet schließlich neuerdings das Sommertheater des Staatsschauspiels statt (wenn auch leider sonst nicht viel). Ohne das weiter zu vertiefen, aber die Idee ist derart unsinnig, daß man sich fragt, in welcher Wissenschaft Herr Schwenke denn mitarbeitet (mehr als „wiss. MA“ gibt die Vorstellung auf der website des CDU-Ortsvereins nicht her). Vermutlich wird er Wasser- und Kofferträger eines Landtagsabgeordneten sein, aber ich bin zu faul zum Recherchieren, und so wichtig ist er nun auch nicht.
Lassen wir es mit einem Lehrsatz beenden: Wenn du selbst keine konkreten und sinnvollen Ideen hast, denk dir was aus, was schön klingt, aber nie in die Nähe einer Realisierung kommt. Dann gehst du erstmal als Visionär durch und musst nie ernsthaft darüber diskutieren. Und zur nächsten Wahl mach dann einen Schwenk, es bieten sich die Flugtaxis an.
Ritter der Obstschale als 2tbeste Lösung
Gundermann: Alle oder keiner
Eine Revue über Helden, Gras und Kohle von Tom Kühnel
Premiere am Staatsschauspiel Dresden am 9. Oktober 2020
„Alle Stücke, die ich schreiben wollte, macht schon der Tom …“ ist als beim Meister entliehenes Eingangs-Zitat in diesem Falle durchaus angebracht, in aller Unbescheidenheit, weil es im Falle der Teichelmauke um genau ein Stück geht, das jener immer schon mal zu Papier bringen wollte und das nun Tom Kühnel vor ihm getan hat.
Mit Bravour, soviel sei vorweggeschickt, und aus meinen hochfliegenden Plänen wäre eh nix geworden, vermutlich, und ich tröste mich nun unter anderem damit, daß auch Profis des Genres die Relevanz von Gundermann für die Theaterbühne erkannt haben.
Meister ist übrigens die Bezeichnung, die wir im Freundeskreis schon seit Jahren für den Gundermann verwenden, und daraus wird zum einen meine Befangenheit in dieser Sache ersichtlich, aber auch die Prägung durch ein inzwischen sechzigsemestriges Studium der Gundermannistik, das leider nur in den ersten Jahren einen starken Praxisbezug aufwies. Will sagen, in Sachen Gundermann macht mir so schnell niemand etwas vor, ich bin aber auch fix beleidigt, wenn etwas nicht meiner Meinung davon entspricht, wie man den Gundermann heute vorstellen muss. So war ich mit dem Spielfilm „Gundermann“ von Andreas Dresen nur halbwegs glücklich, die danach erschienene Doku „Gundermann Revier“ von Grit Lemke schätze ich hingegen sehr. Mit dem halben Dutzend Bands, die sich um den Nachlass von Gundermann verdient machen, von „Die Seilschaft“ über die „Randgruppencombo“ bis hin zu Christian Haase werde ich sehr unterschiedlich warm, aber das tut hier nichts zur Sache und trägt nur zum imaginären Zeilenhonorar bei.
Tom Kühnel ist da vermutlich emotional weniger vorbelastet, und das tat seiner Revue durchaus gut. Mit den musikalischen Leitern Matthias Trippner und Jan Stolterfoht inszenierte er die Gundermann-Stücke in nahezu jeder denkbaren Stilrichtung vom Nina-Hagen-Quietschgesang über einen wirklich guten Blues und über Belcanto bis zum Death Metal, zumeist gelungen und in der Regel auch kongenial interpretiert – von den üblichen Verdächtigen Henriette Hölzel, Jannik Hinsch und Thomas Eisen hatte man das erwartet, positiv zu überraschen wusste auch Betty Freudenberg.
Eine Revue wird naturgemäß weniger von der Handlung getragen, dennoch orientierte man sich biographisch und schilderte Leben und Wirken des Gundermann fast chronologisch. Das hatte durchaus seinen Reiz, auch wenn dem einschlägig Gebildeten manche Szenen aus Film und Doku sehr bekannt vorkamen. Die 1:1 – Übertragung auf die Bühne war sicher nicht die beste Idee des Abends, auch nicht die Playback-Variante von Interview-Sequenzen aus dem sozialistischen Alltag von damals, die nach der ersten Erheiterung schnell ermüdete.
Der Gundermann trat hier in Versechsfachung auf, jeweils mit dem bekannten Fleischerhemd, strähnigen blonden Haaren (Kompliment an die Maske) und Gitarre vor den Hosenträgern, was die spielerische Last gut verteilte, aber neben ihm auch keine andere Figur zuließ, von einigen kurzen Spielszenen mit Ehefrau, früherem Führungsoffizier und damals Bespitzelten abgesehen. Das wiederholte Selbstgespräch zu sechst war da später unausweichlich, und neben einigen Längen, die der Zuschauer durchlitt, trug dies dann doch zur Wahrheitsfindung bei. Zunächst stand man klampfenbewehrt sehr frontal und statisch an der Bühnenkante, auch die Musiker klangen anfangs sehr nach Ostrock, aber es kam danach mit dem Einrollen von dampfenden Kühltürmen in den Bühnenhintergrund Bewegung in die Szenerie, auch musikalisch.
Visuell wurde einiges geboten, eine Filmszene etwa, die mit einer alten Sorbin begann, die den Verlust der eigenen Sprache und des Lebensraums beklagte und dann mit einem weiten Schwenk von oben über die Tagebaukante in eine Mond- und Kraterlandschaft wechselte. Später dann noch die Sprengung eines Großgerätes, das nicht mehr benötigt wurde, sinnigerweise mehrmals vorwärts und rückwärts gezeigt, als ob sich so die Löcher im Himmel wieder schließen könnten. Manchmal zerfaserte das Stück ein wenig zwischen den verschiedenen Stilmitteln, einiges wurde schlicht verkaspert. Die Kenntnis des Gundermann im Allgemeinen und des Dresen-Films über ihn im Besonderen ist in jedem Falle ein Vorteil für den Zuschauer, aber auch, wenn für einen der Gundermann vor allem eine Heilpflanze ist (soweit das in hiesigen Breiten möglich ist), kann man dem Stück sicher vieles abgewinnen.
Eine besonders gute Idee der Inszenierung, die mir nur anfangs etwas seltsam vorkam, war der abrupte Wechsel zwischen der rentnerfarbenen DDR-Tristesse in eine quietschbunte Werbewelt im Beitrittsgebiet. Krach, bumm, neues Leben! In schneller Folge blätterten dann Motive einschlägig bekannter Reklame auf, die den raschen Fortgang der Gundermann-Geschichte nach der Wende, vor allem seine Enttarnung als Stasi-IM, illustrierten. Hello Barbie, tell me aus der Akte … mit der Krönung arbeitet es sich auch leichter auf, selbst wenn in der Bärenmarke-Milchkanne nur ein Täterdokument zu finden ist. Dieser respektlose Rückblick auf die Jahre 90/91 wird nicht jedem Gralshüter gefallen, aber so skurril war das eben manchmal, zumindest in meiner Erinnerung.
Danach fuhr die Drehbühne rückwärts, und in der Fototapetenwelt erkannte man die Banalität des Blöden, die Bühne machte übrigens Jan Pappelbaum.
Zuvor war allerdings noch der intellektuelle Höhepunkt des Stücks zu bestaunen: Die raffinierte Verknüpfung von Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“ mit den Mühen des Gundermann in der Runde der Parteifunktionäre. Das Lancelot-Thema hatte Gundermann ja bereits in seiner ersten, 1988 bei AMIGA erschienenen LP „Männer, Frauen und Maschinen“ verarbeitet, und ob es damals schon irgendwelche Verbindungen gab, kann nur Herr Hein beantworten, aber es war frappierend, wie mühelos sich Heins literarischer Text durch die Sprechblasen der führenden Genossen ersetzen ließ. Ob nun an den Gral oder die hist. Miss. d. AK zu glauben ist, erschien egal, Zweifel war überall Verrat. Allein für diese Viertelstunde hätte sich der Abend schon gelohnt.
Wenn man bei Höhepunkten bleiben will: Emotional setzte diesen Betty Freudenberg mit der Interpretation des inzwischen legendär gewordenen Konzertbeginns in Berlin, als Gundermann seine IM-Tätigkeit bekundete, und des nicht minder bewegenden „Hier bin ich geborn“ im Anschluss.
Auf der anderen Seite der Skala für mich die Nachspielung der klassischen Talkshow-Situation zum Thema „Kumpelschutz oder Naturschutz“, die sich in der Darstellung der bekannten Positionen im Wortsinne erschöpfte. Daß die Schauspieler dabei als Insekten kostümiert waren (das immerhin beeindruckend von Leonie Falke umgesetzt), konnten sich vermutlich nicht alle im Publikum erklären, dafür kam der vorhergehende Verweis auf die Ansicht des Gundermann, Insekten wären für das Leben auf diesem Planeten inzwischen deutlich besser geeignet, ein wenig zu kurz. In einer 90 min – Version des Stücks, die ich für sinnvoll halte, hätte diese Szene keinen Platz mehr für mich.
Das oben schon erwähnte Erstlingswerk von Gundermann hält noch so viel relevantes Material bereit … folgerichtig kam auch fast alles davon zur Aufführung. Manchmal als Teil eines Nummernprogramms, okay, es war eine Revue, manchmal aber auch eingebettet in eine kontextuale Handlung.
Zum Ende hin wurde es dann doch wieder zum Nummernprogramm an der Bühnenkante, vielleicht sollte sich ein Kreis schließen. Aber der schloss sich so unauffällig, daß dann auf einmal Schluss war, während das Publikum weiter im letzten Lied schwelgte. Da sollte dramaturgisch noch nachgeschliffen werden, denn diese Irritation am Ende hat das Stück nicht verdient.
Insgesamt wurde aus der „Sammeltasse Glück“ reichlich zurückgeschüttet ins Publikum, zu anderen Zeiten wäre sicher ein Beifallsorkan durchs Haus gebraust. So machte der Applaus zumindest an Länge wett, was er an Stärke nicht haben konnte, und dies womit? Mit Recht.
Es war ein schöner, wichtiger und wertvoller Beitrag zur Einordnung des ostdeutschen Rockliedermachers ausm Tagebau. Daß Gundermanns Spätwerk im Ganzen ein wenig zu kurz kam, war dabei unvermeidlich, in einer gut zweistündigen Aufführung lässt sich auch unmöglich das gesamte Schaffen unterbringen. Kühnel hat sich für wichtige Ausschnitte entschieden, das ist gut so und lässt auch noch Raum für weitere Versuche (wenn auch nicht von mir).
Das Gesamtphänomen Gundermann kann ohnehin nicht mit einem einzigen Film, einem Konzert oder einem Theaterstück beschrieben werden. Aber alle liefern ein paar Steine zum Mosaik eines viel zu früh Gestorbenen, für den das Bild der „Kerze, die an beiden Enden brennt“, wohl erfunden worden ist.
[Hinweis: Eine gekürzte Fassung dieses Textes wird auch auf dem allgemein sehr zu empfehlenden Portal KULTURA-EXTRA https://www.kultura-extra.de/index.php zu lesen sein.]
Die Leipziger Not-Oper: Hamsterradio goes Punk
Wie immer seinem Bildungsauftrag auf coloRadio.org folgend, informiert Teichelmauke aus aktuellem Anlaß über das Musikgenre „Punk“ und erklärt, warum man am Bass höchstens den Bierkasten tragen darf, aber keine Verantwortung.
https://www.dropbox.com/s/yaocdp432l86akd/Not-Oper.mp3?dl=0
Der kleine und der große Unterschied
Ein paar Tage lang konnte man sich der Illusion hingeben, die Schreck- und Freudenschüsse nach den Wahlen am letzten Mai-Sonntag könnten dazu führen, daß neue Wege eingeschlagen werden, um zu retten, was noch zu retten ist an Zivilisiertheit im Inneren und Ansehen in der Welt, grad im äußersten Osten von Sachsen:
Ein Salon-Nazi mit den meisten Stimmen bei der OB-Wahl in Görlitz, aber sehr weit von einer großmäulig prophezeiten absoluten Mehrheit entfernt und deutlich dahinter ein CDU-Bewerber, der grad mal 30% der Wähler*innen von sich überzeugen konnte und damit fast exakt das Ergebnis des Gegenkandidaten bei der letzten OB-Wahl 2012 erreichte – das Potential der CDU in dieser Region also bestenfalls zur Hälfte ausschöpfte.
Gleich dahinter mit nur 2,4 %-Punkten oder 641 Stimmen weniger eine Bewerberin, die es „trotz“ ihrer grünen Herkunft schaffte, ein breites Bündnis hinter sich zu versammeln, und eine Kandidatin der Linken, deren Anteil von 1.470 Stimmen oder 5,5% im Verhältnis ähnlich desaströs war wie jener der CDU (exakte Zahlen hier: https://www.goerlitz.de/uploads/OB2019_1WG.pdf )
Angesichts der Tatsache, daß die AfD zwar wieder stärkste Kraft in Sachsen geworden war (wenn auch mit deutlich geringerem Stimmenanteil als noch zur Bundestagswahl 2017 und diesen ersten Platz somit nur dank der andauernden Schwäche der CDU bekam) und die nächsten Wahlen schon fast vor der Tür stehen, waren sogar neue Töne zu hören. Selbst der großer politischer Phantasie unverdächtige MP sprach von einer „Vier-Parteien-Koalition“, die es dann eben zu bilden gelte.
Was hätte näher gelegen, als gerade in Görlitz einen ersten Schritt zu gehen und den potentiellen Partnern auch mal etwas anzubieten, wenn man machtpolitisch schon auf dem letzten Loch pfeift (oder in diesem Falle bläst – Herr Ursu ist gelernter Trompeter)?
Aber im Osten nichts Neues – für die CDU bedeutet Zusammenarbeit Unterordnung, auf der Gegenseite wohlgemerkt. So wird aus dem kleinen Unterschied von ein paar hundert Stimmen der große Unterschied der politischen Kultur – die Versorgung eines für den nächsten Landtag ausgesonderten Parteifreundes „im besten Alter“ ist wichtiger als ein Modell, daß Sachsen in den nächsten Jahren vor dem Schlimmsten bewahren könnte. (Ob dies von allen in der CDU auch gewollt ist, darf allerdings bezweifelt werden)
Über die Selbstüberschätzung und mangelnde Weitsicht der Linken, die (auch) zu dieser Situation geführt hat, könnte ein eigener Beitrag zu schreiben sein, in dem viel von Traurigkeit die Rede wäre, aber das ist hier nicht das Thema.
Hier geht es um den Krug der Union, der wohl zum letzten Mal zum Wasser ging an der Neiße, bevor er dann im September bricht.
Und so darf der wackere Octavian weiter auf seinen Thron-Anspruch beharren, ohne daß ihn irgendein Augustus in Dresden zurückpfeifen würde – Herr Kretschmer arbeitet sich derweilen lieber am Vergleich von Unvergleichbarem ab und ergänzt seine ohnehin schon beachtliche Stilblütensammlung. Ohne die Größe einer Franziska Schubert, der „Staatsräson“ die eigenen Ambitionen unterzuordnen, hätte man wohl dank der Dimpflichkeit der Sachsen-CDU (eigentlich ein bairischer Fachbegriff, der aber selbst dort nur noch selten zum Einsatz kommen muss, „Bräsigkeit“ ist vermutlich geläufiger) dann in Görlitz den ersten AfD-OB in Deutschland gehabt. Danke, CDU, für gar nichts.
Spannend wird aber, wie sich Herr Kretschmer oder wer auch immer im September dann die sächsische Karre aus dem blaubrauen Dreck ziehen soll, sich die Bildung einer Regierung jenseits der AfD vorstellt. Glaubt er, man müsse nur rufen, damit alle potentiellen Partner die dargebotene Regierungsbeteiligung brav apportieren?
Das kann er tun – Glauben ist Privatsache. Und zugegebenermaßen ist in zwei Fällen der inhaltliche Trieb vermutlich deutlich schwächer ausgeprägt als der institutionelle – man darf davon ausgehen, daß für Ministertitel einige programmatische Großmütter geopfert würden, sofern diese noch lebend aufzufinden sind bei SPD und FDP. Nur werden aus drei Rittern von der traurigen Gestalt noch keine Musketiere.
Da macht offenbar einer die Rechnung ohne den vermeintlich vierten im Bunde – nebenbei gesagt übrigens die einzige Partei, die sich in Sachsen als Sieger fühlen darf nach der Wahl am Sonntag. Alle anderen sind teilweise massiv abgeschmiert im Vergleich zu 2017, https://wahlen.sachsen.de/europawahl-2019-wahlergebnisse-6931.php zu https://wahlen.sachsen.de/bundestagswahl-2017-wahlergebnisse-5073.php – und komme mir niemand mit den vielen Kleinparteien als Grund: deren Konkurrenz betraf alle.
Ein Strippenzieher wie Kretschmer sollte wissen, daß Politik – vornehm ausgedrückt – aus Kompromissen besteht. Und wenn jetzt ein Ursus minimus blind nach dem Honig der Macht tappt, soll er das halt tun (und das hoffentlich nicht auch noch verkacken) – aber um so größer wird der Teil des Bärenfells sein, den die Strategen der CDU abgeben müssen, um ein Regierungsmäntelchen zu schneidern.
PS: Falls jetzt einer bei der CDU anfängt nachzuzählen, welche Ministerien wohl dran glauben müssen nach der Wahl – gerne, ein bißchen Grusel schadet nicht.
Aber es geht in erster Linie um die Programmatik. Da wird manch bittre Träne fließen bei den Verteidigern des „Weiter-So“, des ungehemmten Zukunftsverbrauchs, des Polizeistaats, der autofixierten Verkehrspolitik, der industriellen Landwirtschaft, kurz bei allem, was der CDU und ihren Hintersassen heute lieb und teuer ist. Denen kann man dann nur empfehlen, in Rente zu gehen und nach Görlitz zu ziehen. Soll schön dort sein, an sich.
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„Hool“ nach dem Roman von Philipp Winkler, Bühnenfassung und Regie Florian Hertweck, Premiere am Staatschauspiel Dresden am 22. März 2019
Wenn man Mitleid mit dem Pack empfinden würde, für das der Begriff white trash offenkundig erfunden wurde, hätte man am Ende vielleicht schlucken müssen ob der absehbaren Trostlosigkeit des weiteren Daseins der Prügel-Knaben, egal ob nun als lebenslang Behinderter, als kreditabzahlender Reihenhaushöllenbewohner, als wertvolles Fußballvereinsmitglied oder schlicht als perspektivloser Assi. Den Knacks behalten alle, beileibe nicht nur in der Zahnleiste, und das sei ihnen von Herzen gegönnt. …
Jenseits dieser Betrachtungen … ist von einem kraftvollen, adrenalingetränkten und turbulenten Abend zu berichten, in dem sich fünf Schauspieler alle Mühe gaben, mitunter als ein Block von 50 Hools zu erscheinen, was auch öfter gelang….
Wieder mal (nach dem thematisch benachbarten „Neun Tage wach“) eine gelungene theatrale Umsetzung eines aktuellen Romans, die ihr breites Publikum finden wird.
Das ganze Spiel in voller Länge hier:
http://www.kultura-extra.de/theater/veranstaltung/premierenkritik_hool_staatsschauspielDD.php
Käse von Frau Antje
„Warst Du nicht fett und rosig? Warst Du nicht glücklich? Bis auf die Beschwerlichkeiten, mit den anderen Kindern streiten, mit Papa und Mama … Wo fing es an und wann? Was hat Dich irritiert? Was hat Dich bloss so ruiniert?“ (Die Sterne, „Was hat Dich bloss so ruiniert?“)
Es ist hier nicht der Ort, über die körperliche Beschaffenheit von Antje Hermenau zu diskutieren. Das geht außer Ihr niemanden etwas an und trägt auch nicht zur Wahrheitsfindung bei. Daß aber etwas Relevantes geschehen sein müsse, damit Frau Antje sich heute so äußert wie sie es tut, das kann man schon vermuten und deshalb den guten alten Gassenhauer vorweg zitieren.
Frau Hermenau war lange die wichtigste Person der Grünen in Sachsen, nach zehn Jahren im Bundestag führte sie die grüne Fraktion im sächsischen Landtag als Sprecherin durch zwei Legislaturperioden, um dann Ende 2014 – obwohl wieder als Spitzenkandidatin in den Landtag gewählt – auf ihr Mandat zu verzichten, als die Partei ihren schwarzgrünen Bemühungen nicht folgen wollte. Heute ist sie Politik- und Unternehmensberaterin und seit einiger Zeit für die Freien Wähler Sachsen als Geschäftsführerin tätig.
Letzteres ist wohl eher Wirkung als Ursache des Sinneswandels, den sie in ihrem Buch „Ansichten aus der Mitte Europas. Wie Sachsen die Welt sehen“ dokumentiert. Erscheinen wird das Werk am 14. März 2019 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, einer honorigen Institution, die sich nach ihrer Selbstdarstellung „die Pflege der evangelischen bzw. protestantischen Theologie und Tradition und die Offenheit für Fragen des Zeitgeschehens sowie aktuelle Entwicklungen in Gemeinde und Kirche“ auf die Fahne geschrieben hat.
Vielleicht ist es auch dem Einfluss des Verlags zu verdanken, daß die Leipziger Volkszeitung mit den Dresdner Neuesten Nachrichten im Schlepptau aus dem Erscheinen des Buches ein veritables Ereignis machen wollte und ihrer Leserschaft von Donnerstag bis Sonnabend drei Vorabdrucke aus dem Buch präsentierte, eingeleitet von einem zweidrittelseitengroßen Interview mit Frau Hermenau am ersten Tage. Die Zeitungen werden sich das überlegt haben, und ein kleines Skandälchen schadet nicht, grad kurz vor der Leipziger Buchmesse ist man dafür dankbar. Und, nicht zu verachten: So kommt auch meine Wenigkeit in den Genuss der Hermenauschen Betrachtungen, für die ich sonst sicher nicht die zehn Euro angelegt hätte, die das Büchlein kosten wird.
Und dies wiederum gibt mir Gelegenheit, darüber ein wenig zu reflektieren und endlich zum Thema zu kommen.
„Wer offene Grenzen will, schafft den Sozialstaat ab“ ist das Interview überschrieben. Dieser Satz steht sinngemäß auch im Buch und im Gespräch erläutert Frau Hermenau, daß es Menschen gäbe, „die sagen, sie wollen offene Grenzen für alle“. So richtig klar wird dabei nicht, wen sie meint, und genauso, wie es Menschen gibt, die um Sachsen herum eine Mauer bauen wollen, gibt es sicher auch jene, für die Grenzen prinzipiell unnatürlich sind. Die Frage ist halt, wieviel Einfluss diese Gruppen haben und welche Reichweite. Aber wenn man sich einen solchen Popanz aufbläst, kann man natürlich dann wacker drauf eindreschen und dabei die Stimme der Vernunft geben. Es wirkt halt nur ein bißchen billig.
Überhaupt beschränkt sich Frau Hermenau eher auf die preiswerten Teile der Volkswirtschaftslehre, in dem sie Monokausalitäten zwischen Rentenniveau und Zuwanderung herstellt oder darauf verweist, mit den „100 Milliarden Integrationskosten … heute leistungsstarkes Internet bis zu jeder Milchkanne durch finanziert“ gehabt zu haben. Ramsauer, Dobrindt und Scheuer werden dankbar sein, daß ihre mangelnde Performance in dieser Sache auf einmal finanzielle Gründe hat. Ähnlich übersichtlich sind ihre anderen Wirtschaftsweisheiten, der Mythos vom faulen Ausländer wird bemüht, es wird beklagt, daß „doch wirklich wenige Flüchtlinge in hoch qualifizierten Jobs“ sind (was man denen nun wirklich mal trotz jahrelang unterbrochener Ausbildung und eines Neuanfangs in fremder Sprache und Kultur ordentlich um die Ohren hauen sollte, nur keine falsche Scham) und auf die Frage, ob sie nicht zu schablonenhaft argumentiere, hält sie entgegen: „Nein, denn ich rede mit vielen Unternehmern, die mir ihre realen Erlebnisse schildern.“ Bei diesem Monopol auf die Wahrheit wüsste ich was Besseres als nur Bücher zu schreiben, aber das kann ja alles bei Frau Hermenau noch kommen.
Der zweite Schwerpunkt von Frau Hermenau sind die Sachsen, die unverstandenen, fehlinterpretierten, an- und bodenständigen, heimatliebenden, nicht dummen und es-satt-habenden Sachsen, die „nicht tot gequatscht werden“ wollen. „Loofen musses“ für diese, und ähnliche sprachliche Pretiosen enthält das Buch viele, wenn man den Auszügen trauen kann. „An den Freien Wählern gefällt (ihr), dass die in Berlin und Brüssel keinen Hintern haben, den sie abküssen müssen“. Soviel Schlichtheit im Geiste ist angesichts von zwanzig Jahren als Berufspolitikerin schon entzückend.
Und nein, das Interview scheint nicht besonders zugespitzt zu sein im Vergleich zum Buch. Der erste Auszug beginnt wie folgt:
„Fragt man in Sachsen danach, wer regieren und was die Regierung machen sollte, kann schon mal die Antwort kommen: „Is mr eechentlich egal, wer ohm den Gassbr machd, aber loofen musses.“ Darin liegt tiefe Weisheit. Vor allem klärt der Spruch eindeutig, wer die Arbeit macht und die Mäuse für alle verdient. Kleiner Tipp: „Der Kasper da oben“ ist es nicht. …
Im Folgenden wird dann von einem Geschäftsführer der Sachsen GmbH gefaselt, und die beschränkte Haftung gesteht man Frau Hermenau dann sicher auch im Weiteren zu.
Noch ein Zitat? „Sogar Schießbefehle aus Berlin gibt es wieder. Die fetten Kugeln nennen sich „failed state“, „Nazis“ und „Dunkeldeutsche“. Und dann gibt es da noch jede Menge Kleinschrot für die Kartätschen: „abgehängt“ oder „Pack“. …“ Was freundlich interpretiert noch als bemühte Komik durchgehen könnte, erscheint im Gesamtkontext des Absatzes als Beschwörung des unfehlbaren Sachsen, der ob seiner 1.000-jährigen Geschichte nicht irren könne und für den jede Kritik an seinem Verhalten als anmaßend erscheint. So ist das offenbar auch wirklich gemeint, das Hohe Lied der sächsischen Nation wird gesungen: „Sachsen ist eine Art kleine Nation: Wir haben ein Staatsvolk, eine Staatsgrenze, eine Staatsgewalt, einen Staatsschatz, eine Hochkultur auf Weltniveau (gegenwärtig vor allem in Musik und Malerei) und einen Staatsdialekt.“
Wenn Frau Hermenau so weiter macht, muss Uwe Steimle bald Autohäuserjubiläen moderieren (falls er das nicht schon macht) und die Nationalkasperstelle beim MDR wird endlich weiblich besetzt.
Man könnte über diesen Unsinn traurig schmunzeln und ihn beiseite legen, aber es wird dann auch noch ganz tief ins Klo der ausländerfeindlichen Hetze gegriffen, das soll nicht unwidersprochen bleiben:
„Zudem müssen die mindestens 100 Milliarden Euro bis 2020 für die Zuwanderer auch erwirtschaftet werden. … Was denkt eine Frau, die arbeiten musste, weil ein Gehalt nicht reichte … wenn sie im Fernsehen sieht, wie ein syrischer Familienvater mit zwei Frauen und geschätzten zehn Kindern voll versorgt wird?“
Frau Hermenau, das ist wirklich ein Problem. Aber wissen Sie denn nicht, daß im Koran steht, jeder ordentliche Muslim müsse mindestens einmal im Leben die heiter blühenden Landschaften des Morgenlands mit Frauen und Kindern verlassen, um für mindestens sieben Jahre in die deutschen Sozialsysteme einzusickern? So erklärt sich das doch ganz einfach.
Tut mir leid, aber auf diesen Schmarrn kann ich nur mit Geblödel reagieren, auch wenn Fasching nun vorbei ist.
Zum Ende sei noch einer Befürchtung Ausdruck verliehen: Mit Zitaten wie dem folgenden „Die Verfemung eines ganzen Bundeslandes, das sich nicht einfach so anpassen will, führt u. a. dazu, dass wir von manchen gemieden werden“ wird sich Frau Hermenau vermutlich für zahlreiche zweitklassige Fernseh-Talkshows qualifiziert haben, um dort die Sachsen-Erklärerin zu geben. Vielleicht ist dies auch der tiefere Sinn des Buches.
Für diesen Fall möchte ich zu Protokoll geben, daß Frau Antje Hermenau nicht bevollmächtigt ist, für mich als gebürtigen und wohnhaften Sachsen zu sprechen oder mich zu erklären. Vielleicht kann man das jeweils unten im Bilde einblenden, als Laufschrift. Dankeschön.
P.S.: Noch ein helfender Hinweis zu einem Satz aus dem Interview: „Ich möchte mit dem Buch endlich das Fenster aufmachen und frische Luft reinlassen.“ Gnä‘ Frau, das wäre auch ohne Buch gegangen, es sei denn, Sie wollten die Scheibe einwerfen.
Im Trilex mit Pegida
Ein später Montagnachmittag im November, Oberlausitz, Kleinstadtbahnhof. Schneereste auf dem Bahnsteig, hier hat es letzte Nacht erstmals geschneit in diesem Winter. Halbwegs idyllisch ist, wie die kalten Nebelschwaden im Laternenlicht nach oben steigen, aber mit ihnen kriecht die Kälte in mir hoch, und die fünf Minuten Verspätung des Zuges lassen ihr noch etwas mehr Zeit dafür.
Nach Dresden geht es zurück für mich, was noch eine Rolle spielen wird im weiteren Verlauf. Einstweilen bin ich froh, daß der Diesel-Triebwagen (höchstens Euro4-Norm, schätze ich) für mich auch als einzigen Zusteiger anhält und mich ins Warme aufnimmt.
Der Wagen ist erstaunlich gut gefüllt für Zeit und Richtung, denn die wochentäglichen Verkehrsströme sind ansonsten klar sortiert in dieser Gegend: Frühmorgens rein in den Ballungsraum, nachmittags wieder raus. So überrascht mich die kleine Reisegruppe, die fast drei Vierer-Abteile füllt, dann doch, denn Advent ist ja auch noch nicht und somit kein Striezelmarkt. Aber egal, ich hab zu arbeiten, die Stunde im Zug will genutzt sein.
Der Kegel-Club oder was auch immer ist recht lautstark, das haben Gruppen nun mal so an sich, doch an den ohrenbetäubenden Lärm eines angeschickerten Damenkränzchens aus dem Rheinland reichen die bei weitem nicht ran. Doch zum unfreiwilligen Mithören genügt es, und so erfahre ich, daß die Grünen jetzt gefordert hätten, die Räuchermännchen mit Feinstaubfiltern zu versehen. Gar nicht schlecht, der Witz, könnte von mir sein, aber es lacht keiner. Der nächste in der Runde gibt zum Besten, daß der Habeck gesagt habe, Benzin müsse so teuer sein, daß keiner mehr Auto fahren könne. Beifälliges Nicken, so sindse, die grünen Vaterlandsverderber.
Einer mit roter Nase sammelt Geld ein für eine Busfahrt am übernächsten Sonnabend, Vorkasse bitte, man wolle nicht auf den Kosten sitzen bleiben, wenn man den Bus bestellt. Das kann ich nachvollziehen, der Herr hat sicher einschlägige Erfahrungen.
Ein anderer witzelt, man brauche nun möglichst bald einen neuen Namen für die Sprechchöre, denn es müsse ja weitergehen. Der Spahn immerhin habe gefordert, abgelehnte Asylbewerber sofort abzuschieben (und käme damit wohl nicht in Frage).
Sprechchöre? Neuer Name? Abschieben? Die werden doch nicht …?
Doch, werden sie. Der lustige Haufen ist auf dem Weg zu Pegida, wie offensichtlich schon seit Jahren, gut organisiert, zur Gruppenfahrkarte stoßen unterwegs noch einige hinzu, mit einem Obolus von dreizwanzig werden sie Teil der Bewegung, das ist doch wirklich ein fairer Preis.
Männer über Sechzig sind es in der Mehrzahl, auch ein paar jüngere dabei und wenige Frauen, man kennt sich, der Ton ist freundschaftlich, auch wenn ein gewisser Gruppendruck zu spüren ist. Einer kann nicht am übernächsten Sonnnabend, sein Schwager schlachte ein Schwein auf dem Hof und da wäre jede Menge Arbeit … Der Busbesteller gibt sich zufrieden und ich finde, daß die Sau in diesem Falle nicht umsonst gestorben sein wird.
Neben Bier gibt es auch O-Saft, vertraut und unverfälscht quirlt der Dialekt aus ihnen raus, normalerweise höre ich den gern. Normale Leute auf den ersten Blick – ob die auch „Absaufen!“ gebrüllt haben im Sommer? Einigen traut man es zu, anderen eher nicht – bis sie den Mund aufmachen und vom nächsten Schurkenstück der Ausländer und Linksgrünen berichten. Es scheint eine Art Überbietungswettbewerb zu sein, auch wenn man alles schon mal gehört oder besser gelesen hat – doch aus dem Munde eines Empörten gewinnt es eine schauerliche Pseudo-Realität.
„Habt ihr das gelesen?“ Wer Pflegekraft wird, darf nicht mehr abgeschoben werden, auch wenn er einen abgestochen hat, das sei in Baden-Württemberg jetzt so beschlossen worden, und Bayern wolle nachziehen. Der alten Frau irgendwo im Norden wurde die Kehle durchgeschnitten und ihre Tochter massakriert, und wenn es ein Deutscher gewesen wäre, hätten es die Medien dazu geschrieben, also sei alles klar. Die Gewalt gehe von Links aus, vor allem die schwere, und das würde systematisch verschwiegen. Es gäbe zwar genug Gründe, die Antifa einzusperren, aber die würden als fünfte Kolonne des Staates gebraucht. Die AfD hingegen würde stigmatisiert, „Kauf nicht beim Juden!“ wird beschwörend zitiert, alle nicken wissend. Beeindruckend hingegen waren neulich die Jungs von den Identitären, 25 Mann, alle mit Flaggen.
Das alles wird fast im Plauderton vorgetragen, meist ohne Eifer, routinierter Hass. Fast fröhlich wird die Runde, als einer erzählt, Hentschke-Bau würde für die Demonstration am 1. Dezember in Berlin einen Firmenbus bereitstellen, „ihr wisst schon, der von Wir Sind Deutschland, der jetzt überall Reden hält“. (Gemeint sind die Kundgebung „Migrationspakt stoppen“ und Jörg Drews, Geschäftsführer und Haupteigner der renommierten Baufirma aus Bautzen, darf ich hier ergänzen.)
Das Bullshit-Bingo der rechten Legenden endet am Bahnhof Mitte, dort verlässt die Gruppe den Zug, um auf kurzem Wege zum Theaterplatz zu gelangen, inzwischen hat man Ortskenntnis. Eigentlich wollte ich am Bahnhof Neustadt aussteigen, wo wir Linksgrünversifften mehrheitlich wohnen, aber ich will noch die Gesichter sehen und bleibe sitzen. Diese sind ganz gewöhnlich, sehen weder besonders klug noch besonders dumm aus (vom Bus-Organisator mal abgesehen), man trägt mehrheitlich Bart und auch Zöpfe sind bei zwei Herren zu bewundern. Keine Glatzen sind zu erblicken, höchstens unfreiwillige und dann von Mützen bedeckt. Unspektakulär, vermeintlich ganz normale Leute – und trotzdem abgehängt, nicht materiell, aber geistig-moralisch.
Doch das hat die Oberlausitz nicht exklusiv, solche Regionen gibt es viele, in denen das Binnenklima für solche Gruppen günstig ist, nicht nur im Osten und bei weitem nicht nur in Deutschland. Viel Kluges ist von Berufeneren als mir schon über Ursachen und Umgang mit ihnen geschrieben worden, dem kann ich nichts Sinnvolles hinzufügen, nur eine im ersten Moment resigniert klingende Meinung: Man wird sich mit ihnen wohl abfinden müssen.
Was es aber leichter macht: Die sind nicht relevant, aufs Ganze gesehen. Zwar ist die mediale Reichweite (immer noch) deutlich größer als deren inzwischen rapide geschrumpfte Zahl, zwar gibt es Regionen, in denen die zumindest gefühlt die Meinungshoheit haben – aber solange der Rechtsstaat funktioniert, können und müssen wir das aushalten, so unappetitlich das im konkreten Fall auch sein mag. Auch das ist der Preis der Freiheit, um es pathetisch auszudrücken.
Und natürlich müssen wir auch aufpassen, daß die Akteure des Rechtsstaates ihren Aufgaben nachkommen und wenn nicht, dies Konsequenzen hat – Polizei und Justiz sind vermutlich stärker anfällig für den rechten Geist als andere Institutionen, da bin ich nicht blauäugig, aber ein Generalverdacht hilft auch nicht weiter.
Zurück zu meiner unfreiwilligen Begegnung:
Natürlich hab ich – außer einem betont unfreundlichen Blick zum Abschied, den aber wirklich nicht einer von denen erwidert hat, was mich kurzzeitig eine Art Restscham vermuten ließ, aber vielleicht haben sie mich auch gar nicht wahrgenommen – nicht versucht, mit ihnen zu diskutieren. Geschehen wäre mir sicher nichts, Gewalt üben die, denen ich begegnet bin, höchstens als Mitläufer aus, aber ich halte diese Leute schlicht für verloren und nicht bekehrbar. Wozu soll ich mir dann deren Märchen anhören?
Nur die Rückfahrt hätt ich nicht gemeinsam mit ihnen bestreiten mögen, hochgeschaukelt von Bachmanns Tiraden und ein paar Bier später. Doch zur Strafe – Allah ist groß und gerecht – gab es heute abend Schienenersatzverkehr Richtung Osten.
Am Beispiel des Kühlschranks oder Es geht ein Riss durch den Saal
„Wir sind auch nur ein Volk“ nach Jurek Becker am Staatsschauspiel Dresden, 8. September 2018, Uraufführung der Spielfassung von Tom Kühnel (Regie) und Kerstin Behrens
Vorweg: Nachdem der erste große Ärger über einen völligen Missgriff nach der Pause verraucht ist, kann ich insgesamt doch einen guten Abend bescheinigen. Zum „sehr gut“ fehlt die Haltung, und die mitunter überzogene Ostalgie mag „breite Kreise der Bevölkerung“ (um im Duktus zu bleiben) zufriedenstellen, mich nervt sie eher. Dennoch begeistern die Vielzahl an durchdachten und gut inszenierten Szenen, das Bühnenbild, ganz besonders die perfekt getroffenen Kostüme, die Musikauswahl von im Prinzip auch (selbst wenn sie weh tat) und die Live-Kamera, die der Enge der Grimmschen Wohnung Ausdruck gab, bekommt ein Sonderlob.
Hier: http://www.kultura-extra.de/theater/veranstaltung/premierenkritik_WirSindAuchNurEinVolk_staatsschauspielDD.php
