Kategorie: Menschen

Egon Krenz hat die Wende erfunden

„1989: Jedem seine Geschichte“ ein MDR Figaro – Café in Kooperation mit der ZEIT und dem Staatsschauspiel Dresden am 28. September 2014

Wo ist man, wenn sich die Diskutanten Datumsangaben wie Stichworte zuwerfen und alle einschließlich des zuhörenden Saals auf Anhieb wissen, worum es geht? Richtig, in einer Debatte über das prägende Ereignis vor fünfundzwanzig Jahren, dessen heute gängige Bezeichnung „Wende“ auf Egon Krenz zurückgeht, wie der Schriftsteller Ingo Schulze (damals Dramaturg am Theater Altenburg) gleich zu Beginn anmerkte.
[Ich erinnere mich, dass Christa Wolf schon am 4. November (einem der oben erwähnten markanten Tage) dieses Wort öffentlich auseinandernahm und eine hübsche, aus der Seefahrt stammende Interpretation fand, sinngemäß: Der Kapitän befiehlt „Klar zur Wende“ und die Mannschaft duckt sich, weil gleich der Mastausleger über das Deck fegt. Auch die Anfügung „-Hals“ wurde von ihr in diesem Kontext erwähnt, was dem Siegeszug des praktisch-kurzen Begriffes „Wende“ keinen Abbruch tat. Und nun werden wir den nicht mehr los.]

Die anderen markanten Daten sind übrigens der 9. Oktober (ein bzw. DER Montag) und der 9. November, in welchem sich seitdem ein Großteil der Ambivalenz deutscher Geschichte abbildet. [Ich füge das nur an, weil unter den Lesern eventuell auch Menschen unter 25 Lebensjahren und/oder westdeutschen oder gar ausländischen Geblüts sein könnten. Man weiß ja nie. Bei allen anderen darf man diese Kenntnis wohl voraussetzen.]

Die anderen Diskussionsteilnehmerinnen waren Heide Schwochow, heute Drehbuchautorin, damals in der Kinderhörspielabteilung des DDR-Rundfunks – die berühmte Nalepastraße – und (auch formal) ausreisewillig sowie Evelyn Finger, die das Jahr 89 als Abiturientin in Halle erlebte, an der Saale, klar, und dennoch heute das elegant benamste Ressort „Glauben und Zweifeln“ der ZEIT leitet.
[Ein Ressort „Wissen“ gibt es übrigens auch, was allerdings etwa achtmal so viel Platz in der Wochenzeitung hat, es wird eben doch lieber gewusst als geglaubt oder gar gezweifelt.]

Moderiert wurde das sonntagnachmittägliche Radio-Café vom wie eh und je umschwärmten Thomas Bille.
[Den Begriff „Kanzelschwalben“ nutzte ich leider bereits in meinem letzten Bericht über ein ähnliches Ereignis und muss hier bedauerlicherweise auf ihn verzichten.]

Bei schönstem Spätsommerwetter war der Saal des Kleines Hauses immerhin halbvoll oder erschreckend halbleer, ganz wie man will. Auch dies ein Beleg dafür, dass alles relativ ist im Leben, auch der Blick auf den Herbst 89, der doch sehr von der eigenen Position abhängt, damals wie heute.
Die Abwesenden haben eine Diskussion verpasst, die – ohne nun gänzlich neue Erkenntnisse zu erzeugen – sich auf durchgängig sehr hohem Niveau mit der Geschichte der friedlichen Revolution und mehr noch mit dem heutigen Umgang mit dieser befasste. Ganz ohne Anekdoten kommt eine solche Debatte natürlich nicht aus, aber jene waren klug gewählt, ob es nun um die ungewöhnlich freundlichen DDR-Grenzer in Schmilka bei der Rückkehr aus dem Ungarn-Urlaub im September 89, um die Gelenkigkeit in der Halsgegend des Stabü-Lehrers [„Staatsbürgerkunde“, liebe oben erwähnte Randgruppe, eine Mischung aus Koranschule, Priesterseminar und Blinde-Kuh-Spiel, nur mit sozialistischem Inhalt] oder ganz im Gegenteil um die geistige Ungelenkigkeit einer überforderten Hannoveraner Lehrerin, die zu dieser Zeit auf ein eben ausgereistes Ost-Kind [nicht mit „ausgerissen“ zu verwechseln, das hatte alles seine Ordnung] mit erfahrungsbedingt hoher Politisierung traf, ging.
Jene Heide Schwochow, von der diese Geschichte stammte, begründete zuvor auch sehr einleuchtend, warum man als Familie – trotz der Möglichkeiten über Ungarn – lieber den eigenen Ausreiseantrag genehmigt bekommen wollte.
[„Besser durch den Vorderausgang schreiten als aus dem Klofenster klettern“ hat sie zwar nicht gesagt, aber so in etwa hab ich sie verstanden.]

Dass jene Bewilligung nun ausgerechnet am Vormittag des 9. November eintraf, führte an diesem Tage dann sicher gleich zweimal zu größeren Gefühlsausbrüchen, auch dies eine schöne Anekdote, welche noch besser wird, wenn man erfährt, dass Familie Schwochow (Mutter und Vater Rainer als Drehbuchautoren und Sohn Christian als Regisseur, ja, der vom „Turm“) kürzlich sozusagen als Ringschluss ein Fernsehspiel namens „Bornholmer Straße“ fertigte, das jene abendlichen Ereignisse am 9.11. vor 25 Jahren schildert und am 5. November in der ARD zu sehen sein wird, welche nun auch schon seit fast so lange nicht mehr mit „Außer Raum Dresden“ ausgesprochen werden kann.
Angesichts der im Rückblick absurden Situation am Grenzkontrollpunkt, wo die Entscheidung eines Einzigen, Oberstleutnant der Grenztruppen der DDR, angesichts einer diffusen Nachrichtenlage und mangelnder Order von oben den Schlagbaum anstelle der MPi zu heben, über den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmte, wird man dies als Komödie auf den Bildschirm bringen.

Es gab im Verlaufe des Gesprächs einige Merksätze zu notieren, wen wundert’s bei drei Größen der schreibenden Zunft. Ingo Schulze formulierte schön die untrennbare Bindung des eigenen Glücks an das Glück von allen in den besagten Monaten bis zum 18. März 1990, auch dies so ein Datum. Evelyn Finger nannte in der Rückschau die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der DDR an sich selbst und deren erlebte Wirklichkeit als das prägende Merkmal dieses Staates und Heide Schwochow verwies auf die Ambivalenz der (allermeisten) Menschen, für die ein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema nicht passen würde. Auch der Alltag in der DDR war nicht nur systemgeprägt, es wurde auch ohne Zutun der Partei geliebt und gelacht, geheult natürlich auch.

Thomas Bille fragte dann nach dem „Wenderoman“ und ob es so einen überhaupt gäbe bisher oder künftig geben könnte. Und obwohl da einige in Frage kämen, jeder ein bisschen, wurde dieser große Wurf so definiert, dass er aus dem Westen kommen müsse, ohne die dort sehr verbreitete „Westalgie“ natürlich, oder bereits in den Achtzigern im Osten geschrieben worden wäre, auch hier mit mehreren Kandidaten. An beidem ist sicher einiges dran, auch wenn der Begriff eher als Marketinginstrument auf die Buchmessen gehört. Wenn es jemandem gelänge, alle Aspekte dieses Weltenwandels in einem Roman abzubilden, hätten wir sicher einen zweiten Faust, aber ob der mit zwei Teilen auskäme, wage ich zu bezweifeln.

Interessant auch die einhellige Feststellung, dass sich die Debatte um die Umstände und Folgen des neunundachtziger Herbstes außerhalb der offiziellen Anlässe fast ausschließlich zwischen Ostdeutschen abspielen würde, erst in letzter Zeit sei z.B. in der gleichnamigen Wochenschrift eine Tendenz zu beobachten, dass man sich auch ohne biographischen Hintergrund mit diesem Jahrhundertereignis beschäftige. Erklärbar ist das sicher, schließlich unterschieden sich die Veränderungen in Ebersbach (Fils) zu Beginn der neunziger Jahre doch erheblich von jenen in Ebersbach (Sachs), und seitdem ist in beiden Partnerstädten nicht so sehr viel in dieser Beziehung passiert.
[Gut, das sächsische Ebersbach, das eigentlich in der Oberlausitz liegt, um das mal klarzustellen, hat sich inzwischen mit dem Nachbarflecken Neugersdorf per Bindestrich vereinigt, halb gezogen, halb gesunken, und strebt nun vielleicht den Titel „Ort mit dem längsten Namen“ an, der sicher die Reisebusse anlockt, aber sonst war wirklich nicht viel.]

Auch nicht neu (aber was überrascht nach 25 Jahren noch?), doch immer wieder neu beklagenswert ist der Fakt, dass mit dem Zusammenbruch des „linken Erlösungsversprechens“ namens real existierender Sozialismus der Gesellschaftsordnung hinter der Mauer ein potentielles Gegenmodell abhanden kam, das allein durch seine schlichte Existenz schon eine gewisse Wirkung hatte.
Wer will denn heute noch ernsthaft für ein anderes politisches System werben, jenseits von Marktkonformitäten, wenn einem postwendend das relativ frisch vergurkte Experiment im östlichen Europa um die Ohren gehauen werden kann? Ingo Schulze vor allem sind diese Betrachtungen zu danken, auch der Schwenk zum Einkaufsverhalten, mit dem man sich heute zumindest moralisch schuldig machen könne oder aber eben auch nicht.

Für das Thema Gerechtigkeitsdefizit, das immer noch zwischen den damaligen Widerständlern und den Mitläufern herrsche, weil jene meist bessere Startbedingungen in das neue System hatten, durch das Rückwirkungsverbot viele in Staatsnamen begangene Vergehen ungesühnt blieben und sich z.B. für die Opferrente außer den Betroffenen sich kaum jemand interessiere, blieb am Ende der anderthalb Stunden genauso wenig Zeit wie für eine Diskussion des beliebten Begriffs „Unrechtsstaat“. Allein diese hätte mit all ihren Facetten sicher noch einmal neunzig Minuten gebraucht, und ob es ein klares Ergebnis gegeben hätte, sei dahingestellt, eher wohl ein Unentschieden.

Mit diesem Radio-Café hat Figaro nicht nur einen anspruchsvoll-unterhaltsamen Nachmittag gestaltet, sondern auch den Auftakt zu „Eine Woche im Oktober – 25 Jahre friedliche Revolution“ des Staatsschauspiels Dresden gegeben. Ab dem 3.10. wird eine Themenwoche mit Theater, Performances, Lesungen, Konzerten und Diskussionen sowie gar einem eigenen abendlichen Radiokanal mit dem Jubiläum auseinandersetzen, hier gibt es Näheres dazu:
http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/spielplan/rahmenprogramm_eine_woche_im_oktober/beschreibung/

Es wird zu berichten sein.
Aber den Schlusspunkt dieses Textes darf Ingo Schulze setzen, der wie er erzählte seine Profession anlässlich einer chinesisch-amtlichen Nachfrage bei der dortigen Einreise so beschrieb: Er „schreibe – wie alle Schriftsteller – über Liebe und Tod vor wechselnden Hintergründen, und in seinem Falle nicht in Versform.“ Damit wäre zumindest das geklärt.

Thälmannstraße 89/4: Der Stoff, aus dem die Seife ist

Montag, 22.09., Helden zeugen

Das Ganze muss heroischer werden, findet Redakteur Helmstedt, ein sich sträubender Autor lässt seinen Jens schließlich in der FDJ-Versammlung Partei für die von Studienplatzverlust bedrohte Johanna ergreifen, was ihn um den Fackelzug in Berlin bringt. Direktor Rothe ist not amused über das Ausscheren seines bisherigen „Hundertzwanzigprozentigen“, das wird sicher auch dem Herrn Vater nicht lang verborgen bleiben.

Die Rahmenhandlung bietet aber weiterhin mehr, diesmal einen Anruf der Programmchefin und eine neue Direktive: „mehr Doku-Drama, keine Schmonzette“. Da auch schon eine Alternative bereitsteht, fünfzehn Interviews mit den üblichen Verdächtigen, lässt sich Helmstedt zu einem beachtlichen Klageruf mit Aufzählung der vermuteten Protagonisten hinreißen. (Wenn das mal nicht Arnold Vaatz erzürnt, liebes Figaro, zum einen allgemein ob der insubordinanten Klage, zum anderen, weil sein Name in den Top 15 der Wende nicht vorkommt.)

Im Figaro-eigenen Netz entspinnt sich inzwischen anhand der letzten Wochenzusammenfassung der Teichelmauke eine Debatte über den Realismus der Serie und die dafür gewählte Form. Eine Diskussion, die den zu unterstreichenden Satz „Nun sind wir bei FIGARO – Gott sei Dank – nicht die Siegelbewahrer der historischen Wahrheit“ enthält, sicher noch ausbaufähig und hier nachzulesen ist:
http://meinfigaro.de/inhalte/b549525a2ef2fe09

Was allerdings verblüfft beim Sichten der Figaro-Seite, ist die Möglichkeit, die kommenden beiden Beiträge schon vorzuhören.
Gut, das mindert mir einige Terminzwänge, entspricht aber so gar nicht den klassischen Gepflogenheiten. Aber der Inhalt der Folgen ist ja jetzt schon bis zum Ende nachlesbar (mit sehr schönen Bildern der Aufzeichnung übrigens), auch eine Art von „Glasnost“.

Mittwoch, 24.09., Bisschen Heftig

Diesmal wird starker Tobak geboten: Im Wendeherbst erlebt Markus auf eine Schwangere einprügelnde Polizisten und ist davon so schockiert, dass er sich auch von Johanna nicht von seinem Vorhaben abbringen lässt, umgehend das Land zu verlassen. In ihrer Verzweiflung ruft jene die unlängst erhaltene Nummer an …

Auch drumherum ist es nicht spaßig. Redakteur Helmstedt will ob der erlittenen Einnordung durch die Sendeleitung seine Sachen packen, er hätte doch andere Ideale von Pressefreiheit gehabt, als er 90 hier rüber kam. Erstaunlich, dass ihm das in 25 Jahren erstmals passiert sein soll. Autor Bentwisch spendet erfolgreich Trost und Helmstedt waltet wieder seines Amtes, sprich er verlangt eine Entschärfung der Prügelszene, das sei ja wohl nichts für das Frühprogramm.

Hm. Diesmal hat man Mühe, den Handlungen zu folgen, es geht doch etwas fix, das Formatproblem zeigt sich wieder.

Freitag, 26.09., Große Gefühle

Johanna wird vom Autor rehabilitiert, nein, sie hat nicht verpfiffen, sondern im letzten Moment aufgelegt. Des Redakteurs Weltbild ist vorerst gerettet. Überhaupt ist der erstaunlich emotional bei der Sache, ist doch gar nicht seine?

Derweil sitzt Johanna im Wendeherbst bei Markus Mutter in der Küche, der Verlust verbindet. Prompt klingelt das Telefon, der Getürmte meldet sich aus der Prager Botschaft, was Mutter und Freundin durchaus unterschiedlich aufnehmen. Letztere gibt ihm fernmündlich den Laufpass, eilt hernach reichlich erschüttert in den Hausflur und fällt dem verdutzten Jens in die Arme. Der darf den Tröster geben, es schmatzt vernehmlich, doch vor dem zwischenzeitlichen Happy-End wird diskret abjeblendt.

Redakteur und Autor sind gerührt von der Geschichte, es ist eine tränenreiche Folge. Und der folgende Musiktitel ist wieder fein ausgewählt, „bridge over troubled water“, natürlich gesungen von Johnny Cash und Fiona Apple, jetzt bin auch ich angefasst.

Fast das halbe Sachsen

Immerhin: Fast jeder zweite Mensch in Sachsen, der dazu berechtigt war, unterzog sich der Mühe, an einem August-Sonntag, dem letzten der Sommerferien, sich in eines der etwa 4.000 Wahllokale zu begeben und an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Beziehungsweise tat er das schon früher per Briefwahl, eine Form, die immer beliebter zu werden scheint (in Dresden tat dies ein knappes Sechstel aller Wahlberechtigten).
Wenn man noch die ungültigen (Listen-) Stimmen herausrechnet, wurde der neue sächsische Landtag von gerade mal 48 Prozent der Bevölkerung gewählt.

Am Ende entschieden dabei wenige hundert Stimmen über das Unterschreiten der Fünf-Prozent-Hürde durch die NPD und auch über deren (finanzielles) Schicksal. Den Ärger über die zeitweilige Rettung der Strukturen der Neo-Nazis hat sich der Freistaat knapp erspart, und auch deren Kosten.

Die CDU möge das nicht feiern: Ihr ist es zu verdanken, dass der Wahltermin an das Ende der Ferien fiel. Still und geräuschlos sollten Wahl und Wahlkampf ablaufen, dafür nahm man auch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung in Kauf, die tendenziell eher den kleinen Parteien nutzt.
Während ihr Lieblingskoalitionspartner jedoch auch diese Hilfestellung nicht nutzen konnte und die AfD sich letztlich in ganz anderen Regionen bewegte, hätten die Christdemokraten sich nun fast den Titel „Steigbügelhalter der NPD“ verdient, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen.

Die FDP, deren Vorsitzender Zastrow sich am Wahlabend ratlos zeigte, was man noch mehr hätte unternehmen können, scheiterte letztlich deutlich, auch wenn man sich noch so deutlich vom Bund und „von Berlin“ abgrenzte, die Marketing-Maschine in den letzten Wochen auf Hochtouren lief und das FDP-geführte Wirtschafts- und Verkehrsministerium zuletzt die Förderbescheide öffentlichkeitswirksam im gefühlten Stundentakt ausreichte und noch jeden neu gebauten Papierkorb feierlich einweihte. Da wurde ein totes Pferd geritten, um in der Sprache der Werber zu bleiben.
Man darf gespannt sein, ob in den nächsten fünf Jahren ein Wiederaufbau gelingt und vor allem in welche Richtung er geht. Auch die kommunalpolitische Basis ist deutlich schmaler geworden, und die AfD steht sicher bereit, die Insolvenzmasse zu übernehmen.

Erfahrung mit Insolvenzen hat sie in Sachsen ja, auch wenn diese Anmerkung nicht ganz fair ist. Wer zehn Prozent holt, der muss schon ernst genommen werden, selbst wenn er inhaltlich kaum greifbar ist und eher vom diffusen Unbehagen des Wahlvolks lebt. Der zweite Einzug in ein Parlament nach dem der EU ist sehr ärgerlich, war aber zu befürchten, und er wird sicher auch nicht der letzte bleiben. Dennoch, in welche Dschungel man als Rechtspopulist geraten kann, lässt sich aktuell an Ronald Schill betrachten, die AfD wäre nicht die erste Shooting-Star-Partei, die sich im politischen Alltag schnell entzaubert.
Die Tatsache, dass die Sitze rechts der CDU seit heute verdoppelt haben, ist jedoch eindeutig die schlechteste Nachricht des Abends.

Überhaupt, die CDU: Die hat vor allem die Weisheit berücksichtigt, dass man, wenn man nichts mache, dann auch nichts Falsches täte, und ist mit dem Landesvati-Image von Herrn Tillich gut gefahren. Dennoch schmolzen auch deren Wählerstimmen, vor allem in absoluten Zahlen, langfristig weist der Trend stetig nach unten. Da wird man sich etwas einfallen lassen müssen in fünf Jahren, das über die Ball-Halten-Taktik hinausgeht.

Aber erstmal kann man sich den neuen Koalitionspartner aussuchen. Es dürfte in der CDU einige geben, die nicht die Natter Dulig am Regierungsbusen nähren wollen, der seiner SPD einen Zuwachs von über zwei Prozent bescherte, was in Sachsen immerhin ein Viertel des bisherigen Ergebnisses bedeutet. Man kommt dort aus einem tiefen Keller, aber es ist zu erwarten, dass ein Minister Dulig in fünf Jahren nochmal deutlich zulegen könnte.
Die Grünen hingegen sind in dieser Beziehung weniger gefährlich, aber inhaltlich deutlich sperriger. Nach einem Wahlergebnis, das man auch beim besten Willen nicht als Erfolg bezeichnen kann, vom Wiedereinzug ins Parlament vielleicht abgesehen, der auch nicht ganz sicher war, werden sie vsich wohl kaum der Zerreißprobe aussetzen wollen, die eine Koalition mit der in Sachsen besonders konservativen CDU bedeuten würde.
Aber nun wird erstmal verhandelt.

„Außen vor“, wie der Wessi sagt, bleibt dabei die Linke. Trotz eines stabilen Ergebnisses von knapp 20 Prozent fehlt ihr anders als in Thüringen dank der Schwäche der potentiellen Partner eine Machtoption. So stellte man sich schon kurz nach der Wahl weiter als DIE Opposition in Sachsen dar und richtet sich auch für die nächsten fünf Jahre in dieser Rolle ein, die zumindest keine unpopulären Entscheidungen erfordert.
Die Piraten bewegen sich inzwischen auf dem Niveau der Tierschutzpartei, ihre großen Zeiten sind wohl endgültig vorbei. Freie Wähler können in Sachsen weiterhin nicht landen, und auch alle anderen Parteien spielen keine Rolle.

Wenn man – natürlich rein theoretisch – die AfD als eine Kreuzung aus FDP und NPD begreift, hat sich in Sachsen so gut wie nichts geändert an diesem Abend. Nur der Juniorpartner der CDU wird ein neuer werden.

„Und wer entschuldigt sich dafür?“

„Ein Exempel, Mutmaßungen über die sächsische Demokratie“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, Regie: Jan Gehler, gesehen am 27. Juni 2014 im Staatsschauspiel Dresden

Die Frage nach der Verantwortlichkeit, die der Hauptakteur A. am Ende, nachdem er seinen Prozess dann doch irgendwie erfolgreich überstanden hat, den Mitspielern stellt, vermag niemand zu beantworten. Freundin und Kind weg, Job verloren, seelisch zerrüttet, aber …. So richtig daran schuld ist keiner. Alle haben nur ihre Pflicht getan, im Durchschnitt, die einen mehr, die anderen weniger.

Lutz Hübner und Sarah Nemitz rekonstruieren anhand eines fiktiven Falls die Geschehnisse des Februar 2011 in Dresden, als anlässlich des alljährlichen Naziaufmarsches die Gewalt auf allen Seiten eskalierte, und deren rechtliche Aufarbeitung.

Hübner und Nemitz gebührt in vielerlei Hinsicht Dank. Nicht nur, dass sie ein sehr aktuelles politisches Thema aufgreifen, es gelingt ihnen auch, die Komplexität des Stoffes zu reduzieren und dennoch nicht zu sehr zu vereinfachen, von wenigen verzichtbaren Klamauk-Elementen abgesehen. Man sieht keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern eine sehr genaue Beschreibung einer Situation, in die (fast) jeder geraten kann. Das Stück liefert keine vorgefertigten Antworten, aber es stellt die richtigen Fragen.

Der komplette Text auf Kultura-Extra:
http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/urauffuehrung_einexempel_staatsschauspieldresden.php

Da hat er alle Zeit der Welt

Jetzt hat es also begonnen, ES, worauf die Welt seit vier Jahren gewartet hat, wenn man dem medialen Getöse der letzten Wochen glauben darf: Die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014TM. Das „TM“ steht dabei weder für Transfermarkt noch für Transzendentale Meditation, sondern für eine unregistrierte Handelsmarke, der Vorstufe zu einem eingetragenen Warenzeichen. Diese hat zwar (zumindest in Deutschland) noch keine rechtlichen Konsequenzen – das heißt, ich könnte meinen Blog jetzt auch so nennen, ohne mit Herrn Blatter in Konflikt zu geraten – weist aber darauf hin, dass es dabei doch um etwas mehr geht als nur um Fußball.

Nein, das hier wird keine Abhandlung zu den sozialen und wirtschaftlichen Kollateralschäden dieser WM in Brasilien, keine Kampfschrift wider eines der letzten totalitären Systeme dieser Welt namens FIFA, auch keine Enthüllung zu den dubiosen Umständen der Vergabe der Austragung an Katar nebst den unmenschlichen Zuständen auf den Baustellen dort. Das alles ist schon gut recherchiert irgendwo nachzulesen, und doch wird es in den nächsten vier Wochen nur wenige interessieren. König Fußball ist an der Macht, und der teilt diese nicht mit anderen. Absolute Monarchie nennt man das wohl.

Wobei das so ja auch nicht stimmt. Einige Damen und Herren im politischen Betrieb behalten sicher kühlen Kopf und die Fäden in der Hand. Und so darf man gespannt sein, welche heiklen Vorlagen auf den Tagesordnungen diverser Parlamente in den nächsten Wochen erscheinen und welche Verordnungen im großen Schatten des Fußballs in Kraft gesetzt werden.
Immerhin, bei einem hat sich das Volk, der wahre Herrscher, schon im Vorfeld durchgesetzt: Public Viewing zählt jetzt als Sportveranstaltung, was dessen Durchführung auch nach Mitternacht erlaubt, unter deutlich gelockerten Bedingungen für den nächtlichen Lärmschutz. Man muss das nicht verdammen und sich als Spaßbremse betätigen; wenn das öffentliche Interesse daran derart groß ist, wie es scheint, ist eine Regierung klug beraten, hier eine (befristete) Sonderregelung zu schaffen. Jeder Widerstand wäre ohnehin von einer medialen Sturmfront unter Führung der BILD hinweggeblasen worden.

Überhaupt scheint die BILD einer der ersten Gewinner dieser Weltmeisterschaft zu sein. Ihre Sonderausgabe zur WM, die in einer Auflage von 42 Millionen kostenlos und unaufgefordert unter das Volk gebracht wurde, steckte auch in meinem Briefkasten. Das wird sich unter dem Strich sicher gelohnt haben, auch wenn ich leider nicht erzählen kann, was drinstand. Mein Bio-Eimer bedurfte dringend der Leerung, und das ganze große Blatt ging leider für die Entsorgung des Inhalts, der gründlichen Reinigung des Gefäßes und einer vorsorglichen Auspolsterung desselben drauf. Da ich wunschgemäß sonst nie Werbung bekomme, war ich für diese Steilvorlage zur Erhöhung der häuslichen Ordnung und Sauberkeit durchaus dankbar.

Doch es gibt noch weitere potentielle Gewinner, die gar nicht mitspielen. Mein Konsum („Konnsumm“ gesprochen, liebe West-Leser, nicht „Konsuhm“) surft auch auf dieser Welle und will mir Fähnchen und einen Autospiegel-Überzieher in den Nationalfarben verkaufen, auch Gummi-Bälle sind zu haben. Am Tschibo-Regal gibt es zudem Shorts und (ungelogen!) „Zehen-Teiler“ (vulgo als Flip-Flops bekannt) in dieser leider nicht sehr kleidsamen Farbkombination.
Nun unterläuft zwar auch mir gelegentlich ein Spontankauf, doch in diesem Falle wog ich den Nutzen der Erwerbung vorher ab: Es würde die deutsche Sache wohl kaum voranbringen, wenn ich mir fortan ein Fähnlein irgendwohin binden würde, und um die Nationalflagge unter den Füßen zu haben und mit jedem Schritt buchstäblich draufzutreten, hab ich zu viel Respekt vor staatlichen Symbolen.

Ohnehin glaube ich – und da müssen wir alle jetzt sehr tapfer sein – dass das ganze Fahnenschwenken und die tollen Sprechchöre vor der deutschen Großleinwand im fernen Brasilien gar nicht zu sehen resp. zu hören sind. Schweini und wie die alle heißen werden das gar nicht mitbekommen, wenn sich das deutsche Fanvolk am Brandenburger Tor, auf den Elbwiesen und anderswo zur La Ola erhebt. Doch sie werden sicher professionell genug sein, auch ohne diese Anfeuerung engagiert ihrem Beruf nachzugehen.
Aber immerhin das Fernsehen wird dankbar sein für diese Bilder, aus der Heimat für die Heimat, und da es ja meist an Anhängern der gegnerischen Mannschaft mangeln wird, spielt sich die Euphorie in größter Eintracht ab, fast wie bei einem Gottesdienst.

Was aber tun, wenn man nicht diesem Glauben angehört?
Eine seit Jahrzehnten bei Fußballreportern beliebte Wendung, wenn einer mutterseelenallein vor dem Tore steht, ist: „Da hat er alle Zeit der Welt!“ Oftmals folgt dieser Beschreibung dann ein Ausruf der Enttäuschung, wenn jener Eine dann die Zeit nicht sorgsam nutzte, sondern den Ball spontan irgendwo hingeballert hat und eben nicht „reinmachte“ (auch das eine beliebte Wendung). Das soll mir nicht passieren.

Mein Turnierplan ist nämlich fast fertig:
In der Gruppenphase werde ich zunächst mal analog und digital aufräumen. Ich denke, dass ich mich damit für die nächste Runde qualifizieren kann, und sei es mit drei Unentschieden.
Dann denke ich nur noch von Spiel zu Spiel, egal, ob die Gegner aus dem Bereich Theater, Literatur, Kino oder gar dem selbstbetriebenen Sport kommen. Ein ganz harter Brocken wird im Halbfinale auf mich warten, mit einem Arbeitspaket, das ich extra für diese Tage aufgehoben habe.
Und dank meiner gefürchteten Turnierqualitäten werde ich es dann auch in das Finale schaffen, an dem ich – mir zur Belohnung – in der VIP-Lounge der Schankwirtschaft meines Vertrauens teilnehmen werde. So marschier ich durch bis zum Titel.

Ich muss zum Ende kommen, mehr als neunzig Minuten hab ich mir nicht gegeben für dieses Eröffnungsspiel, und die sind eben rum. Brasilien habe gewonnen, höre ich, neben der FIFA, der BILD, dem Einzelhandel und der Gastronomie. Und neben mir.

Vom Aufstieg und Fall des Albert Ue.

Soeben als Teichelmaukes eBook veröffentlicht:
Eine fiktive Geschichte über zwei Amateurkritiker, die am und im Theater spielt

Ein älterer Ex-Manager und Theaterfreund (Albert), der schon bessere Tage gesehen hat, lebt ein ereignisarmes Leben in seinem Viertel, pendelt zwischen Arbeit, Kneipen und gelegentlichen Kurzliebschaften. Ansonsten spielt nur das Theater eine wesentliche Rolle in seinem Leben.

Eines Tages ärgert er sich so über die Kritik in einer renommierten Zeitung über ein von ihm als phantastisch empfundenes Stück, dass er selbst anfängt, Rezensionen zu schreiben. Diese veröffentlicht er erst nur auf seiner facebook-Seite, später dann auch auf der des Theaters und auf einer Kulturplattform. Er stößt damit in eine „Marktlücke“ und wird eine Zeitlang vom Theater und der Öffentlichkeit als Bürger-Kritiker gehypt.

Parallel passiert Ähnliches mit einem späten Fräulein (Grete), die sich von Alberts Beiträgen anregen lässt, ebenfalls ihre Meinung aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Beide steigern sich in der Folge in einen Rezensions-Wettbewerb hinein, der anfangs von vielen aufmerksam verfolgt wird, zumal eine große Boulevardzeitung mit einem fiesen Trick das Pseudonym des Fräuleins enthüllt und ihr damit viele Sympathien zutreibt.

Grete und Albert werden eine Zeitlang als frische Stimmen im Chor der Kritiker wahrge­nommen und finden ein gewisse Resonanz. Aber beide übertreiben es in der Folge, die Adressaten sind zunehmend genervt von der Menge und dem Stil der veröffentlichten Beiträge.

Der Stern der Neu-Kritiker sinkt, was vor allem bei Albert auf wütenden Trotz stößt. Auch seine Annäherung an Grete scheitert. Eine ganz neue Idee soll nun seinen Ruhm wiederherstellen ..

A U S Z U G

1 Grete

Grete Zwanziger war nicht gerade das, was man gewöhnlich eine Schönheit nennen würde. Sie gab sich auch keine große Mühe mehr, als solche zu erscheinen, wissend um die Aussichtslosigkeit des Unterfangens. Was sie inzwischen zu dick war, war sie immer noch nicht groß genug und würde dies sicher auch nicht mehr werden. Ihre Haare schimmerten auf eine Weise, die man mausfarben nennen musste, aber immerhin lächelte sie schön, wenn auch selten.
In den knapp vierzig Jahren ihrer Existenz hatte sie lernen müssen, dass es am Ende doch die äußere Hülle war, die die größte Bedeutung im Spiel der Geschlechter besaß. Und da sie wenig in die Wiege gelegt bekam (was sie bald begriff und wofür sie – neben einigem anderen – ihre Mutter hasste), hatte sie es sich abgewöhnt, sich gemeint zu fühlen, wenn es hinter ihr auf der Straße pfiff.
Grete lebte ein ereignisloses Leben zwischen der Arbeit und der mehr oder weniger vertändelten Freizeit. Früher hatte sie noch Ehrgeiz hinein gesteckt, ihre Wohnung als Schmuckstück, als gemütliches Nest zu präsentieren. Mangels Publikum war ihr aber auch darauf inzwischen die Lust vergangen. Sie hielt sich in dieser Wohnung auf, weil es keinen anderen Ort gab, an dem sie sich lieber aufgehalten hätte, auch wenn dieser Ort gar nicht so viel hätte bieten müssen. Die Wohnung war halt da, und besagter anderer Ort nicht.
Eine wesentliche Errungenschaft in ihrem Dasein wollen wir nicht verschweigen: Grete hatte einen Computer, der in den letzten Jahren vor allem dazu diente, ihre Steuererklärung zu fertigen und die jährliche Urlaubsreise (sanfter Tourismus mit Kulturprogramm) zu buchen. Eine Arbeits-Freundin (Grete wäre nie so weit gegangen, diese wirklich als Freundin zu bezeichnen, davon hatte sie ganz andere Vorstellungen, die sich leider selten erfüllten bisher) hatte ihr in einer ruhigen Stunde in der Kanzlei (der Chef war „beim Mandanten“, wie er seine Besuche im nahegelegenen Bordell nannte, in der irrigen Annahme, dass seine Kanzleidamen ihm das schon glauben würden) das Universum von Facebook nahezubringen versucht. Und Grete fand Gefallen daran, lächelte zwar über den inflationär verwendeten Begriff „Freund“, erahnte aber doch die vielfältigen Möglichkeiten für eine wie sie.
Leider beging Grete den Fehler, sich am selben Abend kurz vor Mitternacht noch schnell anmelden zu wollen. Pedantisch wie sie war, untersuchte sie akribisch nach dem Login unter einem Pseudonym (wie ihr geraten worden war) alle Möglichkeiten, die sich ihr boten, lud Fotos hoch, suchte nach ihren Lieblingsfilmen, um der Welt mitzuteilen, dass diese auch ihr gefielen, stöberte Schulfreunde auf. Als sie das nächste Mal zur Uhr sah, war es Fünf.
Dem ersten Reflex folgend, fuhr sie erschrocken den Rechner herunter, um dann, sich der alten Weisheit erinnernd, dass kein Schlaf besser wäre als zwei Stunden Schlaf (praktisch hatte sie das seit Jahrzehnten nicht ausprobiert), das Gerät wieder zu starten und sich als Luise Miller wieder einzuloggen. Luise Miller deshalb, weil die Luise ihr immer als der natürliche Gegenpol zur Grete erschien und Miller dann die passende Ergänzung war. Facebook nahm keinen Anstoß daran, und so war ihre neue Existenz geboren.
Die erste Nacht mit dem neuen Spielzeug endete, und Grete fühlte sich der Welt irgendwie mehr verbunden als noch am Tag zuvor.

2 Albert

Im Leben von Albert Ueberzahl gab es inzwischen nichts mehr, was einer besonderen Erwähnung wert gewesen wäre. Er hatte sich mehr oder weniger gut eingerichtet zwischen einem anspruchslosen Job, der ihm immerhin ein passables Einkommen sicherte, seinen Touren durch die Neustadt, wo er hätte als Alterspräsident gelten können, wenn es nicht noch einige Bejahrtere gegeben hätte (aber mit seinen vierundfünfzig – die man inzwischen auch sehen konnte – war er schon ein Exot im Revier, auch wenn man ihn das selten spüren ließ und außerdem als umsatzstarken Gast schätzte) und seinen irritierend häufigen Theaterbesuchen, die er inzwischen als seinen Lebensinhalt empfand. Die Fragwürdigkeit der Bezeichnung „Lebensinhalt“ war ihm dabei durchaus bewusst, spätestens seitdem ein gewisser Herr Lehmann darüber philosophiert hatte, aber ihm war bislang kein besserer Begriff eingefallen und außerdem fühlte sich das Leben tatsächlich manchmal als Flasche an. Fand er.
Albert hatte aufgehört, über seine Rolle in der Neustadt, jenem „Szene-, Künstler- und Kneipenviertel“ (der Name, auf den sich die Reiseführer letztlich geeinigt zu haben schienen), das gern so tat, als ob es ganz woanders wäre, tiefer nachzudenken. Vor gut zehn Jahren, als er herkam, flüchtend aus einer bürgerlichen Existenz, sich in ein neues Leben mit einer neuen Frau stürzend, war alles noch wahnsinnig aufregend, spannend und inspirierend. Er hatte sogar selbst angefangen, „irgendwas mit Kunst“ zu machen, nach Feierabend, bis er den Dilettantismus seiner Bemühungen einsah. Das Ganze hielt ein paar Jahre an, dann verschwanden erst der Zauber und kurz danach die Frau. Er war trotzdem hier klebengeblieben, ohne Kraft und Mut für einen weiteren Neuanfang.

In seinem Dreieck fühlte er sich einigermaßen geborgen und sicher, und was sollte auch groß noch kommen? „Schon deutlich älter als die DaDaEr geworden ist aber immer noch alles im Griff“, wie er gerne selbstbetrügend sagte, wenn er dann doch mal am Tresen eine Art Gespräch führte. An besseren Tagen gefiel er sich dann in der Rolle desjenigen, der sein schweres Schicksal mannhaft trug, an den anderen brauchte es die helfende Hand der Oberkellnerin, bis er den Frust schließlich hinweggespült hatte.
„Ich bemerke, dass ich selbst auch Spuren hinterlasse, jeden Tag z.B. mit der Kaffeetasse“, diesen Zynismus der Formation „Die Sterne“ aus seiner späten Jugend sang er dann am nächsten Morgen oft vor sich hin, im Rhythmus des Songs, wie er zumindest glaubte.
Es war nicht so, dass er gänzlich alleine war. Mit seiner Halb-Intellektualität und dem Einziehen seines inzwischen nicht mehr nur Ansatz zu nennenden Bauches konnte er schon gelegentlich mittelalte Damen spät abends davon überzeugen, dass es eine gute Idee wäre, mit ihm temporär das Lager zu teilen. Diese Meinung – in der Regel auch von diversen Alkoholika befeuert – hielt bei der Auserwählten jedoch selten länger an, und auch seine Begeisterung schwand meist rapide. Man trennte sich dann im Guten und grüßte sich fortan freundlich auf der Straße, wenn man sich sah.

Das eigentliche Problem bestand darin, dass Albert der Überzeugung war, ein Loser zu sein, sich an einem entscheidenden Punkt im Leben falsch entschieden zu haben und nun die Konsequenzen ausbaden zu müssen. Davon brachte ihn nichts ab, und sein Alter Ego, der Albert von früher, Enddreißiger mit Frau, Kindern und Haus, der partout nicht älter werden wollte und ihm immer, wenn er in der Badewanne saß, im Geiste gnadenlos die Wahrheit vorhielt, bestärkte ihn noch darin:
„Merkst Du was? Du bist einer der Wenigen, die alleine im Alaunpark herumlungern. Und die alleine ins Theater gehen. Und alleine in der Kneipe sitzen. Was hast Du denn erreicht mit deiner großen Selbstverwirklichung?“
Tja. Es ist eben wie es ist. Lonely Irgendwas. Nur in den besseren Momenten fühlte sich das abenteuerlich an.

Albert hatte dennoch nicht wirklich das Gefühl, etwas ändern zu müssen. Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass jegliche Veränderung bei ihm seit fünfzehn Jahren immer nur zum Schlechteren geführt hatte, und er hing schon noch ein bisschen an seiner jetzigen Existenz, vor allem auch, um die nächsten Premieren am Theater nicht zu verpassen.
Jenes Theater verursachte bei ihm dank langjähriger Verbundenheit inzwischen Heimatgefühle. War er anfangs noch reserviert gewesen gegenüber dem Theatervolk, das so anders schien als er, gewöhnte er sich langsam an den Umgang, erleichtert auch durch einige Begegnungen auf Premierenpartys, bei denen er einfach so lange geblieben war, bis schließlich auch er wahrgenommen wurde. Ein flüchtiger Beobachter hätte ihn inzwischen zum Personal gezählt, sicher nicht auf der Bühne, aber irgendwo dahinter. Und es kam sogar vor, dass er in der Kantine nur den Mitarbeiterpreis für das Bier zahlen musste, weil sein Gesicht inzwischen allen vertraut war. Dies waren dann die besseren Abende in Alberts Leben.
Umso fassungsloser war er, als der berühmte und von ihm eigentlich geschätzte Großkritiker einer noch berühmteren Großzeitung, der schon häufig sehr viel Freundliches über sein Theater geschrieben hatte, das jüngste Stück, das Albert ausnehmend gut gefallen hatte, ohne Gnade und mit deutlich lesbarer Freude verriss.
Diese Unverfrorenheit weckte in ihm ungeahnte Kräfte. Kaum gelesen, hockte er sich an den Tresen seines Lieblingsitalieners und hämmerte voller Wut eine „Richtigstellung“ in seinen Kleinrechner. Er sandte sie ab mit dem guten Gefühl, zumindest ein kleines Stück Welt heute Nacht gerettet zu haben.
Die Reaktion der Großzeitung war enttäuschend. Eine freundlich-standardisierte Eingangsbestätigung, dann eine Woche später magere drei Zeilen auf der Leserbriefseite, fast zusammenhanglos und entsprechend dämlich klingend. Und dann noch mit seinem Namen und denunzierend mit seinem Wohnort unterschrieben und ihn damit als lokalen Eiferer bloß stellend.
Albert war erschüttert, tief getroffen, schwer gekränkt in seinem sicheren Gefühl der Theaterkompetenz, erworben in fast zwanzig langen Zuschauerjahren. Aber was nun tun?
In seiner Not entsann er sich des Spielzeugs Facebook. Wenigstens hier sollte die Welt seine Gegenmeinung lesen können. Nachdem er zunächst mit den technischen Gegebenheiten kämpfte (er hatte in letzter Zeit ohnehin häufiger das Gefühl, dem technischen Fortschritt nicht mehr überall folgen zu können), gelang es ihm, den Text auf seiner Seite zu platzieren. Nun konnte die Welt Anteil nehmen. Zumindest der Teil der Welt, der sich für seine Hervorbringungen interessierte und realistisch betrachtet nicht gerade bedeutend war.
Als aber nach drei Tagen der Text immer noch jungfräulich auf dem Bildschirm prangte (offenbar gefiel er nicht mal denen, die sonst immer alles liken), zündete er die nächste Stufe. So sehr er sich einredete, dass das alles nur dem guten Zweck der Verteidigung seines Theaters diente, so klar war ihm insgeheim, dass es inzwischen um seine gekränkte Eitelkeit ging. Zurücksetzung und Ignoranz war er inzwischen auf vielen Feldern gewohnt und hatte gelernt damit zu leben. Aber das Schauspiel war die letzte Bastion seiner intellektuellen Würde, hier wollte er bitteschön ernst genommen werden!
Also: Auch das Theater hatte eine eigene Seite, und ob so gewollt oder zufällig, auch er konnte hier Texte einstellen. Das tat er, und siehe, immerhin eine umgehende freundliche Reaktion der Marketingabteilung war die Folge. Ging doch! Albert war erst mal beschwichtigt.

3 Der Erstling

Irgendwie schien sich sein Text von der Theaterseite aus weit verbreitet zu haben. Zwei Tage später standen ein Dutzend zustimmende Kommentare darunter, meist in der Facebook-üblichen Knappheit, die er nicht immer verstand, zudem prangten an die hundert Däumchen auf ihm. Das Theater hatte eine beachtliche internet-affine Fangemeinde, die sich offenbar ebenso wie er über den Verriss des Leitmediums geärgert hatte, zumal andere Zeitungen darauf aufgesprungen waren. Problem verschärfend kam hinzu, dass der blutjunge Hauptdarsteller, der jedoch schon einige Filme vorweisen konnte und seit neuestem seine Anhängerschar auch mit einer eigenen Band erfreute (von der beginnenden DJ-Karriere wollen wir gar nicht reden), ebenfalls schlecht wegkam in den Traktaten, was den Eifer der überwiegend weiblichen Theaterfans noch anstachelte. Albert war geschmeichelt über so viel Zuspruch, auch wenn er den Unterschied zwischen Koch und Kellner kannte.
Selbst der Intendant, der offensichtlich auch erbost war über den Verriss seines Lieblingsprojektes, zitierte ihn und die Internet-Debatte in der nächsten Theaterzeitung, mit dem süffisanten Hinweis, dass Berufskritiker nicht immer recht haben müssen und sein Publikum das Stück schon verstanden habe.

Hier geht es zum eBook:

https://www.xinxii.com/vom-aufstieg-und-fall-des-albert-ue-p-353150.html

Etwas hat sich in Gang gesetzt

„…, und nichts kann es mehr aufhalten“, um einen Slogan des Deutschen Theaters Berlin, das mit seinem Jungen Theater hier ebenfalls vertreten sein wird, zu zitieren. Das erste deutsch-europäische Bürgerbühnenfestival hat am 17. Mai 2014 in Dresden begonnen, und zumindest in den nächsten sieben Tagen wird es den Rhythmus dieser Stadt maßgeblich bestimmen.

Sonnabendnachmittag, kurz vor 17 Uhr, es wuselt und quirlt derart vor und im Foyer des Kleinen Hauses, dass man eine erste Ahnung davon bekommt, welch logistischer Aufwand hinter diesem Festival steckt. …

Es dauert, ehe das Völkchen sich im Saal eingefunden hat, doch viertel sechs (für die Gäste: Viertel nach Fünf) geht es dann endlich los: Ein Chor aus siebzig Akteurinnen und Akteuren der Dresdner Bürgerbühne, in seiner Besetzung repräsentativ für die volle Breite der Spielenden, eröffnet mit einem Lied über dieselbe das Festival, gewohnt begeisterungsfähig und selbstironisch. „Party und Partizipation“ heißt das Motto, und man wagt auch den Blick in die Zukunft, wenn die Bürgerbühne erst zehn Jahre alt sein wird, steht bestimmt auch die erste Welttournee an. …

(Die gesehenen Stücke: „Die Klasse“ vom jungen theater basel und „Die letzten Zeugen“ vom Burgtheater Wien)

Der ganze Text:
http://www.livekritik.de/kultura-extra/theater/spezial/buergerbuehnenfestival2014_dererstetag.php

Nimm es nicht persönlich

Vom Verhältnis zwischen Mensch und Funktion

Das diese Betrachtung auslösende Ereignis ist hier nicht weiter zu vertiefen und war an sich auch deutlicher weniger negativ als es erstmal klingt, aber es brachte mich zu einigen grundsätzlichen Erwägungen.

Wenn man für etwas, vorzugsweise eine Tätigkeit, bezahlt wird, kann man sicher immer davon ausgehen, im Rahmen davon als entpersönlichte FUNKTION zu agieren. Wäre auch ungünstig, wenn der ICE-Zugbegleiter jede Beschwerde eines Reisenden über Unpünktlichkeit seelisch mit nach Hause nähme. Da müsste die Bahn noch ein paar Psychologen mehr einstellen.
Aber der Umkehrschluss gilt nicht: Wenn man sich freiwillig einer Gruppe zuordnet, nehmen wir das Beispiel Fußballfan, bleibt man zwar für alle seine Handlungen selbst verantwortlich, wird aber von außen nicht mehr als Individuum wahrgenommen, sondern als Teil einer (zumindest mir unangenehmen) Masse. Und so kann ich zwar das gutturale Kampfgebrüll als Ganzes dämlich finden, muss das aber nicht zwingend bei jedem auch tun, der da aus welchen Gründen auch immer mitgrölt. Der mag im Einzelfall im normalen Leben durchaus ein netter Mensch sein, ich will das nicht ganz ausschließen.

Aber es soll hier nicht um Gruppendynamik und –rituale gehen, sondern um die Momente, wo man wirklich allein auf sich selbst angewiesen ist. Und da fallen mir eigentlich nur zwei Bereiche ein:
Der des Arbeitsmarktes (also das Suchen nach und das Bestehen in einem Job) einschließlich der Ausbildung dafür ist der Eine. Hier muss man sich als Mensch, als PERSON bewähren, ohne sich in einer Gruppe verstecken zu können, mit der wichtigen Ausnahme, dass man für eine (ungünstige) gesamtwirtschaftliche Situation nicht selbst verantwortlich ist, diese also „nicht persönlich nehmen“ sollte, wenn man deswegen keinen Job findet.
Der zweite große Bereich ist das weite Feld des Zwischenmenschlichen in allen Facetten von Familie, Freundschaften bis hin zur Balz. Hier die in der Überschrift genannte Aufforderung zu befolgen, fiel mir bislang schwer. Denn wie anders kann man denn Entscheidungen von anderen, die die eigene Person betreffen, nehmen, wenn nicht „persönlich“? Das beweist doch schon die Semantik.

Wenn dann aber doch jemand darauf beharrt und das nicht nur als Trostpflaster verstanden wissen will, und man demjenigen das auch gerne glauben und über die angebotene Brücke gehen möchte, was ja letztlich auch besser für das eigene Selbstwertgefühl ist, lohnt es sich ein wenig drüber nachzudenken.

Dies führt dann irgendwann nach dem vierten Grauburgunder zu einer dritten Kategorie: Der ROLLE.
Die muss irgendwo zwischen PERSON und FUNKTION liegen, ob in der Mitte oder eher einer von beiden mehr zugeneigt, hängt sicherlich auch von der konkreten Situation ab. Die ROLLE ist etwas, was man auf Grund seiner PERSON einnehmen kann (nicht jeder ist logischerweise für jede Rolle geeignet), worin man dann aber im Wesentlichen als FUNKTION wahrgenommen wird. Ob man dann auch funktional agiert, möchte ich für mich gerne verneinen, ganz ausschließen kann ich es aber nicht.
In diese ROLLE rutscht man nicht von selbst, sondern durch Fremdwahrnehmung, und – glücklicherweise – ist einem das während des Rollenspiels meist auch gar nicht bewusst. Man selbst fühlt sich als PERSON, doch für das Gegenüber ist man in einer – durch dieses – definierten ROLLE.

Die geneigte Leserin merkt schon, worauf das jetzt hinausläuft: Ein Text zur Bewältigung. Nicht immer ist man ja glücklich mit der einem zugedachten ROLLE, zumal wenn das Spiel anders ausgeht als erhofft. Man sucht den Grund in der PERSON, in sich selbst, nimmt es also persönlich.

Da ist die Begrifflichkeit der ROLLE dann schon eine goldene Brücke zurück zum Selbstbewusstsein. Die ROLLE war halt so angelegt, es wirkten Mechanismen, auf die man keinen Einfluss hatte. Na also.
Und die PERSON, der Mensch also, im konkreten Falle ich, freut sich über wiedergewonnene Stabilität. Es lebe die Dialektik.

Alles ist gewesen aber nichts ist wahr

„Umgegend. Tanz und Performance Parcours“ im Rahmen der Tanzwoche Dresden auf dem Ostrale-Gelände, gesehen am 21. April 2014

 Einem schönen Rücken zu folgen, ist immer eine gute Idee. Zumal, wenn dieser (bzw. dessen Besitzerin) einen zu verwunschenen Orten führt, an denen getanzte Pretiosen zu sehen sind.

Das Gelände der Ostrale (ganz ganz früher mal die städtischen Schlachthöfe im Ostra-Gehege, heute notdürftig erhaltene Ruinen) wurde – soweit ich das überblicke – erstmals durch die Tanzwoche bespielt, hinterher kann man zwar immer sagen, das war doch naheliegend, nur muss auch jemand darauf kommen.

Neben einem österlichen Brunch respektive Lunch gab es am Sonntag und Montag jeweils zwei Aufführungen des Ivanovic Clan um die Choreografin Jelena Ivanovic, der hier aus fast zwei Dutzend Tänzern, Sängerinnen und Performern besteht. Ein Parcours ist zu durchschreiten, unter Führung und Begleitung zweier geheimnisvoller Damen, die die – am Ostermontagmittag überschaubare – Besuchergruppe während der eindreiviertelstündigen Aufführung nicht aus den Augen lassen.

 Es beginnt vor den Ställen, ein einsamer Solist mit sparsam-traurigen Bewegungen, dann räkeln sich zwei Damen gelangweilt auf zwei Etagen. Auch Zwiebeln schneiden ist eine zu Tränen rührende Kunst, und nebenan scheint jemand um Einlass zu flehen, während Paare im Obergeschoss beim Tango schwelgen.

Noch findet dies alles in tiefer Stille statt, nur die Vögel hört man zwitschern auf dem weitläufigen Gelände.

 Man betritt nun die Hallen, wird ins Obergeschoss gewiesen, Dunkelheit, Musik ertönt, ein interessantes Bild taucht auf: Paare eilen mit Einkaufs- statt mit Kinderwagen. Eine Familienszene wird performt, nun sind auch Worte zu hören, dazu noch traumhaft schöner Gesang (Eva-Maria Falk), es folgt ein mitreißender Pas de deux, mit Möhre, einem von mir bisher künstlerisch unterschätzten Gemüse. Auf dem Wege nach unten wieder dieser phantastische Sopran.

 Im Erdgeschoss gebiert ein seltsames Wesen im blattgrünen Kleid einen zweiten Kopf, das ist wundersam anzuschauen, auch wenn die schützende Hülle am Ende fällt. Einen dadaistischen Ohrwurm nehme ich mit „la-la, la-la-la“ mit und die Beobachtung eines versuchten Ausbruchs aus dem niedlichen Einerlei und der resignierten Rückkehr.

 Mein Lieblingsbild an diesem Nachmittag: Sängerin und Tänzer vor einer Kühlhaussilhouette, balancierend auf einem Stapel von Balken.

Noch einmal geht es ins Haus, dort nimmt eine Dame ein Bad, duscht mit Mineralwasser und pflegt sich im Widerhall der Werbebotschaften. Zuvor noch ein Solo der namensgebenden Clanchefin, vor dem videoprojektierten eigenen Rücken und diesmal mit einer knallroten Paprika als Staffage. Auch wenn man es nicht wirklich erklären kann, das alles ist von einer berückenden Ästhetik.

Was auch für Yaron Shamir gilt: Er beschließt den Reigen mit einer selbst entwickelten und getanzten Choreographie um, auf und mit einem fahrbaren Stuhl, der mit Punktstrahlern unterschiedlicher Größe versehen ist. Què és l‘amor …? Nicht nur musikalisch ein Höhepunkt zum Schluss.

 Eine „verwunschene, entrückte Welt, wo alles tanzt und nichts still steht, wo alles gewesen aber nichts wahr ist …“ sei hier zu besuchen, versprach das Programmheft. Nach der Runde durch die alten Schlachthöfe halte ich das für leicht untertrieben. Ein phänomenales poetisches Erlebnis war es, man fühlt sich gehoben und schwebt fortan ein wenig durch den Tag.

Schöne, nicht ganz neue Welt

Die Saisonvorschau 2014/15 des Staatsschauspiels Dresden

Es ist Gründonnerstag, ein Journalistenfeiertag, wie man jetzt auch im Staatsschauspiel Dresden weiß und deshalb die Pressekonferenz zur kommenden Saison um einen Tag vorzog. Die Vorstellung vor den interessierten Publikumskreisen (zwei Vereine und einige Abweichler) konnte aber am geplanten Tag verbleiben, die meisten im mit 200 Gästen gut gefüllten Foyer sind ohnehin im Rentenalter.

Ich beschließe, den rar gewordenen Moment, zum jüngsten Viertel der Besucher zu gehören, ausgiebig auszukosten und lasse mir die Laune auch nicht durch die witzelnde Einleitung des Vereinsmeiers Eins verderben. Dessen Zumutungen lässt Intendant Wilfried Schulz locker abtropfen und hat gleich ein ärztliches Bulletin zu verkünden: Ja, Lea Ruckpaul habe sich den Fuß gebrochen, aber bei den jungen Leuten wachse sowas schnell wieder zusammen. Sie würde heute trotzdem die Titelrolle in Antigone spielen, im Sitzen, und ihre Wege würde jemand anderes gehen, was grad noch auf der Bühne geprobt würde, weswegen man mit der Spielplanvorstellung ins Foyer ausgewichen sei.
Das klingt verdammt interessant, wie schlümmstes Berliner Regietheater, auch wenn ich das Stück überhaupt nicht und die aktuelle Inszenierung auch nicht besonders mag. Ich bleib dann aber doch nicht zur Vorstellung, die Welt (oder zumindest ein Milliardstel davon) wartet auf meinen Bericht. Also:

Die „geistige Stütze“ des 61-jährigen Schulz (um den Vereinsmeier Eins zur Strafe zu zitieren), Chefdramaturg Robert Koall, weilt im fernen Amerika, um auch dort Gutes zu tun, zumindest an einigen Studierenden. Wie man ihn kennt, wird er eine Uraufführung mitbringen.
Wilfried Schulz muss heute also alleine die durchaus wohlwollende Halbfachwelt (Fachhalbwelt?) bespielen, aber dies gelingt prächtig. Die gute Stunde vergeht wie im Fluge, nur am Anfang sind es ein paar Fußballmetaphern zu viel, das hat er gar nicht nötig, zumal er gelegentlich einen Zwischenruf bekommt, den er als Steilpass aufnimmt und dem Rufer postwendend ins eigene Netz knallt. (Jaja, ich kann das auch mit den Metaphern.)

Genug geblödelt.
Es wird eine schöne Welt werden im Dresdner Theater, wenn auch keine völlig neue. Doch man startet mit einer Uraufführung, besagter „Schönen neuen Welt“ nach Aldous Huxley, die – siehe oben – Robert Koall eingesammelt und für die Bühne aufbereitet hat. Und dann führt auch noch der seit dem Dresdner „Don Carlos“ zur allerersten Reihe gehörende Roger Vontobel Regie, der diesen beängstigend-großartigen Stoff sicher in faszinierender Weise umsetzen wird. Da freu ich mich schon sehr drauf, und wenn es für den 12. September schon Karten gegeben hätte, würde eine jetzt mir gehören.
Also mal kein Klassiker zur Eröffnung, aber vielleicht wird es ja einer.

Dafür folgt dann ein richtiger: Tschechow. Das brachte Herrn Schulz zum Sinnieren, wo denn die Sehnsuchtsorte heute so wären, da ja „nach Moskau …“ nur mehr bedingt gelten würde. Die Frage blieb offen. (Ich hätte Hiddensee und das Schützenhaus in Wehlen zu bieten, aber das ist jetzt vielleicht zu banal.)
Regie wird Tilman Köhler führen, was unbedingt eine gute Idee ist, wie laut Schulz auch das Ensemble findet. Drei Dutzend Bewerber*innen hätte er auf elf Rollen … Dass er bei dieser Gelegenheit auch noch so cool ist, über sein sicher nicht unbeträchtliches Gehalt zu witzeln (und einen Teil davon als Schmerzensgeld zu definieren), zeigt eine Souveränität, die in den fünf Jahren seines Vertrags stetig gewachsen ist.

Wilfried Schulz hat inzwischen in Dresden verlängert, was ebenfalls eine gute Idee ist, und beginnt nun seine sechste Spielzeit. In dieser wird es – auch wenn „Klaus im Schrank“ noch wie geschnitten Brot geht – ein neues Kinder- und Familienstück geben, „Das Gespenst von Canterville“ nach Oscar Wilde. Auch wenn die Geschichte eigentlich jeder kennt, wird interessant sein, wie Susanne Lietzow dies auf die Bühne bringt. Dass Herr Schulz wortreich erklärte, warum nun Frau Lietzow schon wieder „sowas“ machen würde, sagt leider einiges über das Ansehen dieser Gattung in Fachkreisen aus, was einerseits schade ist, mir aber andererseits auch wurscht, denn selbst wenn es die großartigen „Ratten“ nicht gegeben hätte, würde ich ihre Arbeit dennoch schätzen.

Der Faust kommt immer wieder, das kann ich bestätigen. Nach der werktreuen Fassung von Holk Freytag vor einigen Jahren (mit einem phänomenalen Gespann Glodde/Mesgarha, ich erinnere mich gut und gern) kommt nun der hierzulande noch nicht tätig gewesene Intendant aus Uppsala, Linus Tunström, der auch als Choreograph arbeitet, und kündigt eine freie Interpretation an. Es soll irgendwie retrospektiv werden und die Best-Ager im Ensemble dürfen sich schon mal warmlaufen. Auch das klingt spannend.
Die darstellende Jugend ist dann bei „Wie es euch gefällt“ gefragt, das Jan Gehler, Hausregisseur Nr. 2, erstmals auf der großen Bühne inszeniert. Dies sei nicht mit „Was ihr wollt“ zu verwechseln, tat Schulz kund, und bescheinigte einem „Hoffentlich!“ Rufenden dann eleganter, als ich das hier widergeben kann, mangelnde geistige Reichweite. Doch auch den hier nicht mehr ganz so gut gelittenen Andreas Kriegenburg ereilte bei dieser Gelegenheit ein Schulzscher Ordnungsruf: 30 Minuten zu lang sei es geraten.
(Schulz ist da übrigens ganz meiner Meinung, den fast einhelligen Verriss der diesjährigen Inszenierung teile auch ich mitnichten.)

Egal. Kriegenburg (oder besser Dresden?) bekommt eine neue Chance, „Bernarda Albas Haus“ von Lorca wird im April 2015 premierieren und fast das gesamte weibliche Ensemble auf der Bühne versammeln, was allein schon Grund genug wäre hinzugehen. Davor gibt es noch einen unbekannten Schiller („Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“) des hier auch noch nicht so populären Regisseurs Jan Philipp Gloger und Kafkas „Amerika“, das Wolfgang Engel, auf andere Art ein Hausregisseur, inszenieren wird, mit Olaf Altmann als Bühnenbildner.

Irgendwie (vermutlich beim Stichwort Gloger) kam dann die Sprache auf die Semperoper und die „dort noch verbliebenen Kollegen“, die sich der guten Wünsche aus dem neuschwesterlichen Hause sicher sein könnten. Respekt, noch nie hat sich ein offizieller Vertreter der Kultur im Freistaat so deutlich erbost über den Rauswurf von Serge Dorny geäußert wie Wilfried Schulz heute. Aus anderen Landeshauptstädten, z.B. in Bindestrich-Ländern, hört man derzeit eher Ergebenheitsadressen an die Ministerien.
Gut, er hat frisch verlängert, einen weiteren Rauswurf eines Intendanten wegen Majestätsbeleidigung würde Frau von Minister politisch weder durchbekommen noch überstehen, dennoch: Diese klare Positionierung ist dankenswert, zumal sie einen Bogen schlug nach Wien und nach Düsseldorf, wo auch grad große Tanker schlingern.

Zurück zu einer anderen Art von Theater: Im Großen Haus sind noch die „Lehman Brothers“ zu erwähnen, die die Geschichte des Kapitalismus über 150 Jahre erzählen werden, kleiner haben wir es hier nicht. Das Stück stammt vom Italiener Stefano Massini und kommt als deutschsprachige Erstaufführung. Regie führt der Kölner Intendant Stefan Bachmann, der damit auch die große Umbaupause in Köln überbrückt. Und Friederike Heller wird „Dantons Tod“ von Büchner inszenieren, die Premiere ist im Mai 2015 geplant.

Das Kleine Haus und die Bürgerbühne kommen dann zeitbedingt recht kurz weg. Mit Philipp Löhle gibt es einen neuen Gegenwartsautor, den Barbara Bürk inszenieren wird. Der letzte Roman von Monika Maron, „Zwischenspiel“, wird vom Jung-Regisseur Malte Schiller verarbeitet, die Hauptrolle übernimmt Hannelore Koch, eine schöne Konstellation.
Ein Stück zum NSU wird es geben, von Thomas Freyer in der Regie von Tilman Köhler, fragend angelegt, wie Schulz erklärte. Und Roger Vontobel wird mit der „Panne“ von Dürrenmatt seine zweite Dresdner Produktion in dieser Saison machen und seine allererste eines Schweizer Autors auch. Arthur Miller steht mit „Alle meine Söhne“ auf dem Programm (Regie Sandra Strunz), und Martin Heckmanns wird sich mit den Qualen der Eltern bei den ersten sexuellen Erfahrungen der Kinder befassen, ein Stück ganz nach dem Geschmack des Intendanten, wie er bekundete.
Und dann kommt noch ein Musikstück von und mit Clemens Sienknecht, „Superhirn oder wie ich die Photonenklarinette erfand“. Wilfried Schulz ist sicher nicht rachsüchtig, merkt sich aber alles, und so wurde der arme Zwischenrufer von vorhin mit „nichts Ernsthaftes, also nichts für Sie!“ angesprochen. Er wird das sicher nie wieder tun.

Ach ja, und dann steht noch was Geheimes ins Kleine Haus, mit „Ein neuer Text“ umschrieben. Immerhin der Regisseur ist mit Jan Gehler schon fixiert, was dann auf die Bühne kommt, soll erst zur Frankfurter Buchmesse verraten werden. So macht man das heute.
Die beiden hiesigen Lokalzeitungen stiegen dennoch in ihrer Berichterstattung nicht darauf ein, bei der einen ist man ohnehin nicht verwöhnt, und die andere setzte den Schwerpunkt auf die Aussagen zum „Fall Dorny“. Hier kann man sich also noch investigativ betätigen, so man dies möchte oder muss.

Die Bürgerbühne ist inzwischen Normalität, was schön ist, ihr aber in solchen Veranstaltungen auch keine Extrawurst mehr beschert. Fünf neue Inszenierungen sind zu erwarten, auf jene zur jüdischen Identität in Dresden, inspiriert durch die „letzten Zeugen“ des Burgtheaters, die zum Bürgerbühnenfestival im Mai hier gastieren werden, sei besonders verwiesen. Und auf das nunmehr dritte Landschaftstheater, wieder von Uli Jäckle.

Es ist – Phrasendrescher an – ein „reicher Spielplan“, mit einer klareren inhaltlichen Trennung zwischen Großem und Kleinem Haus, wie mir scheint. Die Saison trägt kein eigenes Motto, aber dem – nicht nur wegen der ungewöhnlichen Schauspielerportraits – gelungenen Spielzeitheft ist ein Zitat von Wolfgang Herrndorf vorweggestellt:
„Wir waren unterwegs, und wir würden immer unterwegs sein, und wir sangen vor Begeisterung mit“
Ja, meinereiner kommt mit, und selbst das Mitsingen kann ich mir vorstellen, wenn das alles so eintritt.

Die Veranstaltung beschließt Vereinsmeier Zwei, kalauernd wie Nr. Eins, aber immerhin hat er Blumen dabei. Und dann ist Ostern.