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Heiterkeit und Krieg und Frieden für das russ’sche Vaterland
“Krieg und Frieden” nach dem Roman von Lew Tolstoi in der Regie von Matthias Hartmann, Gastspiel des Burgtheaters Wien am 16./17. März 2013 im Staatsschauspiel Dresden
Viereinhalb Stunden. Man betritt das Theater und nickt zufrieden. Die Bedeutung von Inszenierungen misst sich an der Dauer. Und die Intendantur ist offenbar auch sportpädagogisch bewandert und führt uns sanft an den Marathon heran, Faust Eins bis Unendlich im Mai.
Aber, wie jetzt, zwei Pausen? Sind wir hier in Bayreuth? Schnürschuh-Theater, verweichlichtes! Im preußischen Berlin wird so was durchgesessen! Von wegen Hart-Mann! (Und was das wieder kostet an den Pausenbars!)
Na gut, der Weaner mag’s halt kommod. Lassen wir uns drauf ein und hören auf zu blödeln.
Der berühmte lange Tisch füllt die Bühne, ja, natürlich, in Wien ist er noch viel länger. Man wird eingeladen, in den Pausen das Bühnenbild und das Modell des Kasinos zu bestaunen. Trotz einjähriger öffentlicher Probe scheint es immer noch „work in progress“ zu sein, zumindest versucht man den Eindruck zu erwecken.
Die Einführung ist gewollt umständlich, dann scheint Guido Knopp auf der Bühne zu stehen. Der Eindruck verfliegt aber schnell, es geht in die erste Schlachtszene, und man ist fasziniert, mit welch einfachen Mitteln und einem exquisiten Ensemble (was ich noch öfter würdigen werde, Sie dürfen mitzählen) das Grauen einer Kampfhandlung vermittelt werden kann.
Dann die leistungskursartige Vorstellung der handelnden Personen, das ist witzig, das hat Tempo, das schadet nicht an dieser Stelle. Zumal, wenn man ein solch hervorragendes Ensemble beieinander hat.
Rechts oben über der Bühne wird der Bezug zur jeweils aktuellen Seite im Tolstoischen Schmöker hergestellt und damit Werktreue bewiesen. Auch das eine originelle Idee.
Abgefilmte Puppen spielen im Hintergrund eine wesentliche Rolle, stellen mal eine Schlachtenszene, mal eine Ballsituation her. Der anrückende Kriegslärm wird noch vom Summen der höfischen Drohnen übertönt.
Die Erzählweise ist … ja, eine stark szenisch orientierte Lesung, oder eine theatrale Umsetzung mit rezitativen Anteilen. Die Figuren treten ständig aus sich heraus, spielen und beschreiben im Wechsel. Das ist großartig, das macht Spaß beim Zusehn, so fliegt man förmlich durch das Werk.
Der Krieg kommt den gelangweilten Herren der Gesellschaft wie gerufen. Sie können türmen aus der ungeliebten Gesellschaft, wo täglich „Adel im Untergang“ gegeben wird.
Eine der Hauptfiguren, Pierre, erinnert ein wenig anTewje den Milchmann, trägt aber trotzdem die Handlung durch Saufgelage, die irrwitzige Wetten produzieren, die das wunderbare Ensemble fast wie ein Ballett umsetzt.
Darf man bei diesem Stoff soviel lachen? Manchmal kommt man sich vor wie in einem Comic. Erste Zweifel am inszenatorischen Ansatz.
Die Dialoge sind meist Kleinode, vor allem, wenn sie die ernsten Themen beleuchten. Aber auch ansonsten sind sie extrem gut gespielt (vom gesamten Ensemble) und äußerst unterhaltsam.
Noch eine Kriegsszene, in die man abrupt wechselt und die in großartig-grauenhaften Bildern daherkommt, dann ist Pause. Im Foyer werden Brote aus der Alufolie gewickelt, cool.
Der Devotionalienstand der „Burg“ ist klischeegerecht mit einem älteren Herren mit Wiener Schmäh besetzt, es macht Freude, Banales zu fragen.
Fürst Bolkonskij sen. weiß nach der Pause, dass Müßiggang und Aberglauben die Todsünden sind und nur Tätigkeit und Verstand dagegen helfe und lebt entsprechend. Bzw. lässt leben. Fürst Andrej bringt seine schwangere Gemahlin zum Vater aufs Land, die Schwägerin hat nun eine Leidensgenossin. Er selber geht Krieg machen.
Unglücklich sind hier alle. Die russische Seele ist tief und schwer. Großartiges Spiel des gesamten Ensembles.
Dann wieder Kriegswirren. Es geht mehr oder weniger heldenhaft zu. Die Umsetzung gelingt durch eine phantastische Choreographie des auf der Bühne versammelten Ensembles.
Es folgt: Comedy. Die Hochzeitsanbahnung von Fürst Wassilij für seinen missratenen Sohn Anatol mit der vermögenden Erbin Marja scheitert großartig, weil jener zur Unzeit die Finger auf der Gesellschaftsdame Bourienne hat. Dumm gelaufen.
Man philosophiert. Eine klare Quelle, ein schmutziger Becher, was soll da draus werden? Sinnkrise.
Pierre entwickelt sich inzwischen zum Gutmenschen. Es gibt einen Silvesterball, sehr schön wieder illuminiert mit den Puppen, Natascha, das junge Ding aus dem angesehenen Hause Rostow, entdeckt die erste Liebe: Den Fürsten Andrej, dessen Frau im Kindbett starb. Aber der gestrenge Vater des Bräutigams verlangt ein Jahr Aufschub zur Prüfung der Gefühle. Keine gute Idee.
Das Ensemble ist (auch) in den Kleinigkeiten groß, das macht seine Qualität aus. Jetzt weiß ich, was „auf Anschluss spielen“ wirklich bedeutet.
Der Krieg rückt näher, verdrängt die Romantik. Ein öffentlich sterbender Offizier als dramaturgischer Kontrapunkt wird auch so benannt und vom Publikum dankbar beklatscht. Aha, man nimmt uns ernst.
Der Videoeinsatz ist fast schon genial zu nennen, er öffnet dem Stück eine weitere Dimension.
Es geht in die Oper. Das Bühnengeschehen gibt einer der Akteure ganz allein, spätestens jetzt ist das Eis im Parkett endgültig gebrochen. Kann man das wirklich so verulken? Im Prinzip ja, sagt Radio Eriwan.
Natascha entdeckt Liebe Nr. 2, den Tunichtgut Anatol, und verfällt ihm augenblicklich. Seine Schwester Hélène, gefeierte Moskauer Schönheit und der Aktenlage nach Gemahlin von Pierre Besuchow (der inzwischen den Grafentitel und ein riesiges Vermögen geerbt hat, können Sie noch folgen?) betätigt sich als Kupplerin und lädt Frl. Natascha zu einer Sau-Reh oder so ein. Jene wird eine leichte Beute des Herzensbrechers.
Die geplante Entführung der Dame scheitert allerdings kläglich, Anatol flüchtet vor der Schmach ins Feld der Ehre.
Tolstoi wird mehr und mehr persifliert, man macht den schwerblütigen Stoff damit genießbarer, schießt aber an und an, halten zu Gnaden, übers Ziel hinaus.
Es sind weiter die Kleinigkeiten, die am Spiel des Ensembles begeistern. Dennoch verliert die Aufführung am Ende Tempo, es wird dann doch melodramatisch, alles wertvolle Menschen, leider liebt man überkreuz.
Die letzte „gespielte“ Szene, das Schlachten bei Borodina. Auch das wieder fürchterlich und gut. „Genug, was tut ihr“? sagt der Regen.
Man will uns nicht so aus dem Abend entlassen. Jede handelnde Figur wird (analog zum Anfang) bis zum meist bitteren Ende beschrieben. Nur Natascha wird mit ihrer dritten Liebe Pierre glücklich, alle anderen sterben irgendwie, auch wenn sie weiterleben. Auch dies großartig gespielt, hier dürfen alle nochmal richtig zeigen, was sie können.
Alles Unglück entspringt dem Überfluss, lernen wir am Ende. Da weiß ich nichts dagegen.
Man darf den Beifall frenetisch nennen. Ein ausverkauftes Schauspielhaus feiert die Gäste, erhebt sich, ruft Bravo. Offensichtlich ein Volltreffer ins Herz der Dresdner.
Dennoch seien mir einige relativierende Anmerkungen erlaubt:
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass hier der FC Bayern des deutschsprachigen Theaters zu Gast war. 50 Millionen Euro Basis-Jahresetat sorgen natürlich dafür, dass bis hin zum Masseur jede Position erstklassig besetzt ist. Und das führt dann dazu, dass kein Stück dank der hervorragenden Individualisten wirklich schlecht sein kann, auch wenn die Taktik (Dramaturgie) mal nicht die beste ist.
Ich habe Zweifel, ob man „Krieg und Frieden“ wirklich so aufführen sollte, als Gesellschaftskomödie, die gelegentlich von herzzerreißenden Schlachteszenen unterbrochen wird. Auch wenn das beschriebene Sterben 200 Jahre her ist, der Roman gewinnt seine Qualität aus dem Bezug darauf und nicht aus austauschbaren Sittenbildern der russischen Gesellschaft mit ihrer Vorabendserien-Dekadenz. Deshalb blieb ich auch sitzen beim großen Schlussapplaus.
Wovon ich allerdings uneingeschränkt begeistert war, gerne nochmal: Dieses wunderbare, großartige, begeisternde Schauspielerensemble.
Auch wenn es schwerfällt, will ich einige herausheben:
Yohanna Schwertfeger, die als Natascha vor allem im letzten Teil unglaublich anrührend war.
Ignaz Kirchner vor allem als grantelnder Fürst Bolkonskij.
Oliver Masucci, der selbst Dieter Bohlen rechts überholte.
Und Fabian Krüger in unzähligen Rollen, der als Dolochow exzellent war und als Duport das Haus rockte.
Was bleibt als Fazit? Die Burg war da, zu Schulzens Hundertstem (oder so ähnlich). Mit einer exquisiten Mannschaft, vielleicht nicht mit dem stärksten Stück. Aber sie war da. Das freut einen.
Oh Boy. Oh Jakob Fabian.
“Fabian” nach dem Roman von Erich Kästner in der Regie von Julia Hölscher, auf die Bühne gebracht von ebenjener und Felicitas Zürcher, Uraufführung am 15. März 2013 im Staatsschauspiel Dresden
Es: Das Jakob Fabian, ein planloses Menschlein in einer großen Stadt in einer gar nicht großen Zeit. Berlin, 1931.
Es windet sich. Sie winden, sie räkeln sich. Es kriecht, es wimmelt durch die Nacht. Den Vertrag für die Befrie(di)gung der Rechtsanwaltsgattin schlägt es aus. Dummer Fehler.
Es liest einen Mutterbrief. Sehr anrührend, kennen wir.
Es swingt, alle swingen, die Herren in Sockenhaltern. An der Bar gibt es Nachschub an Frohsinn.
Es zuckt. Unruhevolle Jugend? Eher ADHS.
Brauchen wir Männerbordelle? Von mir aus doch, solang man nicht zwangsrekrutiert wird, meint der Rezensent.
Wir müssen alle etwas wollen, nicht nur die Helden. Es aber nicht. Wo kein Wille ist, ist vielleicht trotzdem ein Weg.
Es schlingert. Es klammert sich an die Bar.
Die schlagen sich, die Linken und die Rechten. Vertragen werden sie sich nicht, wie auch. Es ist es egal.
Dr. Labude, der Freund, erleidet ein Pendlerschicksal. Sex nach Kalender ist nicht das Wahre. So weit, so traurig. Es kann da auch nicht helfen.
Es tanzt. Es paart sich.
Wenn die Frau eine Ware ist, macht Billigkeit misstrauisch. Wo ist der Haken?
Berlin ist ein Irrenhaus. Sicher doch.
Es lernt sie kennen. Sie! Es trommelwirbelt die ganze Nacht. Es scheint glücklich.
Morgens im Büro bewirbt es Zigaretten, beflügelt von der Liebe. Dann wird es gekündigt. Es ist schockiert.
Es begegnet dem Immer-wieder-sich-selbst-Erfinder, es ist fasziniert und beherbergt ihn.
Armut macht besonders frei. Nothing let to lose. Das Elend zeigt sich eindrucksvoll, 2,72 Mark pro Tag und Mensch.
Es bettelt. Es wird ausgeraubt. Und für das Männerbordell ist es schon zu alt.
Mama ist zu Besuch. Soll nichts merken.
Es sponsort die Karriere seiner Liebe mit seinem letzten Geld. Dummerweise ist sie erfolgreich. Es kann jetzt gehen. Man kommt nur aus dem Dreck, wenn man sich selber dreckig macht, sagt sie.
Es macht alles. Bzw. würde alles machen, wenn man es ließe. Die Talente reichen immerhin zum Verhungern.
Dann seltsamer Dialog zu dritt. Es versucht sich freizuvögeln. Wenns hilft? Es bleibt der, der er ist. Die Hoffnungslosigkeit begleitet es fortan.
Labude ist nun in allen Fächern durchgefallen, glaubt er. Er nimmt sich aus dem Rennen.
Das Leben ist ein Zyniker. Labudes Tod ist Folge eines universitären Scherzes. Haben Sie Humor?
Es entsetzt sich. Ab nach Hause. Nach Dresden.
Früher wars schöner. Es bewegt sich rückwärts und begegnet der Vergangenheit. Seit es groß ist, wartet es auf den Startschuss. Leben im Wartestand. Das kann man in Dresden besonders gut, hier ist alles „ehemalig“, die ganze Stadt scheint paralysiert.
Es erleidet einen Wutausbruch. Ist das die Wende? Nein.
Es scheitert am ersten Versuch einer großen Tat. Es ertrinkt bei einer versuchten Rettung. Es ist gescheitert.
Lakonisches Ende. Jakob Fabian, er war einer von Hunderttausenden.
Kästners Satire über die frühen dreißiger Jahre ist – offensichtlich zu Unrecht – kaum bekannt. Diese heute und hier in Dresden auf die Bühne zu bringen, ist instinktsicher und zweifellos eine gute Idee. Fabian, ein Falladascher „Kleiner Mann“ ohne Anhang und Vorstellung vom Platz im Leben, aber die Schicksale ähneln sich.
Eine Einordnung ins Heute fällt schwer. Gegen ´31 ist das aktuelle Geschehen hier pillepalle, aber ein paar hundert Kilometer weiter südlich ist ´31 Realität. Und das Stück läuft ja sicher noch eine Weile, wer weiß schon, was die Zukunft bringt.
Die Bühne bildet einen angemessenen Rahmen, das Geschehen spielt sich auf zwei Podesten und dem Raum dazwischen ab, im Hintergrund eine unterbrochene, durchlässige Wand. Alles sehr grau, im Gegensatz zum bunten Treiben. Das Leben entspringt meist den Luken in den Podesten. Wenig Schnörkel, kaum Requisiten.
Zur darstellenden Compagnie: Keiner fiel nach unten ab, alle wurden dem sehr bewegungs- und körperbetonten Inszenierungsansatz gerecht, auch die „reinen“ Schauspieler. Vom Sänger hätte ich mir mehr Beiträge erhofft, die Tänzerin Romy Schwarzer hatte auch wenig Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Dies gilt für Johanna Roggan zwar nicht, aber oftmals waren es undankbare Rollen, mehr Objekt als Subjekt. Dennoch ein nachhaltiger Eindruck bei mir.
Jan Maak und Ahmad Mesghara als Multi-Rollisten fand ich sehr gut, ebenso Lea Ruckpaul als Fabians Geliebte Cornelia. Die Krone möchte ich aber diesmal zwei Herren aufsetzen: Thomas Braungardt als Labude war anrührend, authentisch, fesselnd. Und Philipp Lux in der Titelrolle trug das Stück, gab den Takt vor, um ihn herum drehte sich das Geschehen. Wieder einmal eine erstklassige Leistung.
Der Regisseurin Julia Hölscher ist ein Kompliment zu machen: Sie hat aus einem Stoff, der von Hause aus mit Theater nicht viel zu tun hat, gemeinsam mit der Dramaturgin Felicitas Zürcher (deren Arbeiten am Haus bisher immer hochklassig waren) ein Stück gemacht, das zu den Höhepunkten in dieser mit Highlights fast überladenen Dresdner Saison gehört. Kein Überflieger, sicher auch nichts für das Theatertreffen, aber eine Inszenierung, die etwas zu sagen hat. Eine lange Laufzeit ist zu wünschen.
PS: Ach ja, der etwas eigenartige Titel dieses Beitrags.
„Oh Boy“, ein Film von Jan Ole Gerster, der unglaublich dicht an dieser Handlung dran ist. Da taumelt auch einer durch Berlin und merkt gar nicht richtig, was ihm geschieht. Ich hielt es für angemessen, das zu zitieren.
Weltall, Kirche, Mensch
„Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht / Margarete Steffin in der Regie von Armin Petras, Premiere am Staatsschauspiel Dresden am 9. März 2013
Zu Beginn eine gleißende Helle, als ob man in die Sonne schaut. Die Kunst ist erstmal anstrengend, der Sinn erschließt sich erst später.
Ein Focaultsches Pendel schwingt zwischen raumhohen Spiegeln, mühsam ist es zu erkennen.
Das Licht geht aus, erleichterter, dämlicher Applaus, mich erfasst Fremdscham.
Galileo rezitiert seine Erkenntnisse, der Hintergrund füllt sich mit Lauschern. Er stiftet Verwirrung und Durcheinander, der Mittelpunkt ist weg.
Seine weitere Karriere ist auf ein Plagiat gestützt, er verkauft das Fernrohr aus Holland als seins und erntet den Ruhm. Die Übergabe an den Dogen von Venedig spielt die Tochter nach, das ist witzig. Dann eine Menge Italo-Klischees, eine Gehaltsverhandlung, Wolfgang Michalek witzelt sich in einer seiner vielen Rollen in Fahrt.
Es gibt Zitate aus der Dreigroschenoper, dann noch ein Faustscher Hundemonolog: Galilei ist groß, aber unzufrieden. Sehr schöne Bilder in der Folge, auch viel Pantomime. Die aufgebaute Kunst bleibt nicht stehen, sie fällt um bzw. entwickelt sich weiter.
Bühnennebel zieht in den Saal, die älteren Damen neben mir husten demonstrativ. Galileis Entdeckung auf den Punkt gebracht: Da ist kein Halt im Himmel. Da ist auch kein Platz mehr für Gott.
Die Tochter (Julischka Eichel eher unterfordert) muss ein Dummchen spielen, auch die Haushälterin (eine souveräne Nele Rosetz für die erkrankte Karina Plachetka) hat die Klischees zu bedienen. Minderlustig. Auch Sebastian Wendelin, der ansonsten als Andrea Sarti großartig ist, macht als singender Kastrat keine tolle Figur. Dann sind auch noch die Requisiten störrisch.
Galilei, nunmehr am florentinischen Hof, will einen Beweis per Augenschein erbringen, wird aber in einen formalen Disput gezwungen. Dieser ist erstklassig in Szene gesetzt, der Mathematiker sagt, es kann nicht sein, der Philosoph, es ist nicht nötig, der Theologe, es ist gefährlich. 3:0 für den AC Florenz.
Die katholische Dialektik ist einfach: Wenn das Fernrohr Ergebnisse bringt, die von der Lehre abweichen, kann es nicht zuverlässig sein. Also ist damit gar kein Beweis möglich.
Soll man (nicht) fragen, wohin die Wissenschaft uns führt? Die Frage scheint heute genauso aktuell wie damals.
Die Pest bricht aus, auch das faszinierend dargestellt auf der Bühne. „Keine Panik!“ ist die Parole, die mit Galilei zurückgebliebene Haushälterin stirbt trotzdem. Für die Wissenschaft?
Das Teufelsrohr, was dieser Galilei da anschleppte, scheint gefährlich. Am Ende ist die Erde auch nur ein Stern! Vorsichtshalber wird ein ptolemäisches Gebet gesprochen.
Krachbumm-Musik setzt ein, die Szenen werden jetzt untertitelt. Es folgt eine Zitatenschlacht mit Kardinal Barberini, die die Indizierung der „Diskursi“ aber nicht mehr abwenden kann. Galilei ist fortan verboten.
Der Mönch, der kurz danach Galilei seine Abkehr von der Wissenschaft erklären will, hat bedenkenswerte Argumente: Leben die Menschen auch in Armut, so leben sie doch in einer Ordnung und wissen, dass jemand sie leitet und über sie wacht. „Kein Aug liegt auf uns? Kein Sinn im Elend?“ Ordnung ist wichtiger als Wissen.
Danach Albernheiten mit Tonband. Wendelin pendelt und entlässt uns in die Pause.
Die Transformation ins Heute erscheint gar nicht schwierig. Wenn jemand das herrschende Finanzsystem in Frage stellte, z.B. nach der Berechtigung des Zins fragte, oder einfach den Besitz an Boden und Immobilien grundsätzlich negieren würde, wären die Reaktionen sicher ähnlich, auf die heutige Art. Aber warum soll man diese Fragen nicht stellen? Dass die Erde eine Scheibe ist, war früher genauso Grundkonsens wie heute die Mär vom Wachstum als Heilsbringer.
Nach der Pause muss Virginia weiter blödeln, es nimmt kein Ende, sie kann einem leid tun. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut, das bestätigt sich immer wieder.
Acht Jahre später, die Spiegel sind inzwischen blind, das Pendel steht still. Galilei hat sich eingerichtet, eine Knoff-Hoff-Show seiner Mitarbeiter findet statt, die aber ebenso wenig zur Wahrheitsfindung beiträgt wie die folgende Schmonzette zwischen Virginia und Ludovico, die dann fast peinlich wird.
Der alte Pabst geht, habemus papam Barberini, zur Feier des Tages wird Wein aus Plasteflaschen getrunken, wohl bekomm’s. Galilei forscht jetzt wieder, das Fräulein Tochter verliert daraufhin den Bräutigam. Wir müssen alle Opfer bringen. Für die Wissenschaft?
Der eiserne Vorhang senkt sich. Abbruch? Nein, W. Michalek tritt davor und muss nun auch den Kaspar geben. Natürlich macht er auch das großartig, einer wie er könnte auch das Telefonbuch zur Verlesung bringen und das Publikum damit begeistern, aber dem Ablauf des Stücks wird damit endgültig das Genick gebrochen.
Erst als Michalek in den Eisler-Song einsteigt, gewinnt die Szene Relevanz zurück. „Man scherzt nicht mit der Bibel“, wohl wahr.
Zurück im Spiel. Man lässt Galilei waren, das Publikum auch. Das Pendel schwingt wieder, irgendwann kommt es dann aber doch zur Auslieferung nach Rom, warum auch immer. Galilei bewohnt ab sofort einen Käfigwagen.
Der Zweifel sei die Grundlage seiner Forschung, sagt die Inquisition. Und wer zweifelt, ist schon dagegen. Das haben also weder Hitler noch Stalin erfunden.
Cui bono? Der Kirche sicher nicht, also zeigt man ihm die Instrumente.
Währenddessen warten seine Jünger auf das Ergebnis. Eine anfangs phantastische Szene, die leider am Ende wieder in Comedy endet.
Er hat widerrufen. Traurig das Land, das keine Helden mehr hat, oder eher jenes, das Helden nötig hat? Die Antwort bleibt offen.
Ein halbwegs passender 80er-Jahre-Poptitel beendet die Szene.
Galilei im Hausarrest, er wird besucht von Andrea. Mit jenem gelangt eine Abschrift des bösen Buchs in die weite Welt, fernab des Zugriffs der Kardinäle. Aber Galilei bleibt ein Gefangener der Kirche bis zu seinem Ende.
Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit, wie vor zwanzig Jahren Tocotronic so treffend sangen.
Üppiger Applaus am Ende, einige Jubelschreie für das Regieteam, denen ich mich nicht anschließen möchte.
Noch einige Nachbemerkungen:
Das Bühnenbild war großartig, wie viele andere zuvor auch. Ich habe keinen Unterschied zwischen einem renommierten bildenden Künstler und den sonst hier tätigen Bühnenbildnern gesehen.
Neben den schon erwähnten Darstellern möchte ich noch Gunnar Teuber hervorheben, der dem Federzoni Herz und Leidenschaft gab.
Die Hauptrolle war mit Peter Kurth prominent besetzt. Ich sah eine seriöse Leistung, aber nicht mehr. Neben Michalek hatte er schlechte Karten.
Das Programmheft ist äußerst informativ und dabei noch lesbar, vielen Dank dafür.
Zum Schluss: Selten sah ich ein Stück mit einer derartigen Diskrepanz zwischen großartigen, bildgewaltigen Szenen und völlig banalen, sinnfreien Zwischenspielen. Das wird mir noch eine Weile Stoff zum Nachdenken liefern.
F wie Freiheit, T wie Tod
„Die im Dunkeln“ von Mona Becker in der Regie von Bernhard Stengele, Uraufführung am Landestheater Altenburg, gesehen am 8. März 2013
Schön, wenn sich eine solche Mitfahrgelegenheit bietet: Freunde hatten familiär bedingt die Idee, Altenburg zu besuchen und das neue Stück am Theater, das auch überregional einiges Aufsehen erregt hatte, anzusehen. Da muss man doch mit!
Auf der Hinfahrt durch nebelverhangene Landschaften grübele ich, wie man das wohl auf die Bühne bringt: Es soll um den Widerstand in der frühen DDR gehen, der für die Beteiligten oftmals tödlich endete. Eine wahre Geschichte aus Altenburg wird erzählt, eine, die jahrzehntelang keiner wissen durfte und wollte. Das inszeniert sich nicht mit leichter Hand, ich hoffe sehr, keine Enttäuschung zu erleben.
Das Altenburger Theater ist prächtig, plüschig-schön, man merkt die frühere Residenz. Den ersten Kontakt mit dem Stoff bringt wie gewohnt das Programmheft. Dieses hier ist handlich und kompakt, bietet aber eine Fülle von Material zum Thema, ohne den Zuschauer zu überfordern, wie es anderswo manchmal geschieht. Es ist der beste Begleiter durch das Stück, den man sich vorstellen kann, dafür schon mal ein großes Lob.
Der Saal ist voll gefüllt, was dem Vernehmen nach hier nicht üblich ist. Die Altenburger scheinen gewillt, sich mit diesem Teil ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Mir wurde ein Platz in der ersten Reihe zugewiesen, das hat Vor- und Nachteile. Vom Rang aus sieht man hier auch sehr gut, stelle ich fest. Naja, beim nächsten Mal.
Am Anfang herrscht totale Finsternis. Dann schält sich langsam eine Vorgeschichte heraus, erst die Nazis mit den erst später wahrgenommenen Gräueln, dann kurz die Amis und dann die Russen, bei denen man schon bald die Tendenz zum Totalitarismus bemerkt.
Ein kluger dramaturgischer Griff: Es gibt zwei Erzähler, die abwechselnd sich selbst mit 19 spielen und dann – die Mäntel der Geschichte überstreifend – die Geschichte aus Sicht der Veteranen schildern. Diese zwei gibt es wirklich, sie haben bei der Entstehung des Stückes mitgewirkt und wurden zur Premiere umjubelt.
Auch andere treten kurz aus ihren Rollen, um sich vorzustellen. Das hört sich dann z.B. so an: „Flack, Siegfried, Lehrer, 22, 1950 in Moskau erschossen“. Spätestens jetzt wird klar, dass das kein leichter Abend wird.
„Nicht so laut“ ist das ständige Motto dieser Jahre, Geschichte wiederholt sich offenbar doch. Einige, Schüler wie Lehrer, wollen das nicht hinnehmen, leisten zunächst intuitiv Widerstand, werfen Flugblätter, finden sich zu Gruppen zusammen, malen das „F“ für Freiheit an die Wände der Kreisleitung, planen schließlich eine Störsenderaktion zu Stalins Siebzigstem.
Das Stück versteht sich – wenn ich es recht verstehe – als Doku-Schauspiel, das zieht mitunter langwierige und hölzerne Diskussionen auf der Bühne nach sich. Man begreift schnell die Motivation der Widerständler, danach wiederholt sich vieles. Es gibt „Wir“ und „Ihr“, eine klare Kante dazwischen, die „Ihr“-Seite bleibt unbeleuchtet.
Für die „Wir“’s gibt es gelegentlich Revolutionsromantik, aber auch die interessante Frage, ob jene in ihrem jugendlichen Furor nicht von der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU), die von Westberlin aus agierte, nicht unnötig in Gefahr gebracht und geopfert wurden. Auch das ist ein bedenkenswerter Teil der Geschichte.
Die Einordnung in das zeitliche Umfeld erfolgt im Wesentlichen über Musik, Tanz und die Kostüme. Das gelingt (meist) gut, wirkt nur manchmal etwas unmotiviert (der Bruch durch den „Zug nach Kötzschenbroda“ ist schon heftig). Später gelingen dann großartige Bilder, wie die Darstellung der Verhaftungen, bei der jeder Geschnappte aus der großen Tanzrunde ausscheidet. Der Fuchs geht um, am Ende bleibt kaum einer übrig auf dem Parkett, alle sind verdächtig.
Zuvor noch der Höhepunkt des Widerstands, der Bau und Einsatz eines Störsenders zur Pieckschen Rede zum 70. von Väterchen Stalin. Das ist sehr gut in Szene gesetzt, die Antenne zieht sich quer durch den Zuschauersaal, die Anspannung ist allen Akteuren anzumerken. Ein paar Minuten sind sie auf Sendung, dann fährt ein Auto verdächtig nah vorbei, es wird abgebrochen und blitzschnell abgebaut. Für’s Abi lernen muss man ja auch noch.
[Ein trauriger Treppenwitz der Geschichte ist übrigens, dass bis heute nicht klar ist, ob die Störsendung überhaupt jemanden erreichte. In den späteren Urteilen spielte dies kaum eine Rolle, da ging es um die Flugblätter und vor allem um Spionage.]
Ein Vierteljahr später dann besagte Verhaftungswelle, die quälend langen Verhörszenen verursachen fast Brechreiz. Immer wieder die Schläge des Holzhammers auf den Tisch, alle schrecken hoch. Mit Schlafentzug werden sie weichgekocht, das Aufgeben ist nur eine Frage der Zeit.
Den Akteuren gelingt die Gratwanderung zwischen realistischer Darstellung und peinlichem Übertreiben. Die Vernehmer (unnötig karikiert mit blechbehangener Brust) treten am Ende kurz aus ihren Rollen, versuchen zu erklären, tun Zweifel kund. Schwarz-Weiß ist hier nicht angebracht, dieses Thema wäre sicher auch noch ausbaubar gewesen.
Vorangegangen war die für mich stärkste Szene des Stücks: Der Chor der Angehörigen, die auf der Suche nach den Verhafteten Bettelbriefe an die Organe schreiben. Erinnert mich an Chile, Argentinien, die Demonstrationen der Mütter. Beklemmend, erschütternd, alle im Saal sind angefasst. Szenenapplaus, völlig zu Recht.
Die sowjetische Nationalhymne im tiefsten Moll leitet die Gerichtsverhandlung ein. Vier mal Erschießen. Alle anderen Angeklagten gehen ab, die vier Todgeweihten bleiben zurück und dürfen noch ein Gnadengesuch nach ganz oben reichen. Abgelehnt, klar. Einer, Hans-Joachim Näther, verweigert auch dies, konsequenterweise erkennt er das (sowjetische) Gericht nicht an. Dass seine Gedichte im Laufe des Stückes mehrere Male rezitiert werden, halte ich allerdings für keine gute Idee. Dokumentarisch sicher wertvoll, aber die ihnen zugewiesene Rolle im Text füllen sie nicht aus, zu simpel sind sie gestrickt.
Den dann folgenden Wechsel zum Schlager kann ich nur Quark nennen.
Im Zug nach Moskau. Selbstgespräche der Verurteilten, Albträume, Apathie, Verzweiflung, Ruhelosigkeit, wir sehen die ganze Palette. Im Traum erscheint Sophie Scholl, untermalt mit Heine-Zitaten, der Frage, ob sie in Kenntnis des Endes auch so gehandelt hätte, weicht sie aber aus.
Die Erschießung selbst wird beeindruckend in Szene gesetzt. Einer nach dem anderen wird von der Liste der Lebenden gestrichen. Dann noch der Auftritt einer Angehörigen, die sich jahrzehntelang um einen Toten sorgte, auch dies ergreifend, ein guter Schlusspunkt.
Doch Autorin und Regie haben die beiden Erzähler nochmal vorgesehen: Diese finden heroische Worte für die Botschaft, Auflehnen gegen Ungerechtigkeit sei Pflicht. So wahr, so banal. Da unterschätzt man das Publikum ein wenig. Hoffe ich.
Das Stück – ein Auftragswerk – geht die Altenburger etwas an, das merkt man. Fast 100 bleiben zum Publikumsgespräch, was ein wenig schwer in Gang kommt, aber dann doch noch einige Einblicke bietet. Die Autorin Mona Becker (noch jünger als erwartet, was ihr einen unbefangenen Blick auf die Geschehnisse erlaubt) ist neben der Dramaturgin Geeske Otten selbst dabei, der beratende Historiker Dr. des. Enrico Heitzer sitzt im Publikum. Eine übersichtliche Szene.
Dass alle da sind, hat auch mit dem Rahmenprogramm zu tun: Am Sonnabend gibt es eine Tagung zum Thema „Widerstand in der frühen DDR“, das heutige Friedrichgymnasium (als EOS „Karl Marx“ damals ein Hauptschauplatz des Geschehens) beschäftigt sich intensiv mit dem Stoff, ab April wird es eine Ausstellung geben. Man hat das Gefühl, hier wird ein Stück regionale Vergangenheit konsequent aufgearbeitet. Auslöser dafür ist das Theater, das damit einer seiner vornehmsten Aufgaben in bester Weise nachkommt.
Meine eingangs geschilderten Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Ich sah ein packendes Stück, das einen schwierigen Stoff dramaturgisch ansprechend auf die Bühne brachte. Kein schöner Abend, aber ein guter.
Aus dem Schauspielerensemble möchte ich niemanden herausheben, alle waren authentisch, eine geschlossene Leistung. Es bleibt dem Landestheater Altenburg zu wünschen, dass der Publikumszuspruch so bleibt und vielleicht auch auf andere Stücke ausstrahlt, wenn die Besucher sehen, was Theater vermag.
Der gute Mensch vom Supermarkt
„Meine Kältekammer“ von Joël Pommerat in der Regie von Christoph Werner, gesehen am 28. Februar 2013 im Puppentheater Halle (deutsche Erstaufführung)
Nach dem Theaterexperiment nun anderntags das Puppentheater. Soso. Da will wohl einer Bandbreite beweisen.
Ischschwör, es ist Zufall, durch den beruflichen Kalender bedingt. Jener bescherte mir eine Übernachtung in Halle und zu meinem Glück gab es keinen Klassiker am „richtigen“ Theater. Man muss es fast Vorsehung nennen.
Puppentheater, na gut. Sicher ganz nett, muss es ja auch geben. Und Minoritäten sind schützenswert, wissen wir ja. Also begibt man sich mit einem wohlwollenden Lächeln ins (überraschend moderne) Haus und kann nachher sicher einen Strich auf seiner Gutmenschenliste machen.
Denkste. Richtige Menschen auf der Bühne, neben den Puppen. Ein spannendes, vielseitiges Bühnenbild. Schnelle Szenenwechsel, die wohl nur mit diesem Medium so funktionieren. Eine Story, die mit meinem Begriff vom Puppentheater so gar nichts gemein hat (und im französischen Original auch als Menschentheater aufgeführt wird). Ich bekenne mich mal wieder zu meinen Bildungslücken, gebe aber zugleich die Beseitigung einer solchen bekannt.
Das Neben-, besser Miteinanderagieren von Puppen und Menschen ist für mich das eigentliche Faszinosum an diesem Abend. Der magische Moment, wenn man vergisst, ob die handelnde Person von einem Darsteller oder einer Puppe verkörpert wird (bei vielen wechselt das ständig), lässt bei mir nicht lange auf sich warten. Das Medium hat einen neuen Fan gewonnen.
Die Handlung ist schnell erzählt: Ein reiches Ekel vererbt aus Boshaftigkeit schon zu Lebzeiten seinen Supermarkt an die Angestellten und verlangt als Gegenleistung, dass sie ihn in einem Theaterstück jährlich lobpreisen. Das Aschenputtel der Runde (Estelle) nimmt sich der Aufgabe an und versucht den Bösen, der unheilbar erkrankt ist, damit zu bessern. Ihre Kollegen kann sie jedoch nur zusammenhalten, in dem sie sich in ihren fiesen Bruder verwandelt und Angst und Schrecken verbreitet. Eine Mischung aus Shin Te und der Heiligen Johanna sozusagen, auf jeden Fall ist jede Menge Brecht dabei.
Es ist „schön“ zu sehen, wie die normative Kraft des Faktischen aus der Runde von klassenbewussten Arbeitnehmern nach und nach kleine Kapitalisten macht, die, Zwängen gehorchend, auch schon mal einen Schlachthof abwickeln, damit nicht alles hopps geht. „Man wäre gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Brechtscher Hattrick, falls es nicht bemerkt wurde.
Eigentum heißt Verantwortung, willkommen in der Realität. Jene verändert die Protagonisten schneller als die es wahrhaben wollen, in unterschiedlichem Tempo allerdings, was immer wieder zu Reibereien in der Runde führt. Demokratie ist ziemlich scheiße in der Wirtschaft, es braucht die harte Hand. Also Estelles bösen Bruder. Business ist a dirty job but somebody must do it.
Leider gewinnen nur zwei der sieben Genossen wirklich Kontur: Neben Estelle noch Alain (Lars Frank), der zuerst die Realität erkennt und entsprechend handelt, aber das zumindest noch begründen kann. Alle anderen bleiben vage, ihre Wandlungen werden nur angedeutet, hier wäre mehr drin. Auch der Gag mit dem unverständlich sprechenden Chinesen erschöpft sich irgendwann.
Die für mich völlig überflüssige Nebenhandlung um Estelles prügelnden Ehemann und den angeblichen Kläranlagenarbeiter, der sich als Auftragsmörder entpuppt und als Werbegeschenk den bösen Gatten umlegt, hätte zugunsten der besseren Ausleuchtung von z.B. Blocq oder Claudie durchaus entfallen können.
Marie Bretschneider als Estelle kenne ich noch aus ihrer Dresdner Zeit, vor allem aus den grandiosen „Pandabären“. Sie hat die mit Abstand größten Gestaltungsmöglichkeiten und begeistert mich, auch durch ihre Körpersprache (was im Puppentheater natürlich von besonderem Wert ist).
Das Ende? Naja, nicht wirklich plausibel. Die Bekehrung des Ekels scheitert, das Theaterstück findet nicht statt, Estelle verschwindet und kehrt nach zehn Jahren wieder. Ihre Ex-KollegInnen haben sich inzwischen vom Besitz befreit und sind wieder Malocher mit oder ohne Job. Dem Weltfrieden hat das nichts gebracht, die Drecksarbeit haben dann halt andere gemacht und den Gewinn daraus eingestrichen.
Estelle verschwindet wieder, geht ins Facility Management (putzt also) und wartet geduldig auf den im Knast gelandeten Befreier.
Von meinen inhaltlichen Mäkeleien abgesehen, ein rundum gelungener Abend mit einer Neuentdeckung für mich: Puppen sind auch nur Menschen.
Schön wärs, wenn man wollen würde was man tut
„Faust in uns“, Regie Andreas Neu, Theaterexperiment der Hochschule Zittau/Görlitz und des freien Theaterensembles Kunst.Bauer.Bühne sowie des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau am 27.02.13, letzte Vorstellung
Ein Trailer im Netz hat mich gelockt: Eine Faust-Inszenierung in ungewöhnlichem Ambiente, schwungvoll geschnittene Szenen, die neugierig machen. So fahre ich also in die ferne Provinz, im Bewusstsein, dass auch ich eine Art Provinz bewohne.
Der Zug nach Zittau ist gut gefüllt, es möge keiner behaupten, in der Oberlausitz wohnt keiner mehr. Nur mit dem Arbeiten ist es halt schlecht. Die Anzahl der benutzten smartphones übersteigt die der aufgeklappten Bücher beträchtlich, der Fortschritt ist auch hier angekommen. Aber ich höre vertraute Töne, es rrrulllt richtsch. Das Wort „Nato-Plane“ hab ich auch schon lang nicht gehört, man simpelt und facht über den Schutz der Automobile im Winter.
Sobald wir den Dresdner Kessel verlassen, wird es diesig, die Schneehöhe nimmt deutlich zu. Gelegentlich tauchen einige Häuser aus dem weißen Nebel, bis die Dämmerung alles verschluckt.
Warum ich mit dem Zug fahre? Man muss die Frage doch andersrum stellen: Warum fährt man nicht Zug? Im konkreten Fall fällt mir die Entscheidung angesichts der Wetterlage relativ leicht, zudem schafft nur Baron Münchhausen die Strecke in 1.25 h mit dem Auto. Gut, ich muss den letzten Zug um halb Elf kriegen, in Schiebock nochmal umsteigen, aber viertel Eins hat mich die Neustadt wieder. Wenn alles glatt geht.
Zum Thema:
Die Ankündigung des Stücks schlägt einen großen Bogen von der Überbevölkerung und dem immer mehr steigenden Ressourcenverbrauch, von den Grenzen des Wachstums und der unbeherrschbaren Ökonomie hin zur Aussage, dass „Faust … eine negative Figur“ wäre, „eine Karikatur des prometheischen Menschen“. Die Frage nach dem Faust in uns soll gestellt werden, und jene nach unserer Verantwortung in der heutigen Gesellschaft. Unterliegen auch wir dem Faustschen „Ruheverbot“? Sind wir überhaupt noch Herr unser selbst?
Eine Menge Holz, die da zu hacken sein wird.
Rein zufällig habe ich mit dem Thema ja momentan auch ein bisschen zu tun, bin deshalb natürlich besonders neugierig. Dass das Ganze im ehemaligen Labor der Elektrotechnik aufgeführt und von einem Wandflies zum Thema begleitet wird, komplettiert die Reihe von guten Gründen für meine Reise.
Ich hab die letzte Aufführung erwischt, die „Derniere“, wie ich inzwischen gelernt habe. Zehnmal wird es dann gelaufen sein. Nach Kritiken zum Stück zu suchen, hatte ich keine Lust bisher. Aber ich will mir ohnehin mein eigenes Bild machen. Dass das nun niemand mehr überprüfen kann, ist ja nicht meine Schuld.
Es ist noch Zeit bis zum Beginn, ich gönne mir einen Fußmarsch durch das Zentrum der Großen Kreisstadt Zittau. Oder ist es eher eine greise (Ex-) Großstadt? Gegen Sieben sind die Straßen verwaist, der Nebel drückt die wenigen Passanten nieder. Man könnte auch die Dreigroschenoper hier freiluft aufführen, auch wenn der Mond über Soho heute schlecht zu sehen ist, Mackie.
Eine Fußgänger-LSA (vulgo Ampel) am Theaterring (hörthört!) stoppt den spärlichen Menschenfluss, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Der Oberlausitzer hat noch Respekt vor der Obrigkeit. Meiner ist mir leider abhanden gekommen, ich quere die Straße und spüre empörte Blicke im Rücken.
Ehemals prächtige Fassaden säumen meinen Weg, Zittau war mal eine sehr reiche Stadt und gehörte zum Oberlausitzer Sechsstädtebund, einer Art Hanse. Die Substanz ist heute noch zu sehen, auch wenn die Fenster oftmals vernagelt sind.
Im Kino am Marktplatz gibt es „Stirb langsam“ im x-ten Aufguß. Nein, ich werde jetzt keinen blöden Witz im Zusammenhang mit Bevölkerungsentwicklung und regionalen Perspektiven reißen.
Schon vor geraumer Zeit gestorben ist das Kino „Schauburg“, jedoch gibt es Wiederbelebungsversuche. Leider ist es mir noch nicht gelungen, einmal dabei zu sein, die Dresdner Namensvetterin liegt halt doch günstiger.
Eine knappe Stunde vor Beginn treffe ich am Ereignisort ein. Ich fühl mich in die Studentenzeit zurückversetzt, endlos lange Flure, buntgesprenkelt durch Plakate jedweder Art, der Weg zu Faust ist ausgeschildert. Dann öffnet sich eine Tür, ja, hier wäre ich richtig, es sei ja noch Zeit, aber ich könne gern die Ausstellung ansehen. Und die Bar besuchen. Letzteres geht getreu dem alten Brecht vor.
Die freundliche Dame am Einlass nimmt meine zweite, übriggebliebene Karte zurück und will sie wieder verkaufen, was ihr auch gelingt. Ich bin positiv erschüttert. Die Oberlausitzerin ist freundlich, da merkt man immer wieder. Sympathische Gegend.
Das Zittauer Theater gehört übrigens nicht nur aus landsmännischen Gründen schon länger zu meinen Lieblingen, leider führen wir nur eine Fernbeziehung. Immerhin, eine sehr gute „Kabale und Liebe“ hab ich vor Jahren da gesehen, und an das „Kuckucksnest“ erinnere ich mich mit viel Freude. Und noch einiges mehr, enttäuscht bin ich eigentlich nie worden, auch, weil ich um die finanziellen Gegebenheiten des GHT weiß. Dass Tom Quaas dort inszeniert hat, freut mich sehr, leider habe ich das Stück nicht gesehen. Den fast alljährlichen Kampf um den Bestand des Hauses verfolge ich mit Sorge, dass das Haus nun saniert wurde, gibt ja immerhin ein bisschen Hoffnung auf eine langfristige Perspektive. Und die Premierenfeiern in der Villa Hirche sind um Einiges besser als das, was üblicherweise in Dresden stattfindet.
Nun aber dann doch schon zu dem, was wir sehen werden.
Der kluge Text auf dem Programmflyer ist dank seiner Ausführlichkeit dann doch plausibler als die wenigen Zeilen im Netz. Es wird auf den „Global Player Faust“ von Michael Jäger Bezug genommen, auf dessen Zweifel, ob das Streben an sich erstrebenswert ist angesichts der Folgen. Was ist denn so schlimm am Verweilen? Wenn jeder Ruhepunkt verschwunden ist, sind wir im Ewig-Leeren.
Auch Christoph Binswanger, der bereits in einem anderen Faust-Stück sich zum Thema Geld und der Gier danach äußert, wird zu „Geld und Magie“ zitiert. Die Schaffung des Papiergeldes, schon bei Goethe ein alchemistischer Vorgang, entkoppelt das Geld vom Gold und lädt förmlich ein, unsichere Wetten (da haben wir es wieder!) auf die Zukunft einzugehn.
Das Ambiente mit dem ehemaligen Labor der Fakultät Elektrotechnik darf man genial nennen. Der spröde Charme der Lehreinrichtung wird ergänzt durch Illuminationen und die Theatereinbauten. Die Bühne in ihrer Nüchternheit ist das ideale Podium für eine Sezierung des Faustschen Ansatzes.
Der Saal fasst etwa 150 Besucher, ca. zwei Drittel davon bevölkern ihn. Viel junges Volk, einige davon mit tschechischer oder polnischer Zunge, wir sind im Dreiländereck, angenehme Mischung. Die Getränke kann man mit reinnehmen, domestiziert durch die Dresdner Theater hab ich aus Unkenntnis mein Bier zuvor runtergestürzt. Naja, zur Pause weiß ich dann Bescheid.
Es beginnt etwas rätselhaft. Ein langes musikalisches Vorspiel, dann ein apokalyptischer Text. Faust ist in die heutige Arbeitswelt versetzt, eine Erzählerin beschreibt seine Qualen. Zumal auch das Koks alle ist, immerhin ist noch der Malt da. Burn out as usual, er ist kein Versager, nein, aber er ist tot. Der Wagner-Dialog wird von Pappnasen vorgetragen, Faust windet sich derweil im Krankenbett.
Mephisto, nein, Mephista erscheint, in Latex. Faust wettet, hätt ich auch gemacht.
Dann die Midlife-Crisis wieder im Fokus, ein Arzt mit Flasche beklagt die mangelnde Orientierung heute und erzählt uns seine HIV-Geschichte. Seele weg, alles weg.
Faust glänzt (nicht nur) durch eine beeindruckende Stimme und begibt sich in die Hexenküche, wo ihn eine propere Meerkatze sanft entkleidet. Der Zaubertrank kommt hier aus der Dose und verleiht Jugend. Als Helena muss Marylin herhalten, was ich dann doch etwas anmaßend finde. Hoffentlich werden die Götter nicht böse.
Mephisto sieht nun aus wie der selige Dirk Bach in schlank, beide tragen quietschbunte Hemden wie der Typ aus dem Fernsehen, dessen Namen ich mir zum Glück nicht merken kann.
Das Gretchen wird hier etwas anders kennengelernt, er solle doch „wieviel“ fragen, regt sie an. Faust mag es offenbar klassisch und verzieht sich erstmal.
Dann doch die Gretchenfrage. Eine prima Rollenverteilung, Grete flitzt wie ein Weberschiffchen zwischen den beiden Fäusten hin und her, die abwechselnd versuchen die Frage wegzudefinieren.
Wir springen in den Alltag und in das gefürchtete Beziehungsgespräch. Der Schlips bleibt zu kurz und Mann und Frau passen sowieso nicht zueinander. Köstlich, eine Aufwärtsspirale wie bei Loriot, unaufhaltsam bis zur Explosion. „Leben ist grundsätzlich anstrengend“, versucht er noch auszuweichen, aber sie liest seine Gedanken: „doch mit Dir ganz besonders“. Dabei wollten sie doch nur was gemeinsam unternehmen …
„Ich wäre schon froh, wenn ich immer das wollen würde, was ich tue“, in diesem schlichten Satz manifestiert sich seine Wunschlosigkeit und gesellschaftliche Kompatibilität.
Vor der Pause noch ein Ärgernis, eine Talkshow-Persiflage über die Ratlosigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, die leider nicht über Kabarettniveau hinausgeht. Ein Klischee-Stadel, plakativ und verzichtbar die Szene.
Es beginnt wieder mit einem bitteren, sprachgewaltigen Monolog namens Entropie, der dankenswerterweise auf Zettelchen ausliegt. In der Kerkerszene am Ende von Faust I wird sein Text durch Strophen aus Faust II ersetzt, was einen schönen Effekt gibt, Grete und Heinrich reden aneinander vorbei, sie erzählt von Zweisamkeit, er von der großen ganzen Welt. Da ist auch nichts mehr zu retten.
Kofferträger im Gleichschritt leiten zum Kaiser über, der immer nur Gejammer hört. Es fehlt an Geld? „So schaff es denn!“ Des Kaisers Skepsis weicht, als das von Faust/Mephisto „ausgegrabene“ Papiergeld seinen Jecken wohl gefällt und sie zum Konsum anreizt. (Papier-) Geld wird durch Glauben zu Gold.
Wachstum! Wachstum! Noch mehr Wachstum!
Ein sehr guter Dialog zwischen Kaiser und Faust übrigens.
Dann eine Fotosequenz, in blitzartiger Folge werden Bilder von Herrschern und Sonstigen mit Schlag-Halbsätzen kombiniert. Ich erkenne immerhin George W. mit Lügnernase, kann ansonsten aber damit nicht viel anfangen. Das kommt mir zu bedeutungsschwer daher.
Am Ende ist Faust glücklich. Sagt er zumindest, aber so richtig sitzt der neue Text noch nicht. Doch er macht gute Fortschritte, sagt die Therapeutin.
Man muss sich das vorstellen wie in Clockwork Orange, was von den Toten Hosen so kongenial vertont wurde. Alex ist jetzt ein guter Bürger, ein neuer Mensch und systemkonform, die Gehirnwäsche hat funktioniert.
Der Darsteller des Faust (leider sind die Namen nicht den Rollen zuordenbar) hier mit seiner besten Leistung, sehr beklemmender Monolog.
Ein beeindruckendes, aussagekräftiges Schlussbild, dann Dunkelheit, dann Stille.
Herzlicher Applaus, an dem ich mich leider nur kurz beteiligen kann, der Zug wartet nicht. Nach einem straffen Marsch durch die verwaiste Innenstadt treffe ich rechtzeitig am Bahnhof ein, und neunzig Minuten später in Dresden, der Text ist inzwischen fertig.
Ein interessantes Stück, das ich empfehlen würde, wenn es nochmal käme. Eine gute Ensembleleistung, ein passendes Ambiente, ein Theatererlebnis, wie es sein soll. Ich hab den Ausflug nicht bereut.
Nur schade, ich hätte gern früher der geneigten Öffentlichkeit hiervon berichtet. So bleibt mir nur diese postume Würdigung und der Vorsatz, die Projekte der Kunst.Bauer.Bühne künftig aufmerksam zu verfolgen.
Unsere tägliche Schuld gib uns heute
„Die Fliegen“ von Jean-Paul Sartre in der Regie von Andreas Kriegenburg, gesehen am 8. Februar 2013 im Staatsschauspiel Dresden (Premiere), 95. n.u.S.
Wie zu erwarten beginnt es mit einer Überraschung. Franko-Pop, Playback-Show des Orest, die Erinnyen tanzen in schwarz. Über allen thront ein Bildnis des Erdmann Jupiter, die Sache entwickelt sich – nächste Überraschung – zum Slapstick mit Witwe.
Dann der Auftritt der Fliegen, mit Menschen dran, eine hübsche Idee. Jupiter erscheint nun wirklich. Er ist der Einzige, der nicht leichenblass ist.
Pünktlich zum hiesigen Totensonntag erscheinen Orest und sein pädagogischer Begleiter in seinem Heimatkaff Argos. Was sie hier wollen, wissen sie selbst nicht so richtig. Lautsprechertürme bilden die karge Bühne, in der Mitte besagtes Jupiter-Bildnis.
Elektra, eine fraugewordene E-Gitarre, tanzt mit den Müllsäcken, kurzzeitig sieht die Bühne aus wie die BRN frühmorgens. Aber das wird schnell weggefegt. Schwesterchen hat Brüderchen noch nicht erkannt.
Auf einmal ist man mittendrin in der Familienhölle. Schön die Puppen, das ermöglicht viele Zeitsprünge hin und zurück. Der Fluch des Verbrechens lastet auf der Mutter Klytämnestra, in ihrer Tochter hasst sie eigentlich sich selbst.
Die Bürger von Argos sind alle Untote, sie stürmen das Parkett. Reihe 16 ist manchmal durchaus ein Vorteil. Es ist dann viel los auf der Bühne, Bürger und Masken von Bürgern vermischen sich, durchaus mitreißend.
Das Volk hat jährlich 24 Stunden mit seinen lieben Verblichenen zu verbringen, eine nette Idee. Die Angst davor frisst schon mal die Seele auf. Hier ist die Reue Masochismus, der Mensch ist schuldig, so lange er lebt. In Summe wirkt das alles staatstragend.
Die Feier beginnt. Der Große Priester (Tom Quaas) und Ägist (Benjamin Höppner) ziehen die übliche Show ab, eine faszinierende Szene. Man fühlt sich selbst fast ein bisschen schuld.
Auftritt Elektra, Auftritt Sonja Beißwenger, zweifellos eine der Attraktionen des Abends. Sie tanzt. Und wie sie tanzt. Aber noch hat sie den Bruder nicht erkannt. Eine indirekte Diskussion, was wäre, wenn Orest auf einmal da wäre … Aber der will nicht so recht. Frieden ist ein hohes Gut.
Dann fällt die Maske. Aber Elektra ist mäßig begeistert. Was ist mit dem Fluch der Atriden? Ist er denn kein echter Atrid? Er soll endlich gehen. Aber er geht nicht. Er kann nicht.
Gibt es einen Zwang zur Rache? Ist die Vendetta schon erfunden? Elektra weiß alles vorher, ohne Kassandra zu sein. Und kann es doch nicht verhindern.
Die Wandlung des Orest zum finsteren Rächer kommt ein wenig überraschend. Aber jetzt geht’s lo-hos.
Die Wachen im Palast vollführen einen Slapstick und suchen nach dem Attentäter. Wir kriegenburgen euch! Der Fliegenschmuck des einen hält nicht stand, die Szene insgesamt ist auch verzichtbar.
Der amtierende König Ägist tanzt mit der Fliegenklatsche und glaubt seine eigenen Märchen. Ein letzter Walzer des hohen Paares. Nele Rosetz als Klytämnestra ist dazu verdammt, öfter einen affektierten, hohen Ton anzuschlagen, der manchmal nervt, ist ansonsten in ihrer Rolle aber sehr stimmig.
Oh-oh, Orest. Man ahnt das drohende Unheil. Er wird die Tat nicht bereuen, und das nutzt Jupiter nichts. „Die Menschen sind frei, nur sie wissen es nicht“, außer Orest eben. Deswegen hat Gott keine Macht über ihn, deswegen steuert er nach Kräften gegen. Aber auch er hat keine Allmacht. Ägist ist müde. Soll der doch …
Dann wird in epischer Breite geschlachtet, bisschen zu breit für meinen Geschmack. Ein Spritzer vom Blut benetzt Elektras Kleid und löst hysterische Reaktionen aus. Fortan kehren sich die Rollen um.
Nach der Pause finden wir einen feucht-glitschigen Untergrund vor, Elektra und Orest liegen im Schlafe mittendrin. Die nunmehr weißgewandeten Erinnyen empfangen ihre neue Bluttaufe, es ist Frischfleisch da.
Wie die Weberschiffchen flitzen die Greisinnen auf der nassen Bühne hin und her und verwünschen dabei das Geschwisterpaar. Und tatsächlich, bei Elektra werden die toten Augen ihrer Mutter diagnostiziert.
Elektra beginnt zu bereuen, das Paar droht getrennt zu werden. Eine große Szene, vor allem wegen der Körperlichkeit der Beteiligten. Jupiter schließlich legt sie flach, rein metaphorisch verstanden.
An Orest aber beißt er sich die Zähne aus, am Ende bettelt er um Gehorsam, weil sonst doch die Welt aus den Fugen geriete. Aber das Geschöpf, was er erschaffen hat, folgt ihm nicht. Orest hat seine eigene, ganz persönliche Freiheit, an der er festhält.
Christian Erdmanns Jupiter ist für mich der rote Faden des Stücks, auch wenn man ihm ein lächerliches Kostüm aufgezwungen hat, beherrscht er die Szenerie. In allen Phasen ist er souverän, fast wird das Stück zur Jupiterie.
Die Rolle des Orest dominiert an sich die Aufführung. Diesem Anspruch ist Christian Clauß nicht ganz gewachsen, er ist auf Augenhöhe in den Massenszenen, aber seine Monologe geraten für meinen Geschmack zu eindimensional mit dem fortwährenden Gebrüll. Hier verschenkt er Gestaltungsmöglichkeiten, die auch der Körpereinsatz nicht wettmachen kann. Eine sicher gute Leistung, die aber an Beißwenger und Erdmann nicht heranreicht.
Inzwischen erhielt Elektra ihre Bluttaufe und verschwindet endgültig im Volk von Argos.
Noch ein großer Dialog, nochmal großartige Bilder. Orest wird mit Blut bespuckt, die Erinnyen wird er nie mehr los.
Flucht? Nein. Orest tritt vor seinen Palast und lässt sich steinigen für das und von dem Volk, das er doch befreien wollte.
(In der ursprünglichen Orestie gibt es am Ende ein Gottesgericht, jene berücksichtigt aber auch den Anfang der Geschichte, mit Iphigenie und dem gar nicht so strahlenden Helden Agamemnon. Insofern ist das schwer zu vergleichen.)
Das im Wortsinne am Ende glatte Dresdner Parkett hat Andreas Kriegenburg gut gemeistert, nicht nur beim üppigen Schlussapplaus. Vielleicht hätte man ihm da auch einen roten und vor allem rutschfesten Teppich ausrollen können, verdient hätten er und das Ensemble es allemal. Und dem Arbeitsschutz wäre auch Genüge getan.
Während der Intendant hinterher von einem „blutigen Abend“ sprach und seine Schauspieler berechtigt lobte – dabei allerdings über den Regisseur kein Wort verlor – bezeichnete jener in der SächsZ vom selben Tage das Stück als „nebenbei geprobt“. Nun ja, ich weiß nicht, wie die Schauspieler das empfinden, aber dann möchte ich gern mal ein richtig geprobtes Stück von Herrn Kriegenburg sehen.
Mit dieser Inszenierung zeigt er auf jeden Fall, dass er einen eigenen, deutlich erkennbaren Stil hat. Sie reiht sich in die obere Klasse der Aufführungen der letzten Jahre ein, ohne darüber hinauszuschießen. Die Formulierung „der K. kocht auch nur mit Wasser“ wäre sicher zu billig, aber eine Offenbarung hat das Staatsschauspiel Dresden an diesem Abend nicht erlebt. Dazu ist hier wohl auch das allgemeine Niveau zu hoch.
An den Gemälden von Neo und Rosa
Die Doppel-Ausstellung von Rosa Loy und Neo Rauch in den Kunstsammlungen Chemnitz, noch bis zum 10. Februar 2013
Das Ehepaar Rauch / Loy malt, die Gruppe Tocotronic musiziert. Ansonsten haben sie aber viel gemeinsam.
Für mich zumindest. Vor den Klanggebilden der einen stehe ich mitunter genauso beeindruckt wie ratlos wie vor den Gemälden der anderen. Es ist schön, es scheint eine tiefe Bedeutung dahinter zu liegen, aber ich komm nicht drauf welche. Also beschränke ich mich meist auf den akustischen bzw. ästhetischen Genuss.
Die bereits seit 16.12.2012 laufende Sonderausstellung Rauch „Abwägung“ / Loy „Gravitation“ ist mal wieder ein Geniestreich der Chemnitzer Generaldirektorin Ingrid Mössinger. Die Idee, das malende Ehepaar auch einmal gemeinsam zu präsentieren, war offenbar so naheliegend, dass bisher niemand darauf kam. Und so können wir nun dreizehn Bilder von Neo Rauch aus den letzten zehn Jahren in allen denkbaren Formaten sowie zehn von Rosa Loy betrachten, letztere aus derselben Zeitspanne, im Format aber homogener im oberen Bereich.
In einem mit 18 Euro erfreulich preiswertem Katalog wird nicht nur die Entstehungsgeschichte der Ausstellung beschrieben, sondern jedes Werk kurz besprochen, umrahmt von Portraits der Künstler und ihrer Vita. Auslöser war der Ankauf des eigens für Chemnitz gemalten Bildes „Die Abwägung“ von Neo Rauch, welches in diese Ausstellung erstmals gezeigt und dann in den hiesigen Sammlungen verbleiben wird. Das jenes großformatig und ausklappbar im Katalog enthalten ist, ist schön, die Freude wird auch kaum dadurch getrübt, dass es auf dem Kopf stehend ins Buch eingefügt wurde. Begreifen wir es als Hommage an Georg Baselitz.
Frau Mössinger bezieht sich in ihrer Einführung auf das Frauenbild bei Rosa Loy, das ein begonnenes „Jahrhundert der Frau“ illustriere. Tatsächlich sieht man auf Loys Bildern kaum männliche Figuren, selbst die Schergen von Pontius Pilatus in „Mondlicht“ sind feminin. „Ganz ohne Männer geht die Chose nicht, Mädels!“ ist man versucht zwischenzurufen.
Bei Rauch erkennt sie mit der Neigung zur Reduktion eine neue malerische Wendung, dem ist nicht zu widersprechen.
Es ist müßig zu orakeln, ob Rosa Loy ohne ihren Gemahl und Ateliernachbarn ähnliche Aufmerksamkeit widerfahren würde. Es ist wie es ist, sagt nicht nur die Liebe. Die Chemnitzer Ausstellung ist sichtbar bemüht, sie als eigenständige Künstlerin mit eigenem Themenbereich zu präsentieren, dennoch unterläuft den Machern doch der peinliche Fehler, in den ausliegenden Biografien der Künstler zwar die Heirat von Rosa mit Neo (1985) aufzuführen, nicht jedoch jene von Neo mit Rosa. Offenbar war jene im Werdegang dann doch nicht so bedeutsam wie die andere … Honi soi qui mal y pense.
Dennoch, und unabhängig von jeder Protegierdiskussion, die Bilder von Rosa Loy sind sehenswert. Sie bilden eine sehr weibliche Welt ab, die aber deswegen nicht per se besser ist. Ihre Sujets sind ähnlich jenen des Gatten, enthalten aber weniger Betrachtungsebenen. Positiv ausgedrückt, sind sie lesbarer. Generell geht es um die Beziehung des Menschen (oder besser der Frau) zur natürlichen und sozialen Umwelt. Sie reichen von einer Märchenumgebung („Die Dienststelle“) über Ikonographie („Mondlicht“) und sehr sinnlichen Darstellungen („Die andere Seite“, „Gravitation“) bis zum wiederkehrenden Motiv des Gartens („Bestellung“, „Freunde“), welches beim ursprünglichen Beruf von Rosa Loy (Gartenbau-Ingenieurin) nicht weiter verwundert. Mein Lieblingsbild „B-Plan“ lässt sich mit gutem Willen auch da einordnen, vordergründig geht es um Imkerei, aber letztlich dann doch um Beziehungen. Das Bild hängt im normalen Leben in den Neuen Meistern in Dresden, kann also von mir öfter besucht werden, das ist schön.
Rosa Loy malt mit Kasein, ich vermeide einen Erklärungsversuch und damit eine Blamage. Dem Laien (also mir) wäre es eh nicht aufgefallen, die Deutungen überlass ich den Profis.
Aber die mit zehn Bildern doch recht kleine Ausstellung hat mich der Künstlerin näher gebracht, das sei gerne vermerkt. Dass sie sich auch am Neorauchismus orientiert, wer wollte es ihr verübeln?
Neo Rauch war ich ohnehin schon nahe, es ist auch schwierig, ihm zu entgehen im aktuellen Kunstbetrieb. Der Oberstudienrat der „Leipziger Schule“ ist omnipräsent, nicht erst seit den grandiosen „Begleitern“ parallel in Leipzig und München. Man wundert sich über die unglaubliche Produktivität des Malers, der nach eigener Aussage „nine-to-five“ malt und dennoch inzwischen ein in Format und Anzahl riesiges Werk vorweisen kann. (Den blöden Witz von der im Betrieb mithelfenden Ehefrau wollen wir mal ganz schnell wieder vergessen)
In Chemnitz wird eine vergleichsweise kleine Auswahl seiner Bilder gezeigt. Star dabei ist der Ankauf „Die Abwägung“, welche es sicher auf das Cover des neuen Museumskatalogs schaffen würde, sofern es denn für die Öffentlichkeit ohne größere Schwierigkeiten zugänglich sein wird, denn es wird seinen Platz im Ratssaal des Neuen Rathauses Chemnitz finden und dort indirekt mit dem Monumentalbild „Arbeit = Wohlstand = Schönheit“ von Max Klinger im Stadtverordnetensaal korrespondieren. An sich eine hübsche Idee, ich fürchte nur, dass das Gemälde dort oftmals sehr einsam sein wird.
Verdient hat es das nicht. Eine moderne Justizia, keineswegs blind, beherrscht das Bild, umgeben von Beratern, vielleicht auch Fragestellern, alle in heutigen, leuchtfarbenen Gewändern. Die typischen „Rauch-Gesichter“ sind hier relativ klar gearbeitet, das Bild hat eine beeindruckende Räumlichkeit. Sehr sehr schön, möge es die Räte zur Weisheit geleiten.
Um das Gemälde herum sind ein Dutzend andere Werke drapiert, die einen Querschnitt aus den letzten zehn Jahren des Neo Rauch zeigen. Oftmals sind die üblichen „Zutaten“ wie die schemenhafte, rötliche Figur, die sich einer Einordnung entzieht („Reich“) oder die bereits erwähnten verwaschenen Gesichter („Türme“) zu sehen. Manche Bilder scheinen zu zerfließen („Krönung“), andere sind überraschend klar strukturiert, zumindest auf den ersten Blick („Hohe Zeit“). Neben eher leichteren Themen („Goldene Äpfel“ und „Gärtnerin“, welches auch „Szenen einer ganz bestimmten Ehe“ heißen könnte) geht es auch um Krankheit und Tod („Der böse Kranke“) oder um Lebensillusionen („Abstieg“). Singulär steht dabei „Cross“, eine (fast) menschenleere Landschaft mit Wegen, die sich nicht zu treffen scheinen, sehr untypisch für Rauch.
Weder will ich mir anmaßen noch könnte ich es leisten, die Bildinhalte detailliert zu analysieren. Da gibt es Berufenere. Mir fällt dann immer der olle Goethe ein, „suche die Menschen zu verwirren, sie zu befriedigen ist schwer“, aber das allein wird es nicht sein. Ich mag den Rauch, seine Bilder sind nie langweilig, auch wenn die Konstellationen oft ein wenig rätselhaft bleiben. Manchmal braucht es auch nur einfach eine Weile, eh man sich (s)eine Erklärung darauf machen kann.
Dass dies bei weitem nicht immer so sein muss, beweist die parallele Sonderausstellung von Mario Nigro, einem 1992 verstorbenen abstrakten Maler. Auch wenn die Motive (z.B. „Schach“, „Freiheit“ und „Agamemnon“) in Farbigkeit und Komposition beeindrucken, zumindest mir fehlt der Zugang zur Aussage.
Für die 6 Euro Eintritt kann man sich auch den Bestand der Kunstsammlungen Chemnitz anschauen. Im Erdgeschoss sollte man das unbedingt tun, die Skulpturen, unter anderem von Rodin, Klinger und Barlach, sind sehenswert. Die Abteilung „Romantik“ fand ich dagegen öde, außer dem „Segelschiff“ von CDF sprach mich kaum etwas an, auch fand ich den Raum übertrieben verdunkelt.
Hinter der Sonderschau Rauch / Loy findet man die Expressionisten, deren Basis naturgemäß Karl Schmidt-Rottluff bildet. Aber auch Slevogt, Kokoschka und Korinth sind zu sehen. Es lohnt sich.
Fassen wir mal zusammen: Chemnitz ist derzeit eine Reise wert. Und um die Ecke gibt es auch noch den Nischel, wenn man es monumentaler mag.
Der Himmel ist unteilbar
„Der geteilte Himmel“ nach Christa Wolf in der Regie von Tilman Köhler, für die Bühne bearbeitet von ihm und Felicitas Zürcher, gesehen am 19. Januar 2013 im Staatsschauspiel Dresden (94. Premiere n.u.S.)
Ich nehme es vorweg: Schon lang nicht mehr hat mich ein Stück derart angerührt und begeistert.
Die Geschichte nachzuerzählen, ist in diesem Landstrich wohl eher albern. Ich beschränke mich auf einige Schlaglichter.
Zuerst die Bühne (Karoly Risz): Mal hängt der Himmel ganz tief, mal lässt er etwas Luft zum Atmen. Dann wird der feste Boden unter den Füßen plötzlich schräg und schräger, die Protagonisten haben Mühe, sich zu halten. Ein sparsamer Videoeinsatz (Michael Gööck) ergänzt dies kongenial.
Die Musik (Jörg-Martin Wagner): Eine einzige Geige auf der Bühne, gespielt von Maria Stosiek, ersetzte ein ganzes Orchester. Großartig.
Klug ausgewählte Kostüme (Susanne Uhl) setzen ihre eigenen Höhepunkte.
Schon der Prolog ist ein kluger Schachzug: Mit Texten u.a. aus „Stadt der Engel“ wird das Thema in die Zeiten eingeordnet. Dies bleibt aber die einzige Aktualisierung, ansonsten erleben wir die Handlung im Wechselspiel zwischen Ritas Krankenhausaufenthalt und dem eigentlichen Geschehen.
Die dramaturgische Idee, Rita in drei Personen aufzuteilen, eine vor und eine nach „dem Anschlag auf sich selbst“ und eine, die sich viel später daran erinnert, ist der Grundstock der Inszenierung. Und was für einer! Man kann Felicitas Zürcher dazu nur beglückwünschen.
Aber die Abgrenzung ist kein Dogma, die Ritas werfen sich die Bälle zu, wenn es um das Erzählen der Geschichte geht.
Überhaupt: Eine elegante, zum Teil indirekte Behandlung des Stoffes durch die Schauspieler bringt den Roman zum Klingen auf der Bühne.
Albrecht Goette, Ahmad Mesgarha und Philipp Lux brillieren in verschiedenen Rollen, sind mal Arbeiter, mal Chemiker, mal Familie. Hannelore Koch merkt man die Identifikation mit der älteren Rita deutlich an, und auch als Frau Herrfurth ist sie überzeugend.
Annika Schilling spielt die kranke Rita, den Punkt, von dem aus sich die Geschichte letztlich aufbaut. In ihrer letzten größeren Arbeit in Dresden (Gott sei es geklagt) setzt sie wiederum ein Glanzlicht. Wir werden sie vermissen.
Ich gebe zu, ich bin ein Fan von Matthias Reichwald. Dessen unprätentiöse, aber unglaublich energiegeladene Spielweise hab ich noch in jeder Rolle bewundert. Auch diesmal war er ein Ereignis.
Und, die größte Ehre zuletzt, Lea Ruckpaul. Ich gebe zu, ich war skeptisch, als ich sie auf den Plakaten sah. So jung und so eine Rolle …? Aber ich tue Buße: Diese Bühnenpräsenz, diese Klarheit im Ausdruck, diese Verletzlichkeit und Stärke … Die Nachricht, die sich auf den hinteren Programmheftseiten versteckte, ist nur folgerichtig: Ab der nächsten Saison gehört sie fest zum Ensemble.
Tilman Köhler als Regisseur gelingt es, dies alles zu einem Gesamtkunstwerk zusammenzufügen. Er ist – für mich – wieder auf dem Niveau der „Hl. Johanna“, auch wenn die Arbeiten dazwischen auch nicht schlecht waren.
Der Inhalt des Stückes bzw. des Romans? Ist doch schon tausendmal diskutiert und besprochen worden, ich wüsste nicht, was ich da hinzufügen könnte. Letztlich muss jeder selber sehen, wie er sich zu der Grundfrage des Textes stellt. In dieser Form tritt jene heute ohnehin nicht mehr auf. Oder gibt es noch eine Ideologie, für die es sich lohnt, eine Liebe scheitern zu lassen?
Bedaure, ich habe nichts zu bekritteln. Ein ganz großer Wurf.
Oben geblieben ist noch keiner
„Baumeister Solness“ von Henrik Ibsen in der Regie von Burghart Klaußner, gesehen am 17. Januar 2013 im Staatsschauspiel Dresden (93. Premiere n.u.S. [nach unserer Schulzrechnung])
Man muss schon viel guten Willen mitbringen, um die storyline des Stücks nicht als hanebüchen zu bezeichnen:
Da bootet ein talentloser Architekt seinen Chef aus, um ihn dann später anzustellen. Da brennt das Elternhaus der verehrten Gemahlin nieder und schafft Bauplätze, die wiederum dem Architekten zur Karriere verhelfen. Da ist besagte Gemahlin derart verzweifelt ob des Verlusts von Haus und Puppen, dass ihr die Muttermilch sauer wird und sie damit die neugeborenen Zwillinge vergiftet. Dies alles beschert beiden Elternteilen eine handfeste Psychose und eine andauernde Ehehölle.
Da wirft der Ex-Chef auch noch seinen Sohn dem Konkurrenten zum Fraße vor. Da erscheint das Fräulein Braut des Sohnes im Büro und verfällt augenblicklich dem Baumeister (man begreift nicht warum). Da bettelt der gebrochene und todkranke Ex-Chef den Baumeister um eine Karrierechance für seinen Sohn an, offenbar unter Verdrängung seiner eigenen Geschichte. Da erscheint schließlich Hilde, die im zarten Alter von zwölf Jahren vom Baumeister geküsst und der ein Königreich versprochen wurde, um nach Ablauf der Frist von zehn Jahren ebenjenes einzufordern.
Auch auf RTL II würde dies wohl eher im Nachmittagsprogramm laufen.
Ein grober Klotz also, an welchem feine Werkzeuge nicht angebracht sind. Diese kommen auch kaum zum Einsatz.
Der Vorhang hebt sich (nachdem uns mittels Projektion dankenswerterweise der Titel des Stücks nochmal in Erinnerung gerufen wurde) und gibt ein Büro frei, das sich nicht ganz zwischen Blockhütte und repräsentativem Raum, zwischen klassisch-antiquierter Ausstattung und modernen Beigaben wie einem Notebook entscheiden kann. Drei Anwesende in Aufregung, wie sagen wir es nur dem Chef?
Jener tritt auf und gibt das Büroungeheuer, scheucht und pöbelt. Noch omnipotent, klatscht er der Buchhalterin auf den Po, was ihr offenbar Glücksgefühle beschert. Den Alten lässt er wegtreten, keinen Bock auf Entwicklungshilfe für dessen Junior. Lars Jung als Knut Brovik ist dabei sehr melodramatisch, der gewohnt hohe Ton nervt hier ein bisschen. Christine-Marie Günther hat die undankbare Rolle eines dem Baumeister verfallenen Weibchens ohne eigenen Willen, die ihr wenig Raum bietet, aber sie schafft es zumindest, darin verdammt gut auszusehen.
Auftritt der Gattin, in jeder Bewegung, jedem Blick spürt man die psychische Deformation. Christine Hoppe ist endlich wieder da, manchmal spielt sie hier in einer eigenen Liga.
Dann Altherrengeprahle des Baumeisters gegenüber dem Hausarzt (Horst Mendroch a. G. eher unauffällig), er weiß, dass das Fräulein Kaja Wachs in seiner Hand ist und benutzt sie zum Machterhalt.
Ist Solness verrückt? Er hat Angst vor dem Neuen, vor Machtverlust, vor einer Änderung der Verhältnisse, davor, für sein gehabtes Glück bezahlen zu müssen. Das allein ist noch nicht verrückt.
Das Fräulein Hilde Wangel betritt eher knabenhaft die Szenerie. Ines Marie Westernströer hat offenbar für diese Rolle ihre schönen Haare gelassen und kommt mit Bubikopf daher. Das hätte es sicher nicht gebraucht, sie hätte auch so diese Figur glaubhaft bewältigt.
Hilde erinnert Solness an eine Begebenheit vor genau zehn Jahren, als er, im Rausch eines gelungenen Projekts, das kleine Mädchen herzhaft küsste und ihr ein Königreich nebst Schloss versprach. Nun sind die zehn Jahre um, der Baumeister soll liefern. Warum jener sich allein durch das Aus-dem-Fenster-kotzen von Hilde zum Eingeständnis bringen lässt, dass das alles so gewesen sei, bleibt offen.
Bevor der Sachverhalt ausdiskutiert werden kann, bittet die Dame des Hauses zu Tisch. Hilde darf bleiben, es sind genug Kinderzimmer frei.
Ein neuer Morgen. Solness erzählt dem Neuzugang von früher, mit einem Holzpferdchen in der Hand. Ach Gottchen. Viel Pathos, als er vom Bezahlen-müssen fürs Glück, von seinen Gewissensbissen berichtet. Ist er nun krank? Oder doch verrückt? Damals war das noch nicht dasselbe. Oder nur esoterisch?
Auftritt Ragnar Brovik, junges Talent ohne Selbstvertrauen. Auch er lässt sich abfertigen.
Hilde schwärmt vom robusten Gewissen, sie will ihren Baumeister so wie sie ihn sich erträumt hat und lenkt ihn entsprechend. Ich hab so was schon mal im Kino gesehen, ein Western mit Henry Fonda und Terence Hill, da nahm das aber ein gutes Ende.
Zunächst beißt sie aber das Fräulein aus der Buchhaltung weg. Solness will es jetzt nochmal wissen für seine Prinzessin, the Baumeister is back.
Nach der Pause ein neues Bühnenbild, der Garten mit dem Baugerüst im Hintergrund. Die beste, anrührendste Szene findet zwischen der Gattin Aline und Hilde statt, eine zarte Annäherung der Schein-Konkurrentinnen. Wie viel Lebenslust die eine und wie wenig Freude die andere hat! Pflicht! Pflicht! Strafe! Die verlorenen Puppen trägt sie immer noch als ungeborene Kinder mit sich rum. Der Hausarzt empfiehlt, sich nicht zu erkälten.
Solness erscheint als Zimmerer verkleidet, ihn ereilt die plötzliche Erkenntnis, dass Hilde nunmehr sein Lebensinhalt sei. Jener widerfährt ein großartiger Ausbruch, das robuste Gewissen hat grad mal Pause. Dann motiviert sie ihn zum Luftschlösser-Bauen, mit zwingenden Argumenten. Solness guckt etwas überfordert. Gibt es eine HOAI für Luftschlösser?
Ragnar bringt den Richtkranz und ist jetzt im Bilde. Auf einmal agiert er ganz anders, Rebellion statt Unterwürfigkeit. Hier endlich kann Matthias Luckey aufdrehen und findet zu gewohnter Stärke.
Solness baut schon lange keine Kirchen mehr, aber nun steigt er ins Luftschlösser-Geschäft ein. Hilde ist seine Inspiration, gemeinsam werde sie die kühnsten Bauwerke errichten, alle aus Luft.
Um diese Wendung zu manifestieren, steigt der Baumeister mit dem Richtkranz aufs Gerüst, er, der seine Höhenangst bisher nur ein einziges Mal besiegen konnte. Das Unmögliche geschieht, er kommt oben an und hängt den Kranz auf.
Dann der Fall. Ein dumpfer Knall, sein Hut segelt hinterher. Großartige Szene.
Hilde schreit glücklich-entrückt „Mein Baumeister!“. Wahre Helden müssen tot sein.
Zum Titelhelden: Holger Hübner ist ein versierter und beliebter Schauspieler am Haus, bisher eher bekannt aus mittleren Rollen mit einem Anteil Selbstironie. Er ist dem Baumeister sicher gewachsen, allerdings vermisste ich gelegentlich die leisen Töne. Auch die Rücksichtslosigkeit, das Menschenverschleißende des Solness kam nicht richtig rüber. Vielleicht lag es an der Regie. Ich hab mich allerdings ein paar Mal gefragt, wie Burkhart Klaußner die Rolle selbst gespielt hätte.
Das am Anfang über den Stückinhalt Gesagte mal beiseite gelassen, ist dies eine schlichte Parabel über das Abtreten-müssen und –nicht-können der Platzhirsche. Nicht nur im Tierreich findet sich dies, auch in Politik, Wirtschaft, Sport oder vielleicht sogar auch am Theater. Irgendwann kommt einer, der stärker ist als Du. Man kann das vielleicht hinauszögern, aber dafür müssen die lebensabschnittsbegleitenden Frauen immer jünger werden (meine Alters- und Geschlechtsgenossen wissen was ich meine) und irgendwann hilft auch das nicht mehr. Solness will es nicht wahrhaben und fällt vom Turm, hat aber seine Legende gerettet.
Manchem, der heute noch agiert, würde man einen solchen Turmfall wünschen.
Die Inszenierung ist gut, mit einigen Abstrichen. Ich hatte mir ein wenig mehr versprochen angesichts des prominenten Regisseurs, aber ich bin auch nicht enttäuscht. Ein Abend, um sich nachher Gedanken zu machen.
