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Forrest Gump sagt, wo er steht

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„Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt vom ihm selbst“, von Ingo Schulze, Spielfassung und Regie Friederike Heller, Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden am 7. Februar 2020

Theater im engeren Sinne war das somit nur bedingt, eher eine dramatisierte und bebilderte Abfolge von Romanszenen. Die Figuren blieben zwischen den Buchdeckeln, keine erwachte zum Leben, die Abbildung von einem Vierteljahrhundert in einer Bühnensituation ist auch selten eine gute Idee.

Vergnüglich war es trotz allem, Ingo Schulze sei Dank. Und die Vorstellung, wie ein Forrest Gump durch den real Existierenden stolpert, hat auf jeden Fall was.

 

Egon Krenz hat die Wende erfunden

„1989: Jedem seine Geschichte“ ein MDR Figaro – Café in Kooperation mit der ZEIT und dem Staatsschauspiel Dresden am 28. September 2014

Wo ist man, wenn sich die Diskutanten Datumsangaben wie Stichworte zuwerfen und alle einschließlich des zuhörenden Saals auf Anhieb wissen, worum es geht? Richtig, in einer Debatte über das prägende Ereignis vor fünfundzwanzig Jahren, dessen heute gängige Bezeichnung „Wende“ auf Egon Krenz zurückgeht, wie der Schriftsteller Ingo Schulze (damals Dramaturg am Theater Altenburg) gleich zu Beginn anmerkte.
[Ich erinnere mich, dass Christa Wolf schon am 4. November (einem der oben erwähnten markanten Tage) dieses Wort öffentlich auseinandernahm und eine hübsche, aus der Seefahrt stammende Interpretation fand, sinngemäß: Der Kapitän befiehlt „Klar zur Wende“ und die Mannschaft duckt sich, weil gleich der Mastausleger über das Deck fegt. Auch die Anfügung „-Hals“ wurde von ihr in diesem Kontext erwähnt, was dem Siegeszug des praktisch-kurzen Begriffes „Wende“ keinen Abbruch tat. Und nun werden wir den nicht mehr los.]

Die anderen markanten Daten sind übrigens der 9. Oktober (ein bzw. DER Montag) und der 9. November, in welchem sich seitdem ein Großteil der Ambivalenz deutscher Geschichte abbildet. [Ich füge das nur an, weil unter den Lesern eventuell auch Menschen unter 25 Lebensjahren und/oder westdeutschen oder gar ausländischen Geblüts sein könnten. Man weiß ja nie. Bei allen anderen darf man diese Kenntnis wohl voraussetzen.]

Die anderen Diskussionsteilnehmerinnen waren Heide Schwochow, heute Drehbuchautorin, damals in der Kinderhörspielabteilung des DDR-Rundfunks – die berühmte Nalepastraße – und (auch formal) ausreisewillig sowie Evelyn Finger, die das Jahr 89 als Abiturientin in Halle erlebte, an der Saale, klar, und dennoch heute das elegant benamste Ressort „Glauben und Zweifeln“ der ZEIT leitet.
[Ein Ressort „Wissen“ gibt es übrigens auch, was allerdings etwa achtmal so viel Platz in der Wochenzeitung hat, es wird eben doch lieber gewusst als geglaubt oder gar gezweifelt.]

Moderiert wurde das sonntagnachmittägliche Radio-Café vom wie eh und je umschwärmten Thomas Bille.
[Den Begriff „Kanzelschwalben“ nutzte ich leider bereits in meinem letzten Bericht über ein ähnliches Ereignis und muss hier bedauerlicherweise auf ihn verzichten.]

Bei schönstem Spätsommerwetter war der Saal des Kleines Hauses immerhin halbvoll oder erschreckend halbleer, ganz wie man will. Auch dies ein Beleg dafür, dass alles relativ ist im Leben, auch der Blick auf den Herbst 89, der doch sehr von der eigenen Position abhängt, damals wie heute.
Die Abwesenden haben eine Diskussion verpasst, die – ohne nun gänzlich neue Erkenntnisse zu erzeugen – sich auf durchgängig sehr hohem Niveau mit der Geschichte der friedlichen Revolution und mehr noch mit dem heutigen Umgang mit dieser befasste. Ganz ohne Anekdoten kommt eine solche Debatte natürlich nicht aus, aber jene waren klug gewählt, ob es nun um die ungewöhnlich freundlichen DDR-Grenzer in Schmilka bei der Rückkehr aus dem Ungarn-Urlaub im September 89, um die Gelenkigkeit in der Halsgegend des Stabü-Lehrers [„Staatsbürgerkunde“, liebe oben erwähnte Randgruppe, eine Mischung aus Koranschule, Priesterseminar und Blinde-Kuh-Spiel, nur mit sozialistischem Inhalt] oder ganz im Gegenteil um die geistige Ungelenkigkeit einer überforderten Hannoveraner Lehrerin, die zu dieser Zeit auf ein eben ausgereistes Ost-Kind [nicht mit „ausgerissen“ zu verwechseln, das hatte alles seine Ordnung] mit erfahrungsbedingt hoher Politisierung traf, ging.
Jene Heide Schwochow, von der diese Geschichte stammte, begründete zuvor auch sehr einleuchtend, warum man als Familie – trotz der Möglichkeiten über Ungarn – lieber den eigenen Ausreiseantrag genehmigt bekommen wollte.
[„Besser durch den Vorderausgang schreiten als aus dem Klofenster klettern“ hat sie zwar nicht gesagt, aber so in etwa hab ich sie verstanden.]

Dass jene Bewilligung nun ausgerechnet am Vormittag des 9. November eintraf, führte an diesem Tage dann sicher gleich zweimal zu größeren Gefühlsausbrüchen, auch dies eine schöne Anekdote, welche noch besser wird, wenn man erfährt, dass Familie Schwochow (Mutter und Vater Rainer als Drehbuchautoren und Sohn Christian als Regisseur, ja, der vom „Turm“) kürzlich sozusagen als Ringschluss ein Fernsehspiel namens „Bornholmer Straße“ fertigte, das jene abendlichen Ereignisse am 9.11. vor 25 Jahren schildert und am 5. November in der ARD zu sehen sein wird, welche nun auch schon seit fast so lange nicht mehr mit „Außer Raum Dresden“ ausgesprochen werden kann.
Angesichts der im Rückblick absurden Situation am Grenzkontrollpunkt, wo die Entscheidung eines Einzigen, Oberstleutnant der Grenztruppen der DDR, angesichts einer diffusen Nachrichtenlage und mangelnder Order von oben den Schlagbaum anstelle der MPi zu heben, über den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmte, wird man dies als Komödie auf den Bildschirm bringen.

Es gab im Verlaufe des Gesprächs einige Merksätze zu notieren, wen wundert’s bei drei Größen der schreibenden Zunft. Ingo Schulze formulierte schön die untrennbare Bindung des eigenen Glücks an das Glück von allen in den besagten Monaten bis zum 18. März 1990, auch dies so ein Datum. Evelyn Finger nannte in der Rückschau die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der DDR an sich selbst und deren erlebte Wirklichkeit als das prägende Merkmal dieses Staates und Heide Schwochow verwies auf die Ambivalenz der (allermeisten) Menschen, für die ein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema nicht passen würde. Auch der Alltag in der DDR war nicht nur systemgeprägt, es wurde auch ohne Zutun der Partei geliebt und gelacht, geheult natürlich auch.

Thomas Bille fragte dann nach dem „Wenderoman“ und ob es so einen überhaupt gäbe bisher oder künftig geben könnte. Und obwohl da einige in Frage kämen, jeder ein bisschen, wurde dieser große Wurf so definiert, dass er aus dem Westen kommen müsse, ohne die dort sehr verbreitete „Westalgie“ natürlich, oder bereits in den Achtzigern im Osten geschrieben worden wäre, auch hier mit mehreren Kandidaten. An beidem ist sicher einiges dran, auch wenn der Begriff eher als Marketinginstrument auf die Buchmessen gehört. Wenn es jemandem gelänge, alle Aspekte dieses Weltenwandels in einem Roman abzubilden, hätten wir sicher einen zweiten Faust, aber ob der mit zwei Teilen auskäme, wage ich zu bezweifeln.

Interessant auch die einhellige Feststellung, dass sich die Debatte um die Umstände und Folgen des neunundachtziger Herbstes außerhalb der offiziellen Anlässe fast ausschließlich zwischen Ostdeutschen abspielen würde, erst in letzter Zeit sei z.B. in der gleichnamigen Wochenschrift eine Tendenz zu beobachten, dass man sich auch ohne biographischen Hintergrund mit diesem Jahrhundertereignis beschäftige. Erklärbar ist das sicher, schließlich unterschieden sich die Veränderungen in Ebersbach (Fils) zu Beginn der neunziger Jahre doch erheblich von jenen in Ebersbach (Sachs), und seitdem ist in beiden Partnerstädten nicht so sehr viel in dieser Beziehung passiert.
[Gut, das sächsische Ebersbach, das eigentlich in der Oberlausitz liegt, um das mal klarzustellen, hat sich inzwischen mit dem Nachbarflecken Neugersdorf per Bindestrich vereinigt, halb gezogen, halb gesunken, und strebt nun vielleicht den Titel „Ort mit dem längsten Namen“ an, der sicher die Reisebusse anlockt, aber sonst war wirklich nicht viel.]

Auch nicht neu (aber was überrascht nach 25 Jahren noch?), doch immer wieder neu beklagenswert ist der Fakt, dass mit dem Zusammenbruch des „linken Erlösungsversprechens“ namens real existierender Sozialismus der Gesellschaftsordnung hinter der Mauer ein potentielles Gegenmodell abhanden kam, das allein durch seine schlichte Existenz schon eine gewisse Wirkung hatte.
Wer will denn heute noch ernsthaft für ein anderes politisches System werben, jenseits von Marktkonformitäten, wenn einem postwendend das relativ frisch vergurkte Experiment im östlichen Europa um die Ohren gehauen werden kann? Ingo Schulze vor allem sind diese Betrachtungen zu danken, auch der Schwenk zum Einkaufsverhalten, mit dem man sich heute zumindest moralisch schuldig machen könne oder aber eben auch nicht.

Für das Thema Gerechtigkeitsdefizit, das immer noch zwischen den damaligen Widerständlern und den Mitläufern herrsche, weil jene meist bessere Startbedingungen in das neue System hatten, durch das Rückwirkungsverbot viele in Staatsnamen begangene Vergehen ungesühnt blieben und sich z.B. für die Opferrente außer den Betroffenen sich kaum jemand interessiere, blieb am Ende der anderthalb Stunden genauso wenig Zeit wie für eine Diskussion des beliebten Begriffs „Unrechtsstaat“. Allein diese hätte mit all ihren Facetten sicher noch einmal neunzig Minuten gebraucht, und ob es ein klares Ergebnis gegeben hätte, sei dahingestellt, eher wohl ein Unentschieden.

Mit diesem Radio-Café hat Figaro nicht nur einen anspruchsvoll-unterhaltsamen Nachmittag gestaltet, sondern auch den Auftakt zu „Eine Woche im Oktober – 25 Jahre friedliche Revolution“ des Staatsschauspiels Dresden gegeben. Ab dem 3.10. wird eine Themenwoche mit Theater, Performances, Lesungen, Konzerten und Diskussionen sowie gar einem eigenen abendlichen Radiokanal mit dem Jubiläum auseinandersetzen, hier gibt es Näheres dazu:
http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/spielplan/rahmenprogramm_eine_woche_im_oktober/beschreibung/

Es wird zu berichten sein.
Aber den Schlusspunkt dieses Textes darf Ingo Schulze setzen, der wie er erzählte seine Profession anlässlich einer chinesisch-amtlichen Nachfrage bei der dortigen Einreise so beschrieb: Er „schreibe – wie alle Schriftsteller – über Liebe und Tod vor wechselnden Hintergründen, und in seinem Falle nicht in Versform.“ Damit wäre zumindest das geklärt.

Jedes Wort hat seine Zeit

„Vom Wandel der Wörter. Ein Deutschlandbericht“ von Ingo Schulze, Regie Christoph Frick, Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden, gesehen am 21. Juni 2013

Eine Erzählung in Form eines Briefes, ein junger Schriftsteller schreibt an den Museumsdirektor des „Deutschland-Gerätes“, einer Installation von Reinhard Mucha. Es geht um seine Beziehung zu B.C., einem namhaften, ausgebürgerten DDR-Schriftsteller und um dessen „Ernährerin“ Elzbieta. Und zugleich geht es um ein Vierteljahrhundert deutscher Geschichte.

Am Anfang betrachten drei Schulzes (kenntlich gemacht durch den prägnanten Wuschelkopf) das Werk aus Buchstaben, schon vor Beginn des Stückes. Zögerlich, skeptisch sind sie. Die ersten Textfetzen flattern aus dem Off durch den Raum, es beginnt eine Dekonstruktion einschließlich Neuaufbau, ganz neue Wörter entstehen. Ein erstes starkes Bild. Schließlich bricht der ganze Haufen zusammen.

Man ahnt bald schon, worauf es hinausläuft. B.C., eine fiktive Figur, vielleicht ein bisschen an Biermann angelehnt, wird nach seinem ersten Buch gegen seinen Willen aus der DDB ausgebürgert und anfangs im Westen als Dissident hofiert. Als er aber beginnt, sich auch zu westdeutschen Zuständen zu äußern, ist es mit dem guten Willen vorbei, fortan ist er nirgendwo zuhause, zudem fehlt ihm die Reibefläche. Der Kapitalismus ist halt viel elastischer …
C. leidet an seinem Bedeutungsverlust, veröffentlicht kaum mehr etwas. Zwar wird er von der Ärztin Elzbieta materiell und auch sonst aufgefangen, aber Vollgas gibt er nur noch im Leerlauf. Und die Aufregung ist auch gar nicht gut für seine Gesundheit.

Trotz eines assoziationsreichen, starken Bühnenbildes (Alexander Wolf) aus einer hydraulisch betriebenen schiefen Ebene, die mit einem flauschigen DDR-Fahnen-Teppich mit fehlendem Emblem bedeckt ist, kann man die Aufführung sicher noch als szenische Lesung beschreiben. Und diese lebt von großartigen Schauspielern, die ihre Figuren zum Leben erwecken. Holger Hübner als mal selbstgefälliger, mal kleinmütiger, mal wütender B.C., Matthias Reichwald als Ich-Erzähler mit einer glaubhaften Wandlung von Anbetung zu kritischer Distanz und ganz besonders die frisch gekürte Erich-Ponto-Preisträgerin Sonja Beißwenger, deren Elzbieta sich von einer in Betrachteraugen fast zwielichtigen Figur in einem fulminanten Monolog zur wahrhaften Muse des B.C. emanzipiert.

Die Schilderung des Mit-Leidens des C., als er ´89 nicht dabei sein kann, in Leipzig, Plauen und anderswo, und wie er schließlich wie so viele Intellektuelle vom weiteren Ablauf der Ereignisse mehr und mehr enttäuscht wird, gehört zu den besten Passagen des ohnehin starken Textes. Der Anpassungsdruck, dem er fortan unterliegt, lässt sich fast körperlich spüren. Er weigert sich, seine Sätze „von früher“ zu wiederholen, weil die heute etwas anderes bedeuten als damals. Der „Unrechtsstaat“ war ein legitimer Begriff vor der Wende, heute ist er zu undifferenziert. Aber das versteht die Medienwelt nicht. Als Kronzeuge ist er nicht mehr zu gebrauchen.
C. hat das Gefühl, er müsse seine Bücher umschreiben, die Wörter stimmen alle nicht mehr. Doch ehe er das ernsthaft beginnen kann, nimmt ein gnädiger Tod ihm die Schreibmaschine aus der Hand.
Wird der Ich-Erzähler seinen Faden aufnehmen? Man möchte es zu gern glauben.

Ingo Schulze hat diesen Text für das Staatsschauspiel Dresden wenn nicht geschrieben, so doch für die Bühne bearbeitet. Ein Geschenk zum Hundertsten, sozusagen. Nach „Adam und Evelyn“, das in der Inszenierung deutlich opulenter, aber nicht weniger packend war, ein neues Meisterwerk. Wir haben zu danken.
Die regionalen Besprechungen der Premiere waren dennoch nicht sehr freundlich, lediglich die Süddeutsche war begeistert. Und ich jetzt auch.