Kategorie: Alltag
Was man über die DDR wissen muss
Christoph Hein, „Das Narrenschiff“, Roman, 2024

Achtzig Jahre ist Christoph Hein nun, doppelt so alt wie die DDR, so einer weiß, wovon er schreibt, wenn er von „zu DDR-Zeiten“ berichtet.
Um die DDR, vor allem ihr Machtgefüge, zu verstehen, muss man aber noch weiter zurückschauen, in die 1930er Jahre, nach Moskau. Dort sammelte sich ein Teil der Leute, die Nazideutschland verlassen mussten, meist KPD-Parteigänger, während es die SPD-ler und die Intellektuellen eher nach Westen zog. Schon 1937, nach der ersten großen Stalinschen Säuberungswelle, wurde ihre Zahl deutlich geringer.
Die Überlebenden hatten ihre Lebenslektion gelernt: Die Partei bzw. Väterchen Josef Wissarionowitsch hat immer recht, Zweifel ist Verrat und wer nicht mitbekommt, wenn der Wind sich dreht, den sucht Genosse Mauser auf. Die Machtbasis der späteren DDR-Führung war schlicht Angst.
Dies erfährt man präzise und nachvollziehbar im ersten Teil des Romans, das ist hochspannend und lehrreich, entsetzlich und verstörend, niederschmetternd. Wenn man wissen will, wie es war: Hier erfährt man es. Kein Highlight der DDR wird ausgelassen, auch die zahlreichen Tiefpunkte werden geschildert, so plastisch, dass man versteht, warum es so kam, kommen musste.
Bis zum Honecker-Putsch bleibt die Erzählung detail- und faktenreich, danach erhöht sich merklich das Tempo, das tut der Verständlichkeit nicht gut. Erst zum Ende hin (des Buches und der DDR) kann man wieder besser folgen, und die Beschreibung des Nachwendejahres gehört zum Besten, was ich je darüber gelesen habe, auch sprachlich.
Leider gilt das für große Teile des Buches mitnichten. Im Gegenteil, es ist enttäuschend, wie hölzern die Dialoge angelegt sind, wie spärlich die Beschreibungen, wie wenig inspiriert die Szenen. Der Plot ist großartig, aber die Erzählung ist meist ärmlich.
Aber ein Lichtblick: Ich glaube, am Theater würde dieser Text gut funktionieren.
Der ganze Text:
https://www.kultura-extra.de/literatur/rezensionen/buchkritik_ChristophHein_DasNarrenschiff.php
Eine unterirdische Idee – die Dresdner CDU will tunneln
Wahlkampfzeiten sind dankbare Zeiten für Spötter und Klugscheißerinnen. Zu offensichtlich sind die Stilblüten, als daß man der Versuchung widerstehen könnte. Diesmal soll aber nicht der verhinderte Deutschpauker in mir zum Zuge kommen, es geht um andere Dinge.
Bei jeder Wahl geht es ja auch darum, die MLPD in puncto Dümmlichkeit auf den Wahlplakaten zu überbieten. Auch dieses Mal gab es einige hoffnungsvolle Versuche, aber die Genossen haben die Angriffe souverän mit „Arbeiter in die Offensive“ abgewehrt. Chapeau! Aber dies nur nebenher, es soll hier nicht um die Weltrevolution gehen, sondern um profanere Dinge.
Wie im Bilde zum Text zu besichtigen ist, möchte die CDU Dresden-Neustadt in Person von Johannes Schwenk den Neustädter Markt mit einem Autotunnel bereichern und damit eine „Flaniermeile zwischen Albertplatz und Altstadt“ schaffen. Neustädter Markt, das ist dort, wo ein scheinbar goldenes Pferd samt pummeligen Reiter der barocken Langeweile den Rücken zuwendet, um durch eine platanengesäumte Hauptstraße seiner Befreiung entgegen zu galoppieren (meine Interpretation). Oftmals muss es dabei durch Würstchen- und Nippesstände hindurch, die dann „Fest“ genannt werden, in Verbindung mit Jahreszeiten oder was der Marketing-Kalender sonst so hergibt. An Weihnachten (wie es anderswo heißt, was die Weltläufigkeit des Verfassers belegt) gibt es die Festivität gar unter Leitung eines stadtbekannten Gastwirts und Grünenfressers, der neuerdings seinen Namen zum Programm gemacht hat, übrigens genau wie eine Dame mit stählernem Antlitz, die er aber vermutlich gar nicht leiden kann. Aber was weiß ich schon von der Kollegialität unter Populisten (Frauen sind mitgemeint).
Ich schweife ab. Hier soll es doch um die mit Verlaub unterirdische Idee gehen, im Zuge der Großen Meißner Straße einen großen Dresdner Tunnel zu graben. Hatte man vor Wochen auf einschlägigen Plakaten noch schamhaft gefragt, ob dies wohl sinnvoll wäre, sind nun alle Hemmungen gefallen, der Spruch ist mit einem Ausrufezeichen versehen.
Ich gehe davon aus, daß der (mir) unbekannte Kandidat Schwenk die finanzielle Situation der weltgrößten Landeshauptstadt von ganz Sachsen einigermaßen überblickt. Vielleicht ist ihm sogar bewusst, daß sogar für den Neubau der Nossener Brücke noch zahlreiche Scheinchen zusammengekratzt werden müssen, ehe es zum großen Werke kommen kann, was nicht unwesentlich daran liegt, daß ein früher in Dresden tätiger Kassenwart nunmehr konservativ (also bewahrend) auf den freistaatlichen Töpfen sitzt. Auch einige andere Infrastrukturprojekte der Kommune, denen Dringlichkeit zugesprochen werden muss, sind „finanziell nicht untersetzt“, wie es in diesen Kreisen heißt, bei Bedarf könnte ich eine Liste senden.
Aber das Praktische an einer solchen Forderung, mal eben 100 Millionen plus x im HQ50-Gebiet der Elbe zu vergraben (könnte ich erklären, aber es soll hier niemand überfordert werden), ist ja, daß man nie in die Verlegenheit kommen wird, diese ernsthaft diskutieren zu müssen, sie gleichwohl irgendwie als innovativ hängenbleibt, solange man nicht drüber nachdenkt. Es ist ein bißchen so wie ein schöner großer Wahlkampfballon voller heißer Luft, der ganz schnell aufsteigt in schwindelerregende Höhen, dann außer Sicht gerät und abgekühlt auf irgendeinem Rieselfeld weit vor der Stadt landet. Aber dann hat die hiesige CDU sicher schon einige andere Säue über die Augustusbrücke getrieben.
Nochmal im Klartext: Die Stadt hat für solchen Schmarrn auf Jahrzehnte hinaus kein Geld, und der Freistaat auch nicht. Der Bund nicht, die EU nicht, und wenn es die Weltregierung wirklich gibt, hätte die dafür auch nichts übrig. Oder was soll Dresden dafür besser liegenlassen? Blaues Wunder verschrotten, BUGA absagen, ESMC-Erschließung sein lassen, Tunnel am Wiener Platz sperren (weil nicht mehr sanierbar), Ullersdorfer Platz canceln, Schulen und Kita verrotten lassen, Königsbrücker Straße und Stauffenbergallee unter Denkmalschutz stellen? Ideen sind willkommen.
Mal abgesehen davon, daß es also „schwierig“ wird, das Geld dafür zu besorgen, ist die Idee als solche aber auch krude. Die Piktogramme auf dem Bild sind zwar ganz hübsch, aber entsprechen nur links der Wahrheit. Das erste illustriert tatsächlich zutreffend die Maxime der Verkehrsplaner des vorigen Jahrhunderts (das in Dresden nachvollziehbarerweise noch bis 2016 andauerte) „der Fußgänger gehört unter die Erde“, unabhängig übrigens von der Weltanschauung. Was mittig den Ist-Zustand beschreiben soll, vernachlässigt den Umstand, daß durch die revolutionäre Erfindung der LSA (Lichtsignalanlage, vulgo „Ampel“) der Verkehrsraum zumindest auf der Zeitachse unterschiedlich zugeordnet werden kann.
Das Problem, was hier beschworen wird, ist schlicht keines. Im Gegenteil, mit dem Umbau der Kreuzung und der Sperrung der Augustusbrücke für den privaten Autoverkehr sind dort Verhältnisse zu verzeichnen, von denen in anderen Stadtteilen geträumt wird. OK, es fehlen längs der Großen Meißner noch ordentliche Radwege, aber das sind vergleichsweise Luxusprobleme.
Dreist ist allerdings die Darstellung rechts. Gerne wüsste ich, was mit der Straßenbahn passiert, wie künftig die Andienung des Hotels und der Museen erfolgt und wo die Ver- und Entsorger sowie die Rettungsdienste fahren sollen. Das ganze ist eine große Mogelpackung, denn eine oberirdische Verkehrsführung wird immer notwendig sein, wenn auch nur noch mit einer Spur je Richtung. Aber das kann man deutlich billiger haben.
Die für einen Tunnel erforderlichen Rampen werden mitten im Carolaplatz und am Palaisplatz beginnen müssen, damit ist die generelle Umgestaltung dieser Örtlichkeiten verbunden. Von mir aus kann man ja gerne ein Stückchen vom Palast des Ministerpräsidenten abschneiden, aber beim Japanischen Palais bin ich hartleibig, dort findet schließlich neuerdings das Sommertheater des Staatsschauspiels statt (wenn auch leider sonst nicht viel). Ohne das weiter zu vertiefen, aber die Idee ist derart unsinnig, daß man sich fragt, in welcher Wissenschaft Herr Schwenke denn mitarbeitet (mehr als „wiss. MA“ gibt die Vorstellung auf der website des CDU-Ortsvereins nicht her). Vermutlich wird er Wasser- und Kofferträger eines Landtagsabgeordneten sein, aber ich bin zu faul zum Recherchieren, und so wichtig ist er nun auch nicht.
Lassen wir es mit einem Lehrsatz beenden: Wenn du selbst keine konkreten und sinnvollen Ideen hast, denk dir was aus, was schön klingt, aber nie in die Nähe einer Realisierung kommt. Dann gehst du erstmal als Visionär durch und musst nie ernsthaft darüber diskutieren. Und zur nächsten Wahl mach dann einen Schwenk, es bieten sich die Flugtaxis an.
Die Leipziger Not-Oper: Hamsterradio goes Punk
Wie immer seinem Bildungsauftrag auf coloRadio.org folgend, informiert Teichelmauke aus aktuellem Anlaß über das Musikgenre „Punk“ und erklärt, warum man am Bass höchstens den Bierkasten tragen darf, aber keine Verantwortung.
https://www.dropbox.com/s/yaocdp432l86akd/Not-Oper.mp3?dl=0
Der kleine und der große Unterschied
Ein paar Tage lang konnte man sich der Illusion hingeben, die Schreck- und Freudenschüsse nach den Wahlen am letzten Mai-Sonntag könnten dazu führen, daß neue Wege eingeschlagen werden, um zu retten, was noch zu retten ist an Zivilisiertheit im Inneren und Ansehen in der Welt, grad im äußersten Osten von Sachsen:
Ein Salon-Nazi mit den meisten Stimmen bei der OB-Wahl in Görlitz, aber sehr weit von einer großmäulig prophezeiten absoluten Mehrheit entfernt und deutlich dahinter ein CDU-Bewerber, der grad mal 30% der Wähler*innen von sich überzeugen konnte und damit fast exakt das Ergebnis des Gegenkandidaten bei der letzten OB-Wahl 2012 erreichte – das Potential der CDU in dieser Region also bestenfalls zur Hälfte ausschöpfte.
Gleich dahinter mit nur 2,4 %-Punkten oder 641 Stimmen weniger eine Bewerberin, die es „trotz“ ihrer grünen Herkunft schaffte, ein breites Bündnis hinter sich zu versammeln, und eine Kandidatin der Linken, deren Anteil von 1.470 Stimmen oder 5,5% im Verhältnis ähnlich desaströs war wie jener der CDU (exakte Zahlen hier: https://www.goerlitz.de/uploads/OB2019_1WG.pdf )
Angesichts der Tatsache, daß die AfD zwar wieder stärkste Kraft in Sachsen geworden war (wenn auch mit deutlich geringerem Stimmenanteil als noch zur Bundestagswahl 2017 und diesen ersten Platz somit nur dank der andauernden Schwäche der CDU bekam) und die nächsten Wahlen schon fast vor der Tür stehen, waren sogar neue Töne zu hören. Selbst der großer politischer Phantasie unverdächtige MP sprach von einer „Vier-Parteien-Koalition“, die es dann eben zu bilden gelte.
Was hätte näher gelegen, als gerade in Görlitz einen ersten Schritt zu gehen und den potentiellen Partnern auch mal etwas anzubieten, wenn man machtpolitisch schon auf dem letzten Loch pfeift (oder in diesem Falle bläst – Herr Ursu ist gelernter Trompeter)?
Aber im Osten nichts Neues – für die CDU bedeutet Zusammenarbeit Unterordnung, auf der Gegenseite wohlgemerkt. So wird aus dem kleinen Unterschied von ein paar hundert Stimmen der große Unterschied der politischen Kultur – die Versorgung eines für den nächsten Landtag ausgesonderten Parteifreundes „im besten Alter“ ist wichtiger als ein Modell, daß Sachsen in den nächsten Jahren vor dem Schlimmsten bewahren könnte. (Ob dies von allen in der CDU auch gewollt ist, darf allerdings bezweifelt werden)
Über die Selbstüberschätzung und mangelnde Weitsicht der Linken, die (auch) zu dieser Situation geführt hat, könnte ein eigener Beitrag zu schreiben sein, in dem viel von Traurigkeit die Rede wäre, aber das ist hier nicht das Thema.
Hier geht es um den Krug der Union, der wohl zum letzten Mal zum Wasser ging an der Neiße, bevor er dann im September bricht.
Und so darf der wackere Octavian weiter auf seinen Thron-Anspruch beharren, ohne daß ihn irgendein Augustus in Dresden zurückpfeifen würde – Herr Kretschmer arbeitet sich derweilen lieber am Vergleich von Unvergleichbarem ab und ergänzt seine ohnehin schon beachtliche Stilblütensammlung. Ohne die Größe einer Franziska Schubert, der „Staatsräson“ die eigenen Ambitionen unterzuordnen, hätte man wohl dank der Dimpflichkeit der Sachsen-CDU (eigentlich ein bairischer Fachbegriff, der aber selbst dort nur noch selten zum Einsatz kommen muss, „Bräsigkeit“ ist vermutlich geläufiger) dann in Görlitz den ersten AfD-OB in Deutschland gehabt. Danke, CDU, für gar nichts.
Spannend wird aber, wie sich Herr Kretschmer oder wer auch immer im September dann die sächsische Karre aus dem blaubrauen Dreck ziehen soll, sich die Bildung einer Regierung jenseits der AfD vorstellt. Glaubt er, man müsse nur rufen, damit alle potentiellen Partner die dargebotene Regierungsbeteiligung brav apportieren?
Das kann er tun – Glauben ist Privatsache. Und zugegebenermaßen ist in zwei Fällen der inhaltliche Trieb vermutlich deutlich schwächer ausgeprägt als der institutionelle – man darf davon ausgehen, daß für Ministertitel einige programmatische Großmütter geopfert würden, sofern diese noch lebend aufzufinden sind bei SPD und FDP. Nur werden aus drei Rittern von der traurigen Gestalt noch keine Musketiere.
Da macht offenbar einer die Rechnung ohne den vermeintlich vierten im Bunde – nebenbei gesagt übrigens die einzige Partei, die sich in Sachsen als Sieger fühlen darf nach der Wahl am Sonntag. Alle anderen sind teilweise massiv abgeschmiert im Vergleich zu 2017, https://wahlen.sachsen.de/europawahl-2019-wahlergebnisse-6931.php zu https://wahlen.sachsen.de/bundestagswahl-2017-wahlergebnisse-5073.php – und komme mir niemand mit den vielen Kleinparteien als Grund: deren Konkurrenz betraf alle.
Ein Strippenzieher wie Kretschmer sollte wissen, daß Politik – vornehm ausgedrückt – aus Kompromissen besteht. Und wenn jetzt ein Ursus minimus blind nach dem Honig der Macht tappt, soll er das halt tun (und das hoffentlich nicht auch noch verkacken) – aber um so größer wird der Teil des Bärenfells sein, den die Strategen der CDU abgeben müssen, um ein Regierungsmäntelchen zu schneidern.
PS: Falls jetzt einer bei der CDU anfängt nachzuzählen, welche Ministerien wohl dran glauben müssen nach der Wahl – gerne, ein bißchen Grusel schadet nicht.
Aber es geht in erster Linie um die Programmatik. Da wird manch bittre Träne fließen bei den Verteidigern des „Weiter-So“, des ungehemmten Zukunftsverbrauchs, des Polizeistaats, der autofixierten Verkehrspolitik, der industriellen Landwirtschaft, kurz bei allem, was der CDU und ihren Hintersassen heute lieb und teuer ist. Denen kann man dann nur empfehlen, in Rente zu gehen und nach Görlitz zu ziehen. Soll schön dort sein, an sich.
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„Hool“ nach dem Roman von Philipp Winkler, Bühnenfassung und Regie Florian Hertweck, Premiere am Staatschauspiel Dresden am 22. März 2019
Wenn man Mitleid mit dem Pack empfinden würde, für das der Begriff white trash offenkundig erfunden wurde, hätte man am Ende vielleicht schlucken müssen ob der absehbaren Trostlosigkeit des weiteren Daseins der Prügel-Knaben, egal ob nun als lebenslang Behinderter, als kreditabzahlender Reihenhaushöllenbewohner, als wertvolles Fußballvereinsmitglied oder schlicht als perspektivloser Assi. Den Knacks behalten alle, beileibe nicht nur in der Zahnleiste, und das sei ihnen von Herzen gegönnt. …
Jenseits dieser Betrachtungen … ist von einem kraftvollen, adrenalingetränkten und turbulenten Abend zu berichten, in dem sich fünf Schauspieler alle Mühe gaben, mitunter als ein Block von 50 Hools zu erscheinen, was auch öfter gelang….
Wieder mal (nach dem thematisch benachbarten „Neun Tage wach“) eine gelungene theatrale Umsetzung eines aktuellen Romans, die ihr breites Publikum finden wird.
Das ganze Spiel in voller Länge hier:
http://www.kultura-extra.de/theater/veranstaltung/premierenkritik_hool_staatsschauspielDD.php
Käse von Frau Antje
„Warst Du nicht fett und rosig? Warst Du nicht glücklich? Bis auf die Beschwerlichkeiten, mit den anderen Kindern streiten, mit Papa und Mama … Wo fing es an und wann? Was hat Dich irritiert? Was hat Dich bloss so ruiniert?“ (Die Sterne, „Was hat Dich bloss so ruiniert?“)
Es ist hier nicht der Ort, über die körperliche Beschaffenheit von Antje Hermenau zu diskutieren. Das geht außer Ihr niemanden etwas an und trägt auch nicht zur Wahrheitsfindung bei. Daß aber etwas Relevantes geschehen sein müsse, damit Frau Antje sich heute so äußert wie sie es tut, das kann man schon vermuten und deshalb den guten alten Gassenhauer vorweg zitieren.
Frau Hermenau war lange die wichtigste Person der Grünen in Sachsen, nach zehn Jahren im Bundestag führte sie die grüne Fraktion im sächsischen Landtag als Sprecherin durch zwei Legislaturperioden, um dann Ende 2014 – obwohl wieder als Spitzenkandidatin in den Landtag gewählt – auf ihr Mandat zu verzichten, als die Partei ihren schwarzgrünen Bemühungen nicht folgen wollte. Heute ist sie Politik- und Unternehmensberaterin und seit einiger Zeit für die Freien Wähler Sachsen als Geschäftsführerin tätig.
Letzteres ist wohl eher Wirkung als Ursache des Sinneswandels, den sie in ihrem Buch „Ansichten aus der Mitte Europas. Wie Sachsen die Welt sehen“ dokumentiert. Erscheinen wird das Werk am 14. März 2019 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, einer honorigen Institution, die sich nach ihrer Selbstdarstellung „die Pflege der evangelischen bzw. protestantischen Theologie und Tradition und die Offenheit für Fragen des Zeitgeschehens sowie aktuelle Entwicklungen in Gemeinde und Kirche“ auf die Fahne geschrieben hat.
Vielleicht ist es auch dem Einfluss des Verlags zu verdanken, daß die Leipziger Volkszeitung mit den Dresdner Neuesten Nachrichten im Schlepptau aus dem Erscheinen des Buches ein veritables Ereignis machen wollte und ihrer Leserschaft von Donnerstag bis Sonnabend drei Vorabdrucke aus dem Buch präsentierte, eingeleitet von einem zweidrittelseitengroßen Interview mit Frau Hermenau am ersten Tage. Die Zeitungen werden sich das überlegt haben, und ein kleines Skandälchen schadet nicht, grad kurz vor der Leipziger Buchmesse ist man dafür dankbar. Und, nicht zu verachten: So kommt auch meine Wenigkeit in den Genuss der Hermenauschen Betrachtungen, für die ich sonst sicher nicht die zehn Euro angelegt hätte, die das Büchlein kosten wird.
Und dies wiederum gibt mir Gelegenheit, darüber ein wenig zu reflektieren und endlich zum Thema zu kommen.
„Wer offene Grenzen will, schafft den Sozialstaat ab“ ist das Interview überschrieben. Dieser Satz steht sinngemäß auch im Buch und im Gespräch erläutert Frau Hermenau, daß es Menschen gäbe, „die sagen, sie wollen offene Grenzen für alle“. So richtig klar wird dabei nicht, wen sie meint, und genauso, wie es Menschen gibt, die um Sachsen herum eine Mauer bauen wollen, gibt es sicher auch jene, für die Grenzen prinzipiell unnatürlich sind. Die Frage ist halt, wieviel Einfluss diese Gruppen haben und welche Reichweite. Aber wenn man sich einen solchen Popanz aufbläst, kann man natürlich dann wacker drauf eindreschen und dabei die Stimme der Vernunft geben. Es wirkt halt nur ein bißchen billig.
Überhaupt beschränkt sich Frau Hermenau eher auf die preiswerten Teile der Volkswirtschaftslehre, in dem sie Monokausalitäten zwischen Rentenniveau und Zuwanderung herstellt oder darauf verweist, mit den „100 Milliarden Integrationskosten … heute leistungsstarkes Internet bis zu jeder Milchkanne durch finanziert“ gehabt zu haben. Ramsauer, Dobrindt und Scheuer werden dankbar sein, daß ihre mangelnde Performance in dieser Sache auf einmal finanzielle Gründe hat. Ähnlich übersichtlich sind ihre anderen Wirtschaftsweisheiten, der Mythos vom faulen Ausländer wird bemüht, es wird beklagt, daß „doch wirklich wenige Flüchtlinge in hoch qualifizierten Jobs“ sind (was man denen nun wirklich mal trotz jahrelang unterbrochener Ausbildung und eines Neuanfangs in fremder Sprache und Kultur ordentlich um die Ohren hauen sollte, nur keine falsche Scham) und auf die Frage, ob sie nicht zu schablonenhaft argumentiere, hält sie entgegen: „Nein, denn ich rede mit vielen Unternehmern, die mir ihre realen Erlebnisse schildern.“ Bei diesem Monopol auf die Wahrheit wüsste ich was Besseres als nur Bücher zu schreiben, aber das kann ja alles bei Frau Hermenau noch kommen.
Der zweite Schwerpunkt von Frau Hermenau sind die Sachsen, die unverstandenen, fehlinterpretierten, an- und bodenständigen, heimatliebenden, nicht dummen und es-satt-habenden Sachsen, die „nicht tot gequatscht werden“ wollen. „Loofen musses“ für diese, und ähnliche sprachliche Pretiosen enthält das Buch viele, wenn man den Auszügen trauen kann. „An den Freien Wählern gefällt (ihr), dass die in Berlin und Brüssel keinen Hintern haben, den sie abküssen müssen“. Soviel Schlichtheit im Geiste ist angesichts von zwanzig Jahren als Berufspolitikerin schon entzückend.
Und nein, das Interview scheint nicht besonders zugespitzt zu sein im Vergleich zum Buch. Der erste Auszug beginnt wie folgt:
„Fragt man in Sachsen danach, wer regieren und was die Regierung machen sollte, kann schon mal die Antwort kommen: „Is mr eechentlich egal, wer ohm den Gassbr machd, aber loofen musses.“ Darin liegt tiefe Weisheit. Vor allem klärt der Spruch eindeutig, wer die Arbeit macht und die Mäuse für alle verdient. Kleiner Tipp: „Der Kasper da oben“ ist es nicht. …
Im Folgenden wird dann von einem Geschäftsführer der Sachsen GmbH gefaselt, und die beschränkte Haftung gesteht man Frau Hermenau dann sicher auch im Weiteren zu.
Noch ein Zitat? „Sogar Schießbefehle aus Berlin gibt es wieder. Die fetten Kugeln nennen sich „failed state“, „Nazis“ und „Dunkeldeutsche“. Und dann gibt es da noch jede Menge Kleinschrot für die Kartätschen: „abgehängt“ oder „Pack“. …“ Was freundlich interpretiert noch als bemühte Komik durchgehen könnte, erscheint im Gesamtkontext des Absatzes als Beschwörung des unfehlbaren Sachsen, der ob seiner 1.000-jährigen Geschichte nicht irren könne und für den jede Kritik an seinem Verhalten als anmaßend erscheint. So ist das offenbar auch wirklich gemeint, das Hohe Lied der sächsischen Nation wird gesungen: „Sachsen ist eine Art kleine Nation: Wir haben ein Staatsvolk, eine Staatsgrenze, eine Staatsgewalt, einen Staatsschatz, eine Hochkultur auf Weltniveau (gegenwärtig vor allem in Musik und Malerei) und einen Staatsdialekt.“
Wenn Frau Hermenau so weiter macht, muss Uwe Steimle bald Autohäuserjubiläen moderieren (falls er das nicht schon macht) und die Nationalkasperstelle beim MDR wird endlich weiblich besetzt.
Man könnte über diesen Unsinn traurig schmunzeln und ihn beiseite legen, aber es wird dann auch noch ganz tief ins Klo der ausländerfeindlichen Hetze gegriffen, das soll nicht unwidersprochen bleiben:
„Zudem müssen die mindestens 100 Milliarden Euro bis 2020 für die Zuwanderer auch erwirtschaftet werden. … Was denkt eine Frau, die arbeiten musste, weil ein Gehalt nicht reichte … wenn sie im Fernsehen sieht, wie ein syrischer Familienvater mit zwei Frauen und geschätzten zehn Kindern voll versorgt wird?“
Frau Hermenau, das ist wirklich ein Problem. Aber wissen Sie denn nicht, daß im Koran steht, jeder ordentliche Muslim müsse mindestens einmal im Leben die heiter blühenden Landschaften des Morgenlands mit Frauen und Kindern verlassen, um für mindestens sieben Jahre in die deutschen Sozialsysteme einzusickern? So erklärt sich das doch ganz einfach.
Tut mir leid, aber auf diesen Schmarrn kann ich nur mit Geblödel reagieren, auch wenn Fasching nun vorbei ist.
Zum Ende sei noch einer Befürchtung Ausdruck verliehen: Mit Zitaten wie dem folgenden „Die Verfemung eines ganzen Bundeslandes, das sich nicht einfach so anpassen will, führt u. a. dazu, dass wir von manchen gemieden werden“ wird sich Frau Hermenau vermutlich für zahlreiche zweitklassige Fernseh-Talkshows qualifiziert haben, um dort die Sachsen-Erklärerin zu geben. Vielleicht ist dies auch der tiefere Sinn des Buches.
Für diesen Fall möchte ich zu Protokoll geben, daß Frau Antje Hermenau nicht bevollmächtigt ist, für mich als gebürtigen und wohnhaften Sachsen zu sprechen oder mich zu erklären. Vielleicht kann man das jeweils unten im Bilde einblenden, als Laufschrift. Dankeschön.
P.S.: Noch ein helfender Hinweis zu einem Satz aus dem Interview: „Ich möchte mit dem Buch endlich das Fenster aufmachen und frische Luft reinlassen.“ Gnä‘ Frau, das wäre auch ohne Buch gegangen, es sei denn, Sie wollten die Scheibe einwerfen.
Am Beispiel des Kühlschranks oder Es geht ein Riss durch den Saal
„Wir sind auch nur ein Volk“ nach Jurek Becker am Staatsschauspiel Dresden, 8. September 2018, Uraufführung der Spielfassung von Tom Kühnel (Regie) und Kerstin Behrens
Vorweg: Nachdem der erste große Ärger über einen völligen Missgriff nach der Pause verraucht ist, kann ich insgesamt doch einen guten Abend bescheinigen. Zum „sehr gut“ fehlt die Haltung, und die mitunter überzogene Ostalgie mag „breite Kreise der Bevölkerung“ (um im Duktus zu bleiben) zufriedenstellen, mich nervt sie eher. Dennoch begeistern die Vielzahl an durchdachten und gut inszenierten Szenen, das Bühnenbild, ganz besonders die perfekt getroffenen Kostüme, die Musikauswahl von im Prinzip auch (selbst wenn sie weh tat) und die Live-Kamera, die der Enge der Grimmschen Wohnung Ausdruck gab, bekommt ein Sonderlob.
Hier: http://www.kultura-extra.de/theater/veranstaltung/premierenkritik_WirSindAuchNurEinVolk_staatsschauspielDD.php
Ein Hamsterradio Spezial: GUNDERMANN
Hatte ich schon lange vor, und Andreas Dresens Film gab mir jetzt den letzten Anstoß dazu: Eine Sonderausgabe des Hamsterradio, Gerhard Gundermann gewidmet, ohne Pathos, aber mit der Ernsthaftigkeit, die ihm gebührt. Gut zwei Stunden lang, kürzer haben wir es dafür nicht.
Hier zum Nachhören (jetzt auch ohne vorherrunterladenmüssen):
https://www.dropbox.com/s/tjva9eobaw5kpve/Gundermann%201Sep18.mp3?dl=0
Wer nicht lesen will kann hören
Na gut, das, worauf hier verwiesen wird, bietet nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Teichelmaukäischen Kosmos, aber immerhin. Außerdem ist Musik dabei, die, wenn sie Malerei wäre, wohl monochrom genannt würde.
Also anbei ein Link zu einem Platzl, wo man drei wav-Dateien von 60, 60 und 30 min Länge findet, die mit ihrem konsequenten Verzicht auf Aktualitäten eine Zeitlosigkeit erringen, die man sonst nur von Herrn Müller kennt. Heiner, nicht Theo und auch nicht Thomas.
Es handelt sich um Tonprodukte des freien Senders coloRadio in Dresden, wo der Unterzeichnende das Vergnügen, die Ehre und die Last hat, monatlich einmal den SonnabendAbend mit einem Unterhaltungskunstgewerbe für die ganze Familie zu bespielen. Aber da um diese Zeit eh niemand zuhört, sollen sie auf diesem Wege einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – ob sie dies will oder nicht.
https://www.dropbox.com/sh/xq0jxq5omm77skf/AAB84adw2ZwpXP1cAzTEGxVNa?dl=0
Du sollst im Theater nicht beichten
„Die 10 Gebote“ nach DEKALOG von Krzysztof Kieslowski und Krzysztof Piesiwicz, Regie Nuran David Calis, Produktion der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden, Premiere am 16. März 2018
Irgendwann, so hoffe ich, ist auch die letzte gruselige Geschichte aus Dresden und Umgebungen von den Opfern selbst (!) auf der Bühne (!!) ganz authentisch (!!!) erzählt, und die Bürgerbühne kann das Niveau der Nachmittags-Shows des Enthüllungsfernsehens wieder verlassen. Um vielleicht dann endlich zu merken, daß das ungeschützte Zurschaustellen von Betroffenen sicher spektakulär, aber noch sicherer unanständig ist.
…
Ein Fernsehfilm ist nicht Theater, und Theater ist – zum Glück – kein Fernsehen. Manchmal lässt sich das Eine in das Andere gut überführen, manchmal aber auch nicht. Vielleicht besonders dann nicht, wenn man einem ohnehin schon komplexen Stoff noch anderthalb Ebenen draufpacken will. Reality TV ist schon schwer erträglich, Reality Theatre ist erst recht kein Format, das man (besser ich) sehen will.
Der ganze traurige Rest hier:
http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/premierenkritik_die10gebote_staatsschauspielDD.php
