Kategorie: Betrachtungen
Hiddenseeer Elegien, Teil 6-einhalb: Vom Meer, zum Fluss
„Dat du min levsten büst“ … die Heimorgel von DB Regio kündigt Bergen auf Rügen an. Ganz nett, wenn man das nicht jeden Tag ertragen muss.
Rückfahrt. Fast schon erschütternd freundlich hat die Schaffnersche mir einen Fahrschein nach Dresden verkauft. Halb elf Uhr morgens, es hat schon siebenundzwanzig Grad. Im Schatten, klar. Ich schließe Wetten mit mir ab, wie die Zugkomposition des zu erklimmenden EC nach Brno diesmal drauf sein wird und hoffe, dass ich verliere.
Es hat sich einiges angesammelt am letzten Tage, dass einer schriftlichen Aufarbeitung bedarf. Aber das ist nicht der Ort dafür. Ein gekühltes Plätzchen mit Tisch, in der Nähe des Speisewagens … Träum weiter.
Exakt vor einer Woche minus einer Stunde erklomm ich die Fähre nach Hiddensee, der Kreis wird sich in Kürze also schließen. Selten hatte ich einen solch entspannten und zugleich eindrucksvollen Urlaub, nicht mal eine halbe Tagesreise von den heimischen Gefilden entfernt.
Nicht nur eigentlich war es hübsch im Norden. Auch, weil ich genug Grund fand, mich über irgendwas aufzuregen. Das ist gut für den Blutdruck und gegen Verkalkung. Und überhaupt: In dreißig Jahren sehe ich mich vor der Seniorenresidenz sitzen und allen mit dem Krückstock drohen. Das ist meine Bestimmung.
Und nochmal eigentlich sollten es ja sieben Teile der Elegien werden. Der Plan wäre – mit den noch zu verzapfenden Aufarbeitungen – also übererfüllt, doch will ich nicht die Normen brechen. Also nochmal ein Einschub.
Ich verlasse somit das Meer und begebe mich zum Fluss. Panta rhei.
Hiddenseeer Elegien, Teil 6: Von nicht mehr
Abschied auf Raten. Nein, nicht von Rathen, von Hiddensee. Bzw. von Hiddensee ganz, von der Ostsee wie geschrieben auf Rathen. Nein, auf Raten, in Saßnitz, auf Rügen.
Wie ich dahin kam? Sag ich nicht. Wer es wissen will, soll doch bei der NSA anrufen. Von mir erfährt man nichts.
Jedenfalls bin ich jetzt, Freitag morgen um neun Uhr in den Saßnitzer Banlieus, nachdem ich gestern noch einen scheidenden Kontrollgang nach Grieben durchführte, alles wohl befand, mich auf eine Seefahrt (weder lustig noch traurig) mit den Walroßbärten und –bäuchen der Reederei Hiddensee begab, überlegte, wie „Mann über Bord“ wohl gendergerecht heißen möge, glücklich auf einer Insel anlangte, die man im Vergleich zur verlassenen fast schon Festland nennen könnte, eine Nostalgietour durch Südostrügen absolvierte, den Südpol erreichte, ein wunderbares Meerbad (gar nicht kalt und brett-eben, das Gewässer) nahm, der Baaber „Aalkate“ meine Aufwartung machte, eine wirklich feine Brücke im Saßnitzer Hafen bewunderte, beim Städtchen Abbitte leistete ob meiner herabsetzenden Äußerungen zur innerörtlichen Schönheit (aber das „Rügen-Hotel“ gehört wirklich gesprengt) und dann ziemlich todmüde ins Bette plumpste. Mehr war eigentlich nicht.
Und meine kruden Gedanken von unterwegs muss ich erst nochmal sortieren.
Deswegen: Schalten Sie auch morgen wieder ein!
Hiddenseeer Elegien, Teil 5: Vom Kotzenmüssen und -wollen
Ich leide heute unter meinen Kochversuchen. Dabei konnte man da nicht viel falsch machen, eigentlich: Zwiebeln, Rindswurst, Tomaten, Gewürze, und das braten. Aber dazu das Öl von den in der letzten Nacht verschlungenen Trockentomaten zu verwenden, war suboptimal. Nun plagt mich ein Schluckauf, und übel ist mir auch. Heute abend bleibt die Küche kalt.
Bei der Sichtung der digitalen Nachrichten zum sogenannten Frühstück stelle ich fest, dass Franziskus bald den Ehrennamen „van Almsick“ verliehen bekommen dürfte, so hemmungslos populär wie der grad tut. Muss ich jetzt auf ein liebgewonnenes Feindbild verzichten? Aber ich vertraue auf den Kirchenapparat, so „heiß“ (höhö!) wie das jetzt gesprochen wird, wird das in der nächsten Bulle nicht sein. Der Schweinkram unter Männern wird den hochamtlichen Segen nicht erhalten, eher kommt ein Päderast in den Himmel.
(Irre ich mich, oder ist die Kirche bei den Praktiken, die auf einer kleinen griechischen Insel perfektioniert wurden, duldsamer? Na gut, die Frau spielt im Christentum eh nicht so eine große Rolle, wenn sie nicht als Muttergottes daherkommt, hat also ihre Nische sicher.)
Heide graut’s mir mal beim Ausflug. Ja, Schenkelklopfer, Heidekraut. So weit das Auge reicht.
„Es war die Eule, nicht der Kuckuck!“ Auch das ist geklaut, zum einen bei Shakespeare, zum anderen bei Sasha Krieger, der so ähnlich eine seiner lesenswerten Rezensionen überschrieb. Erneut „Na und?“. Eigentum ist Diebstahl, geistiges sowieso, wenn es nicht gerade um meines geht.
Was ich damit beschreiben wollte, war auch nur die Eule am Eingang zum Naturschutzgebiet. Der Witz überrascht durch seine geringe Fallhöhe.
„Vorsicht Kreuzottern!“, ein Schild mit dieser Botschaft ziert ein Grundstück, das ich passiere. Der Besitzer muss Psychologe sein und/oder in der Werbebranche arbeiten. Die Aussage und Wirkung ist dieselbe wie bei „Betreten verboten!“, aber es klingt ungleich freundlicher.
Es geht ein Wind, ein heftiger, und der macht mächtig Wellen. Aber das Wasser ist deutlich wärmer als am Wochenende, oder ich bin inzwischen männlicher geworden. Ein Vergnügen, die Heldenbrust den rauen Naturgewalten darzubieten und von jenen ordentlich auf die Fresse zu bekommen. Ich kann nicht genug kriegen.
Apropos Masochismus: Später am Tage ziehe ich mir in einer schwachen Stunde das MDR-Fernsehen rein. Manchmal muss ich das haben. Es ist so bräsig wie eh und je, am Leipziger Flughafen werden Autos gestohlen, oje-oje-ojemine, der rüstige Rentner vermisst seinen Geländewagen. Mögen doch wieder mehr Reissäcke umfallen in China.
Es wird auch halb acht nicht besser, Tendenzfernsehen. Die Anhalter Regierung setzt jetzt voll auf Transparenz, wer für die IGB arbeitet, darf nicht mehr an von jener begünstigten Firmen beteiligt sein oder muss dies zumindest angeben vorher. Und vielleicht auch was abgeben … Haben die nie was von Compliance gehört? Sagenhaft.
Der erste fernsehjournalistische Grundsatz (ohne Krawatte = Sport) gilt immer noch, und der Selbstverteidigungsminister sieht aus wie ein trauriger Dackel. Den Spitznamen „Die Misere“ kann er jetzt getrost von seinem glücklosen Verwandten übernehmen.
Aber zurück ans Wasser. Ein Tiefflieger passiert den Strand und macht uns deutlich, dass welche aufpassen, auf Friedenswacht sind, während wir Zivilisten feige Urlaub machen. Erwähnte ich schon, dass auch ich Soldaten für Mörder halte? Zumindest für potentielle?
Noch was unter Männern: Freunde, wenn ihr ein T-Shirt am Strand tragt, ist das ok. Auch gegen einen Rucksack ist nichts einzuwenden beim Flanieren. Aber bitte, dann verpackt euer Gemächt. Es gibt kaum etwas Peinlicheres als einen Mann unten ohne, mit freier Hängung in der Öffentlichkeit. Ich weiß, das ist ein freies Land, aber es gibt auch Grenzen.
Bei Damen würde ich den Einzelfall prüfen wollen, aber die kommen eh nicht auf solche kruden Ideen.
Nicht nur ich werde darob zornig, auch der diensthabende Wettergott. Und nun wird es richtig beeindruckend. Erst dunkel, dann finster, dann Schluss mit lustig. Die weichen Eier um mich herum flüchten in Scharen, obwohl das Wasser im Prinzip dasselbe ist, was nun von oben statt von unten kommt.
Auch ich trete den Rückzug an, jedoch geordnet und in Würde, was mir einige schöne Fotografien beschert, aber auch ein klatschnasses Hemdchen. (Ja, ich hatte eine Badehose an.) Eine halbe Stunde später lächelt der Himmel unschuldig, als wär nichts gewesen.
Auf meiner in alle Richtungen offenen Abneigungsskala nehme ich anlässlich meines Hafenbesuchs dann eine weitere Spezies auf: Die In-Einem-Fisch-Imbiss Curry-Wurst-Fresser. Hier kann man mit hoher Sicherheit von einer fortgeschrittenen Verblödung ausgehen.
Der von mir georderte Rotbarsch schmeckt aber auch nicht, obwohl ich parteipolitisch großzügig bin.
Dann besagte schwache Stunde, ich musste putzen und auf Figaro kam Wagner live. Aber ohne Bild fetzt das nicht, es kam also zu meiner Begegnung mit dem MDR-Fernsehen.
Mein letzter Abend auf der Insel, Godewind zieht, u.a. mit dem W-LAN. Aber auch das Bier ist gut, vor allem wenn man weiß, dass das „Hiddenseer“ in der Oberlausitz gebraut wird. Noch ein weiterer väterlicher Rat sei mir gestattet: Auf einer im Prinzip autofreien Insel wirkt es etwas komisch, wenn man den Porsche-Schlüssel effektvoll auf den Kneipentisch knallen lässt. Sogar sehr blonde Damen verstehen dies als Imponiergehabe. Wobei, vielleicht schlägt es ja trotzdem an, keine Ahnung, ich hab kein Auto. Nicht mal einen Porsche.
Apropos reich und schön: So oft, wie ich auf meinen diversen Kanälen in den letzten Tagen „Meine Insel“ lesen konnte, scheine ich einem vielfachen Immobilienbetrug allergrößten Ausmaßes auf der Spur zu sein. Ich beantrage Akteneinsicht beim Grundbuchamt! Und gründe eine Selbsthilfegruppe! Denn viele jener, die sich als Inselbesitzer wähnen, dürften dort nicht mal im Kleingedruckten vorkommen.
Oder ist Hiddensee immer noch Volkseigentum? Das letzte seiner Art? Ich dachte eigentlich, dass Fräulein R. aus der Seminargruppe nebenan damals das letzte gewesen wäre … Aber ich irre mich auch gelegentlich.
Hiddenseeer Elegien, Teil 4: Von Höhenmetern und von Nichts
„Rrrrromantik!!!“ brüllt im Geiste Sven Regener neben mir und schwenkt seine Trompete. Ich stehe auf dem Hochuferweg, ein kleiner Austritt, 50 Meter unter mir das Meer, das ordnungsgemäß tost. Ich will Meer, immer Meer!
Heute bin ich ein Wandersmann. Zwar wollte ich meinem Vorsatz, kein Fahrrad auszuleihen, am Vormittag untreu werden, weil mich mein Geschwätz vom Vortag prinzipiell niemals nicht kümmert und der Bessin bei der glühenden Sonne doch etwas weit erschien, aber: Ausgebucht! Zumindest beim ersten Verleiher, und beim zweiten war der Hof auch leer. Da war ich dann beleidigt und nahm eine Zielanpassung vor: Dornbusch, ein schöner Wald oberhalb der Steilküste.
Zum Frühstück gab es Omelett. Ich bin bass erstaunt ob meiner Fähigkeiten und meines küchentechnischen Elans. Und Castorf gab es auch, auf nachtkritik.de, er lässt ja grad den Ring wandern in Bayreuth. Und dies sehr gut, wie zu lesen ist. Das würde ich mir gerne ansehen, also falls jemand eine Karte übrig hat … Ich nehm auch Loge.
Noch zwei wichtige Nachträge zum gastronomischen Vorabend:
In der Hotelkneipe, in der ich bislang allabendlich verkehrte („Godewind“, das kann gern mal geschrieben werden), gab es noch etwas, dass sich treffend nur mit „Oh alter Knaben Peinlichkeit“ umschreiben lässt. Vier ältere Herren machten auf Großsegler und Mädchenverderber, aber das durchweg hübsche und kompetente weibliche Personal um die Zwanzig ließ sie allesamt freundlich abtropfen, ob die Mädels nun aus Pommern oder der Slowakei kamen. Ganz großes Kino.
Und noch was, auf einmal hoben zwei Musiker an zu spielen. Sie seien die Vorhut einer größeren Band, die nach und nach hier eintrudeln würde, sagte der Leader. Dann gab es New Orleans – Jazz, der Gitarrist tat sich schwer mit dem Singen, aber der Trompeter war großartig. Und selbstverständlich war noch eine Sängerin im Saal, und selbstverständlich hatte sie Lust mitzutun, und selbstverständlich war sie gut … Ach Hiddensee.
What a night, auch ohne Telefonnummern auf der Kippenschachtel.
Ehe ich aufbreche, gab ich noch eine Wahlwette ab beim Spiegel, eher Wunsch als Wette, aber vielleicht ja selbsterfüllend. Und dann noch bad news von der Arbeitsfront, aber nach ein paarmal telefonieren war alles wieder gut. Los jetzt.
Der Dornbusch ist ein tiefer Mischwald, den man von außen gar nicht so wahrnimmt. Aber der Weg (der mit der Romantik) zieht und windet sich, doch man ist im Schatten und das ist gut so heute, liebe Genossinngenossen. Die Sonne feiert ihr Comeback.
Den Pfad erreicht man vom südlichen Kloster am besten über den Biologenweg, der nicht nur genderkorrekt eigentlich Biologinnenweg heißen müsste. Wohin ich auch blicke im weitläufigen Areal der Uni Greifswald, nur Damen sind zu sehen. Und auch das ist gut so, obgleich ich zur Erholung hier bin. Also ab in den Wald.
Eine meiner Lieblings-Äbb auf dem Eierfon ist die, wo man eingeben kann, was man grade tut, ob Laufen, Radfahren, Kriechen oder Fliegen, nur so als Beispiele. Mit Schwimmen stell ich mir das schwierig vor, und bei Tätigkeiten, die nicht mit Ortsveränderung zu tun haben, versagt das System völlig. Aber sonst ist es sehr drollig: Man bekommt am Ende der Tour alles ausgespuckt, was man gar nicht wissen will, Zeit, Weg, Durchschnittstempo, Höhenmeter und –profil, Kalorienverbrauch usw.. Man überwacht sich sozusagen selbst, was aus staatsbürgerlicher Sicht völlig in Ordnung ist, global gesehen allerdings Arbeitsplätze vernichtet. Da muss sich Herr Friedrich sicher bald nochmal entschuldigen in Amerika.
Das System weiß also, als ich wieder in Kloster bin, beim Fischer: 6,42 km bin ich gegangen, in 1 h 28 min, das macht peinliche 4,35 km/h, aber immerhin 578 Höhenmeter hab ich geschafft und dafür 539 kcal verbraucht. Diese nachzuladen, ist das geringste Problem.
Das Höhenprofil sieht aus wie das einer klassischen Alpenetappe, nur dass der Tourmalet hier 75 m über dem Meer ist. Aber wirklich hübsch das Ganze, und wenn mir der Anbieter dafür Geld zahlen würde, tät ich auch den Namen verraten.
Den Rest des Tages verbringe ich wieder mit Nichts. Nichts ist mir ans Herz gewachsen, sie ist eine charmante und kluge Begleitung, die immer weiß, worauf es gerade ankommt. Sie erzählt mir von sich, und ich ihr von ihr, auch wenn das nicht logisch klingt. Im Handumdrehen ist der Nachmittag vorbei.
Um nicht als zwanghaft zu gelten, kehre ich heute abend in Kloster ein, in der Stammkneipe vom letzten Mal, die auch am Kollwitz-Platz sein könnte. In Berlin wohlgemerkt. Die Gastro ist fest in europäischer Hand, zumindest was den Service angeht (die Kasse bewachen die Preußen), ein Blondton schöner als der andere, ach ja, Sommer. Erwähnte ich schon, dass ich zur Erholung …?
Man muss zwar zahlen für das W-Lan, aber was soll der Geiz? Was ich hier reinstecke, kann ich nicht mehr vertrinken. Das ist dann auch gut für den heute abend langen Heimweg.
Hiddenseeer Elegien, Teil 3: Von Mynheer Peeperkorn
(Thomas Mann, Zauberberg, klaro. Wir verstehen uns, wir Kulturbeutel.)
In seiner zweiten Lebenshälfte sah dieser Mann aus wie eine Kreuzung aus Goethe und Beethoven. Das ist zwar so ziemlich das Unwichtigste, was man über ihn sagen kann, aber er selbst legte da Wert darauf. Das Gesamtbild sollte stimmen.
Zumindest mein Gesamtbild stimmt morgens wieder, mein Körper entsinnt sich der Charakterzüge des Typen, der ihn bewohnt und bleibt bis Zehn liegen. Danach dann Frühstück vom selbstgemachten Buffet, mit Untermalung von nostalgischen Musik-TV-Sendern. Etwas debil ist das sicher, aber allein die Frisuren von Duran Duran sind es wert.
Eigentlich hatte ich gestern beschlossen, mir für die nun schon letzten drei Tage ein Fahrrad zu leihen, aber beim Frühstück nochmal drüber nachgedacht: Wozu mit einer Rostmähre rumärgern, die mir sowieso zwei Nummern zu klein ist? Das bißchen Insel schaff ich auch zu Fuß, und Gehen ist die vornehmste Art der Fortbewegung, hat mal ein großer Dichter gesagt. Ach nee, das war ja ich. Stimmt aber trotzdem.
Angenehme 22 Grad, ein ganz leichter Sprühregen, so marschiere ich frohgemut los. Einiges Neue gibt es doch zu bewundern im Dorf, das fünfte Malercafé hat eröffnet, es gibt einen Bolzplatz mit Kunstrasen (war das hier auch mal ein Hochwasserschadensgebiet?), der umzäunt ist. Sport ist hier offenbar nur denkbar, wenn ein Zaun drum herum ist.
Und es gibt jetzt einen Hubschrauberlandeplatz. Der wird sicher für den Wahlkampfbesuch von Frau Merkel und drei oder vier Mal im Jahr noch für andere Notfälle gebraucht, das Betreten ist aber ganzjährig verboten. So kenne ich mein deutsches Vaterland.
Ich gehe einem Mann besuchen, der sein Haus zwar nicht mehr direkt bewohnt, wo alles aber noch so ist wie vor achtzig Jahren. Fast alles, ein sehr hübscher Empfangspavillon ist dazugekommen, ein Kleinod, völlig reetfrei und unspektakulär dem Gelände angepasst. Gibt es hier keine Reet-Hisbollah? In Dresden wär dieser Bau in Barock auszuführen gewesen.
Das Sommerhaus von Gerhart Hauptmann, so, nun ist es raus, wird seit den Fünfzigern als Museum betrieben. Nett ist das, auch wenn man gleich mit dem Tode beginnt und jeder Hauptmann –Pups ehrfürchtig dokumentiert wird (seine Wandkrakeleien im Schlafzimmer z.B. hätte man dem geneigten Besucher ersparen sollen). Aber sehenswert, wie sich der König von Hiddensee nach dem Erwerb des Hauses 1930 einen großzügigen Anbau errichten ließ, als Schreibstube und Arbeitszimmer, unterkellert von viel Platz für Wein. Der Fußboden aus einer Art Marmor … Allererste Güte. Leisten konnte er sich das, hatte er doch reich geheiratet und nach dem Literaturnobelpreis 1912 wohl auch ausgesorgt. Auch interessant: Die Schlafzimmer des Ehepaares Hauptmann im Dachgeschoß, seines klein und spartanisch, ihres künstlerisch gestaltet, getrennt von einer türlosen Wand, nur eine kleine Durchreiche gab es. Keine Ahnung, was da durchgereicht wurde.
Ein König war er hier wirklich, der seit Jahrzehnten jeden Sommer wiederkehrte, ein Containerschiff voller Wein im Schlepptau. Das mussten auch Thomas und Katia Mann erleben, die ihn 1924 noch im Hotel „Haus am Meer“ besuchten. Das Duell Haupt- gegen Mann endete eindeutig, es konnte nur einen geben. Als dann noch ein Zickenkrieg zwischen den Damen ausbrach – Hauptmann hatte seine langjährige Geliebte Margarete dann doch geheiratet und ihr seinen vierten Sohn „geschenkt“, wie es in den bunten Blättern heißt – war der große Mann offenbar so pissed, dass er dem großen Hauptmann im Zauberberg ein zweifelhaftes Denkmal setzte, ebenjenen Mynheer Peeperkorn. Danach hing erstmal der Haussegen eine Weile schief im Dichterolymp, aber später vertrug man sich wieder, auch wenn sich sicher keiner der Herren zum Pack hätte zählen wollen.
Über das literarische Werk des Schlesiers kann man geteilter Meinung sein. Unter anderem „Die Weber“, „Die Ratten“, „Bahnwärter Thiel“ und (für mich persönlich die einfühlsamste Dreiecksstudie vor einem bürgerlichen Hintergrund, die ich kenne) „Einsame Menschen“ machen Hauptmann unsterblich. Aber seine beste Zeit hatte er vor seinem Fünfzigsten, nach dem Nobelpreis kam für mich nichts mehr, was dieses Niveau hielt. Und dabei produzierte er noch dreißig Jahre lang …
Es klingt zynisch, aber Schiller zählt auch deshalb zu den Großen, weil er gar keine Chance hatte, sein Erbe zu verschleudern. Und James Dean hätte bestimmt noch eine Menge schlechter Filme gemacht …
Auch ein anderer Makel würde heute nicht an Hauptmann kleben, wäre er – nur so als Idee – in den Zwanzigern vor seinem geliebten Hiddensee in der Ostsee ertrunken.
„Manch großer Geist blieb in ner Hure stecken“ hat Brecht sicher nicht mit Blick auf Hauptmann gedichtet, aber es passt. Nur, dass G. H. sich den Arsch des Führers aussuchte zum Steckenbleiben. Das sei schon ein faszinierender Mann, fand er. Da waren alte Freunde wie Alfred Kerr nicht so wichtig, und die Realität hatte draußen zu bleiben, er war schließlich Dichter. Und hatte Goethe sich nicht auch aus allem herausgehalten?
Aus Sicht der Psychoanalyse kann man das sicher behaupten: Hauptmann hatte einen Goethe-Komplex.
So überwinterte er im Tausendjährigen Reich und wäre – Ironie der Geschichte – fast noch zur Galionsfigur des „neuen Deutschland“ geworden, für das ihn Johannes der Erbrecher geworben hatte. Ein gnädiger Tod nahm ihn vom Feld, ehe er sich zum yogischen Fliegen bekennen konnte.
Von alledem berichtet das Museum: Von einem großen Dramatiker und (deutlich dezenter) von einem großen Arschloch.
Oh, ich wollte mich gar nicht ereifern, bin doch zur Erholung hier.
Und die Realität holt mich auch schnell wieder ein: Am Nebentisch des Fisch-Imbisses sitzt ein fettes Paar mit dickem Kind, das Pommes mit Currywurst frisst und es fertigbringt, in zwei Sätzen über Hauptmann drei Generalfehler unterzubringen.
Und im Radio singt ein Kraftklub, dass die Welt ein bißchen weniger Scheiße wäre, wenn sie ihn küsse … Die Ansprüche sind deutlich gesunken, seitdem ich in dem Alter war. Aber die „unruhevolle Jugend“ von damals hat heute ohnehin ADS.
Es regnet stärker, als ich zurückwandere. English Summer Rain … schön ist es.
Ich betrete den Hubschrauberlandeplatz, sowas von verboten … Ein prickelnder Schauer überzieht meine Haut.
Hiddenseeer Elegien, Teil 2: Von frühen Vögeln und faulen Nachmittagen
Sonntag morgen. Sechsuhrdreißig. Ich muss dreimal auf den Wecker schauen, ehe ich es glaube. Eine unnatürliche Stille hat mich geweckt. Wo sind die marodierenden JunggesellInnenabschiede auf dem Heimweg, wo die Naahmo-Fans, die sich allnächtlich ohne Gegner als besonders tapfer und lautstark erweisen? Nichts dergleichen, nur ohrenbetäubende Stille. Das muss einen ja nervös machen.
Es hat des Nachts geregnet, ich musste noch im Feuchten heimtapsen, nicht schlimm, nur meine blütenweiße Leinenhose ist nun mit Schlamm verziert. So lange es nicht die Weste ist …
Aber jetzt scheint die Sonne, und ich habe so eine Ahnung, dass sie das nicht mehr oft tun wird in den nächsten Tagen. Also raus, Bruder, zur Sonne, zur Freizeit.
Das heißt, zuerst zum Hafen. Dort geht um 6.50 Uhr das Schiff nach Stralsund, was schon zu den größeren Ereignissen hier zählt. Zwei Dutzend Passagiere, ein paar Winkewinkemenschen, erst einmal kurz, dann dreimal kurz, weg ist der Kahn.
Ich drehe eine Runde durchs Dorf, vorbei an der „Ostseebad Wustrow“, ein Dampfer, auf dem schon lange keine Musik mehr spielt. Auch Vitte hat einen Schiffsfriedhof. Der letzte Versuch, das Boot zu beleben, ist mit „Bar Blue Mayday“ an der Bordwand noch nachzulesen. Ich halte kurz inne und gedenke eines Lokals ähnlichen Namens in meiner Heimatgemeinde, dem ein solches Schicksal erspart bleiben möge.
Der Bäcker hat seit Sieben offen, zwei uniformierte Damen verkaufen mechanisch, schnell und präzise ihr Backwerk, so dass auch die ladenlange Schlange an Schrecken verliert. Erstes (selbstbereitetes) Frühstück auf der Insel um 7.45 Uhr, irgendetwas stimmt hier nicht. Diese sonntägliche Uhrzeit kenne ich sonst nur von der anderen Seite der Nacht.
Auf einmal regnet es. Nicht schlimm, aber er reicht, um mich nochmal ins Bett kriechen zu lassen. Das Räucherfischfrühstück muss schließlich verdaut werden.
High Noon am Strand, aber keine Bösen weit und breit. Ich habe mir ein Körbchen gesucht und mich zur vorläufigen Ruhe gebettet. Ganz schön anstrengend, dieses Nichtstun.
„Wunderschöne Leiber, tonnenschwere Weiber“, auch wenn sich diese Zeile auf Warnemünde bezog, sie stimmt auch hier. Ich ignoriere beides und sinniere schriftlich. (Achtung, werte Damen, dieser Teil des Textes wird nackt geschrieben. Soviel Erotik muss sein.)
Meister Putin hätte hier wenig Urlaubsfreude, und die Ayatollahs aller Religionen auch nicht. Viele schwule Pärchen sind unterwegs, das ist mir nicht unsympathisch, vor allem, weil die in dem ohnehin schmalen Segment der alleinreisenden Damen als Mitbewerber ausfallen. Reine Theorie, ich bin zur Erholung hier.
Zum Glück kennt man hier keine Unterscheidung zwischen Textil- und sonstigen Stränden, nur Hunde müssen draußen bleiben. Ich kann also meine Badehose schonen, gut so.
Was mir immer wieder auffällt bei den Gängen über die Insel: Es gibt reichlich halbverfallene Häuschen und auch noch genug Brachen hier. Auf Sylt könnte ich mir das nicht vorstellen. Hiddensee ist und bleibt eine Insel des Ostens, mit leicht vergammeltem Charme, dafür umso reizender.
Meine präsenile Bettflucht von heute morgen macht mir Gedanken. Eigentlich habe ich eine klare Vereinbarung mit meinem Körper: Ich bestimme, wann wir zu Bett gehen, und er, wann wir aufstehen. Das funktioniert meist ganz gut, auch wenn meinem Körper berufliche Verpflichtungen relativ egal sind. Wenn das aber jetzt zur Regel wird, dass er um 6.30 Uhr den Betrieb aufnimmt, muss ich künftig mit vier Stunden Schönheitsschlaf auskommen. Oder mein Leben ändern. (OK, das war ein Scherz.)
Warten wir mal was morgen ist, ich kenne den Schlawiner. Sowas hält meist nicht lange an.
Irgendwie hab ich immer noch keine Lust auf ernsthafte Arbeit. Aber das Protokoll dieser blöden TelKo muss noch geschrieben werden, und meine Kollegen brauchen auch noch ein paar leitende Verfügungen für die Woche ohne mich. Schweren Herzens wechsele ich die Datei.
Irgendwie geht es dann doch. Der Seesand knirscht, wenn ich auf die Tasten haue, mein Stirnschweiß tropft auf den Bildschirm, aber nach einer guten Stunde ist das Zeug fertig. Mein schattiges Nickerchen hab ich mir verdient, ich rolle mich ins Körbchen ein.
Der Nachmittag vergeht nach dem Aufwachen nur langsam, ich pendele öfter zwischen Strand und Wohnung, sind ja nur fünf Minuten. Mal hab ich die Sonnencreme vergessen, mal will ich was zu essen holen, mal muss ich mal. Aber irgendwie ist das alles nicht so prickelnd, ich bin wohl doch nicht der Strandtyp. Aber was zu lesen hab ich auch keine Lust. Also mache ich mal was ich will: Nichts.
Ein selbstbereiteter Höhepunkt im Strandkorb wartet aber noch auf mich (nun wieder in Textilien): Der Verzehr eines Tomatensalates an Brot im Dialog mit Ostsee. Selbstgemacht! Diese Insel hat einen seltsamen Einfluss.
Den Abend verbringe ich im selben Lokal wie gestern, W-Lan ist echt ein Argument. Ich beobachte lautstarke Großfamilien und mindestens drei Urlaubs-Ehepaare, die sich tapfer anschweigen den ganzen Abend. Idyllisch.
Pünktlich zum Dunkelwerden beginnt es wieder zu regnen, die Terrasse entleert sich nach drinnen, es wird eng. Aber ich habe strategisch klug schon längst einen Barhocker erklommen und behalte die Übersicht.
Der frühe Vogel hat sich den lazy Sunday afternoon verdient. Schön wars.
Hiddenseeer Elegien, Teil 1
Teil 1: Vom Doch-noch-irgendwie-ankommen
Ja, ok, der Titel ist geklaut, von Brecht. Na und? Schließlich hat der Meister selber auch geklaut. Und ist schon lange tot. Also was soll‘s, ich nehm ihm ja nichts weg.
Dass die drei „e“ irgendwie putzig wirken, weiß ich auch selber. Nochmal na und. Sieht hübsch aus, und bei Seeed stört es ja auch keinen.
Und dass die Chose jetzt häppchenweise daherkommt, habt ihr einem wohlmeinenden Rat zu verdanken, der die Länge meiner „Marseillaise“ bekrittelte. So viel auf einmal würde heute keiner mehr lesen. Eigentlich zum dritten Mal na und, wer liest denn heute überhaupt noch? Aber ich will mich lernfähig geben. Also:
Freitag, 12.41 Uhr.
In dreiundzwanzig Minuten fährt mein Zug vom Hauptbahnhof. Aber die Telefonkonferenz („TelKo“, wie man zackig im Mänädschment sagt) mit dem Auftraggeber, die ich moderiere, hat eine Stunde später begonnen, und trotz meiner klaren Ansage, dass um halb Eins für mich Sense wäre, quatschen sich alle den Belag von den Zähnen. So geht das aber nicht! Was ist das Wohlwollen des – zugegebenermaßen derzeit wichtigsten – Auftraggebers gegen das Risiko, die letzte Fähre nach Hiddensee zu verpassen? Genau. Nix.
Mehr bestimmt als höflich würge ich also den Redefluss der anderen ab, verweise auf die in Bälde kommende Niederschrift, wünsche noch ein vergnügtes Wochenende, brülle „Taxi!“ ins Sekretariat, brülle „Bitte!“ hinterher, raffe meinen Arbeitskram zusammen, Rechner, Akten und Pipapo, stopfe alles in den Großrollkoffer und ab geht es, ein flüchtiges Winken für die Sekretärin noch. Man muss Prioritäten setzen.
Im Taxi kann ich durchatmen. Noch zwölf Minuten. Ich appe meinen Zug und … siehe da, 30 Minuten Verspätung. Das ist nicht überraschend, aber ärgerlich, der Puffer in Stralsund ist knapp. Na gut, ich tröste mich erstmal mit Kaffee und Brötchen und der Hoffnung, dass er das schon noch ein bisschen aufholen werde, mein Euro-City.
Den Gedanken, dass ich hätte dann doch noch länger konferieren können, lass ich gar nicht erst an mich ran. Hat mir eh schon die Laune verdorben, diese Laberei.
Der Bahnsteig ist gut gefüllt, der dann mit einer Dreiviertelstunde „Plus“ eintreffende Zug nicht minder. Mal wieder zeigt sich, dass die Bahn (zumindest jene in der Frankfurter Stephensonstraße) nicht ahnt, dass eine der Haupt-Rucksack-Trekking-Routen durch Europa für Amis, Asiaten und Australier von Budapest über Wien und Prag nach Berlin führt. Und zwar per Bahn. Oder man ist zynisch genug zu sagen, dass diese Kunden ohnehin nie wiederkommen. In der Ferienzeit mischt sich das Ganze dann ab Dresden mit den an die Ostsee reisenden Sachsen, und der schmerzgrenztangierende Zweistundentakt wird dann gerne noch mit dem Ausfall eines oder mehrerer Wagen gekrönt. Kurz: Es herrscht drangvolle Enge.
Dennoch ist man erstaunlich gelassen, die Fremdlinge sind sicher nichts Besseres gewöhnt und verstehen das als Abenteuer, der Sachse hat lang schon resigniert und begreift sich als Beförderungsfall.
Ab Berlin („Southern Cross or Main Station?“) wird der Zug etwas leerer, aber nicht pünktlicher. Schwer bepackte Usedom- und Rügen-Reisende kommen hinzu, aber zumindest die Beinfreiheit wird etwas größer. Ich arbeite inzwischen an Plan B, immer wieder unterbrochen von Brandenburgischen Funklücken. Meine Fähre kann ich vergessen, die 25 Minuten Puffer sind inzwischen mehr als zweimal verfrühstückt. Leiste ich mir dekadent ein Wassertaxi? Nicht dass ich geizig wäre, aber für mich alleine ist mir das einfach peinlich.
Also eine Nacht in Stralsund? Die Stadt ist nett, und bißchen Nachtleben vor der großen Entspannung wär ja auch nicht schlecht.
Die von mir bemühten Suchmaschinen bieten die nächste Bleibe allerdings in etwa 50 km Entfernung an. Doch da ich nicht Golf spiele (und deshalb nach der bekannten Bauernregel zumindest gelegentlich noch Sex habe), kommt diese für mich nicht in Frage. Naja, wird schon. Ich vertraue auf das allgemeine Glück und meinen personengebundenen Charme, der sich zur Not dann auch in der örtlichen Disse beweisen muss. Urlaubsgerecht entspannt gehe ich auf eine Portion Goulasch/Knedlik in den tschechischen Speisewagen, der einzige Lichtblick in diesem Under-Performance-Festival der Deutschen Bahn.
Direkt am Bahnhof das Hotel „Am Bahnhof“. Ohne große Hoffnung frage ich nach, nur der Vollständigkeit halber, doch siehe, man erwartet zwar noch ein Paar für die Suite, gibt jenem aber nur noch eine halbe Stunde. Suite … Alleine ist das doof. Aber Parkbank ist auch doof, und das mit dem alleine … Naja, schaunmermal. Ich lasse meinen Koffer da, schlendere durch die Altstadt (und finde nirgendwo ein anderes Zimmerchen) und rufe zur vereinbarten Zeit an. Und siehe, „no show“, wie die Rechnung dann vermutlich heißen wird.
Die Suite ist so teuer wie geräumig, allerdings zum Bahnhofsvorplatz raus. Nett, aber mehr als Schlafen kann ich da eh nicht. Egal, don‘t look back in anger.
Eine Dusche später bin ich wieder taten- sowie durstig. Ab zum Hafen. Ich stelle meine Ernährung auf Fischbrötchen um, was bei der Menge an Sorten keine Einschränkung bedeutet. Direkt am Kai gibt es einen Doppel-Laden namens „Goldener Anker / Alte Werkstatt“, den kenn ich noch vom letzten Mal. Ein Konzept in etwa wie „Katy’s Garage“, nette Leute hinterm Tresen und zumindest am Wochenende zielgruppengerechte Tanzveranstaltungen. Ganz hübsch.
Aber heute ist nicht so mein Tag. Ich spüre Erschöpfung in mir, außerdem noch Ärger über die schlechtgelaufene Besprechung. Geordnet trete ich noch vor Mitternacht den Rückzug an und fühl mich am nächsten Morgen richtig ausgeschlafen.
Die Luft klebt schon wieder, als ich meinen Koffer zum Hafen rolle. Zum Glück weht dort ein Wind, und Schatten gibt es auch.
Dann die Überfahrt, einige der tapferen Sonnendeckpassagiere werden nachher sicher ziemlich Hacke sein, ganz ohne Bier. Hamse was gespart. Ich such mir ein schattiges Plätzchen und lass mich durchwehen.
Erste Bekannte tauchen auf: Das südliche Leuchtfeuer, das etwas gesichtslose Neuendorf, das Heidehotel, von Ferne grüßt der Leuchtturm, das vergammelte Hotelschiff in Vitte … Ich bin gerührt. Um 13.45 Uhr (planmäßig, liebe Bahn!) betritt mein Fuß den gelobten Boden.
Die Ferienwohnung ist überraschend hübsch und geräumig, ich hatte mich beim Namen „Piccolo“ eher auf den Hühnerstall des Vermieters eingestellt. Nach ausführlicher Belehrung zur Mülltrennung darf ich dann anbaden, keine 200 m bis zum Strand.
Ich brauche zwei Versuche, um meinen Alabasterkörper vollständig im Wasser zu versenken. Meine Fresse, ist das kalt! Der Kreislauf, meine alte Achillesferse, zeigt mir meine Grenzen. Aber ich war für Sekunden unter Wasser.
Shoppen fetzt, auch bei Edeka, wenn man eine großzügig ausgestattete Wohnung auf Zeit noch mit Verbrauchsmaterialien wie Bier und Tomaten ausstatten kann. Und dann noch Räucherfisch vom Hafen … Die erste Mahlzeit ist eher eine heilige Messe.
Das Radio in der Wohnung fängt zwar keine Sender ein, aber nach einigem Herumzappen finde ich einen TV-Sender, der Musik macht. Irgendwas mit „Deluxe“, kannte ich bisher nicht (woher auch?), ich scheine aber zur Zielgruppe zu gehören. Videos mit Geschmack, ohne die Aufgeregtheit von MTV & Co., das Richtige zum Nebenherplätschern.
Dann noch ein Versuch zu schwimmen, es ist ja grad mal Fünf. Aber diesmal ist schon an der Hüfte Schluss. So muss sich Querschnittslähmung anfühlen, ich fühle meinen Unterbau absterben. Ehe es bleibende Schäden gibt, flüchte ich.
Dann lieber den Strand entlang wandern, Richtung Kloster. Um nicht als klassischer Strandläufer zu gelten, zieh ich den Bauch nicht ein. Bin ja zur Erholung hier.
Der Ort Kloster tendiert unverändert, außer einem hoffnungsvollen Neubau in Entstehung sehe ich nichts, was ich nicht schon vorher sah. Das muss auch nicht sein, das Dorf ist gut so wie es ist.
Noch ein Bier am Hafen, bißchen Segler-Latein hören, dann wird es windig. Ich marschiere zurück, barfuß, klar. Wenn ich mein Gefühl für die nächsten Tage beschreiben müsste: Barfuß.
Von fahrlässig kann keine Rede sein
Die aktuellen Fakten zur Albertbrücken-Sanierung
Drei Tage ist es nun her, dass der Dresdner Stadtrat (mit einem Unentschieden) das laufende Projekt zur Sanierung der Albertbrücke gestoppt und eine Neuplanung mit durchgängiger Befahrbarkeit für den Kfz-Verkehr während der Bauzeit der Verwaltung aufgetragen hat. Meine heiße Wut hat sich in kalte verwandelt, und mit diesem Schwung will ich den Menschen außerhalb Dresdens erklären, was hier eigentlich los ist.
Die Albertbrücke, ein historisches Bauwerk mit Sandsteingewölben, verbindet seit 1877 die Dresdner Stadtteile Johannstadt und Neustadt. Sie quert dabei die Bundeswasserstraße Elbe und einen knapp hundert Meter breiten Überflutungsbereich. Eine grundhafte Sanierung hat sie nie erfahren, der letzte Prüfbericht wies die Zustandsklasse 4 (5 bedeutet einsturzgefährdet und sofort zu sperren) aus, wobei diese Note nur erteilt wurde, weil zum Zeitpunkt der Prüfung von einer Sanierung ab September 2013 ausgegangen wurde.
Die Erneuerung wird seit Jahren vorbereitet, wozu in 2011 auch eine Hilfsbrücke für Fußgänger und Radfahrer errichtet wurde. Die Fußwege des Bestandsbauwerks sind seitdem gesperrt. Dass auch diese Hilfsbrücke dank ihrer Billigstbauweise von Anfang an umstritten war, sei nur am Rande vermerkt. Interessant aber das Argument von damals, dass die Hilfsbrücke ja ohnehin nur zwei Jahre stehen solle. Diese sind inzwischen fast um, aber ein Nutzungsende ist nicht (mehr) absehbar.
Die planerisch fertiggestellte, ausgeschriebene und inzwischen vergabereife Variante des Baus sah vor, innerhalb einer 21monatigen Bauzeit die Brücke komplett für den Kfz-Verkehr zu sperren und lediglich die Straßenbahn eingleisig durch das Baufeld zu führen. Mit der vierstreifigen Carolabrücke und der zum Baubeginn in Betrieb befindlichen Waldschlösschenbrücke hätten dabei zwei leistungsfähige Umleitungstrassen für den Individualverkehr zur Verfügung gestanden.
Ende Mai 2013 zog Frau OB Orosz plötzlich den Planfeststellungsbeschluss zur Behelfsbrücke hervor und wollte daraus lesen, dass man die Albertbrücke gar nicht für den Kfz-Verkehr sperren dürfe. Was Frau Orosz von Beruf ist, weiß ich leider nicht, aber mit der Juristerei kann es nicht zu tun haben. Nach einigen Tagen verschwand das Thema wieder von der Bildfläche, aus heutiger Sicht muss man den Vorstoß als versuchten Bluff bezeichnen.
Doch man (eine informelle Koalition aus FDP, CDU und anderen Autorechtsaktivisten) hielt am Ziel fest, das Projekt zu kippen und besann sich seiner Machtmittel. Ein ersten Vorstoß im Stadtrat konnte noch knapp abgewehrt werden, woraufhin Frau Orosz ihr Veto einlegte und eine Neuabstimmung erzwang. Dabei fiel nun ein „freier Wähler“ (Franz-Josef Fischer, man muss sich den Namen aber nicht merken) um, damit wieder Unentschieden, diesmal aber zugunsten Zastrow (FDP-Bundesvize, MdL und Stadtrat) & Co..
Es wird nun also nicht gebaut ab September, es ist neu zu planen. Die geschlossenen Verträge für Bauüberwachung, Bauoberleitung und diverse Nebengewerke sind aufzulösen, die Bau-Ausschreibung ist aufzuheben (die bietenden Firmen haben laut Vergaberecht Anspruch auf Ersatz ihrer Kosten) und irgendwann neu zu veröffentlichen. Mit viel Glück verzögert sich der Baustart nur um ein Jahr, allerdings dauert das Ganze dann auch nochmal mindestens sieben Monate länger.
Das Straßen- und Tiefbauamt hat nun das Problembauwerk noch ein weiteres Jahr in der Unterhaltslast und freut sich sicher schon auf den nächsten Winter. Um die Verkehrssicherungspflicht auf und (vor allem) unter der Brücke beneide ich niemanden.
Das Hauptargument neben der „unzumutbaren“ Straßensperrung waren bislang immer die Kosten. Nach den aktuellen Zahlen betragen die Baukosten in der „Straßenbahnvariante“ 25,4 Mio. Euro, bei der „Auto-Variante“ hingegen 28,7 Mio. Euro. Ja, man liest richtig, die zweite Variante ist 3,3 Mio. Euro teuerer.
Spinnen die, die Dresdner? Nicht, wenn man einer sehr speziellen Haushaltslogik folgt: Für die „Auto-Variante“ hat das FDP-geführte Wirtschafts- und Verkehrsministerium des Freistaats 90% Förderung „“in Aussicht gestellt“, für die andere lediglich 75%. Unabhängig davon, wie verbindlich diese Ankündigung sein mag (es existiert m.W. nicht mal ein Schreiben des SMWAV dazu) und wie sich die Mehrheitsverhältnisse Ende 2014 im Landtag gestalten, hat man offenbar zum Taschenrechner gegriffen und ausgerechnet, dass die Landeshauptstadt (!) Dresden einen um 3,5 Mio. Euro geringeren Eigenanteil tragen müsse, wenn man autogerecht baut.
Zwar ist es seit Jahrhunderten Tradition in Sachsen, dass in Chemnitz erarbeitet, in Leipzig gehandelt und in Dresden verprasst wird, aber muss man das denn so deutlich zeigen? Nein, die „ersparten“ 3,5 Mio. fallen nicht vom Himmel, sondern kommen aus dem Haushalt des Freistaats, der von seinem Steuervolk (übrigens auch dem Dresdner) gespeist wird, neben den Transferleistungen u.a. aus wirtschaftlich so starken Regionen wie dem Ruhrgebiet oder Nordhessen.
Wie schamlos muss man sein, das seinem Wahlvolk als kluge Politik zu verkaufen? Besitzen die Damen und Herren ein Grundgesetz? Und haben sie es auch gelesen? Und waren sie bei ihrem Amtseid auch geistig anwesend?
Nochmal im Klartext: Die LH Dresden greift unter Beihilfe eines FDP-Ministers (Sven Morlok, auch das lohnt nicht zu merken) tief ins sächsische Steuersäckel und entzieht dem Gemeinwesen aus wahltaktischen Gründen dreieinhalb Millionen Euro. Nicht anders kann man die Motivation bezeichnen, nachdem sich Zastrow et al. derart weit hinauslehnten im Vorfeld, dass die CDU sie nicht mehr fallenlassen konnte und wollte. De facto werden Stadt und Land also von einer kleinen Gruppe bekennender Egoisten regiert, deren Stimmen für den Machterhalt der CDU zu wichtig sind, als ihnen solche kleinen Wünsche abzuschlagen.
Nach der Klatsche im Pfarrer-König-Prozess hätte die Staatsanwaltschaft hier eine gute Gelegenheit, verlorene Reputation zurückzugewinnen und zu beweisen, dass der Freistaat Sachsen keine Bananenrepublik ist.
Aber wie geht es nun weiter?
• Die beteiligten Ingenieurbüros freuen sich über einen lukrativen Anschlussauftrag und schreddern die alten Pläne.
• Die beauftragte Bauüberwachungsfirma lässt sich entschädigen.
• Der städtische Brückenmeister meldet einen Haushaltsmehrbedarf an oder lässt sich gleich pensionieren.
• Die Sächsische Bau GmbH, die Fa. Hentschke und andere schicken Rechnungen über verlorene Kalkulationsaufwendungen an die Stadt (wenn sie sich trauen).
• Die Kapitäne der „Weißen Flotte“ fahren nur noch mit Helm unter der Brücke durch, das (Bundes-) Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt stellt sich auf eine Vollsperrung der Elbe ein, Bundesverkehrsminister Ramsauer (oder wer immer dann im Amt sein wird) ist not amused.
• Falls auch die Straßenfahrbahn der Brücke gesperrt wird, bemerkt man mit Erstaunen, dass die benachbarten Brücken ohne Weiteres die Verkehrsmenge aufnehmen können.
• Nur die DVB hat dann die A-Karte, der Busnotverkehr kostet Millionen.
• Es wird eine umgehende Sanierung unter Totalsperrung angeordnet, die wegen der Beschleunigungskosten und einer in diesem Falle denkbaren freihändigen Vergabe am Ende mehr als 30 Mio. Euro kosten wird.
Selbst wenn nicht jeder dieser Punkte eintritt: Schon wenige davon reichen aus, um selbst den Pseudo-Vorteil für die Stadt Dresden hinfällig werden zu lassen. Und der Verlierer steht von vornherein fest: Die Gesellschaft.
Zur Untersetzung: Die DVB beziffert ihre Mehraufwendungen bislang mit 1,6 Mio. Euro, Geld, das im Rahmen der Querfinanzierung von den Technischen Werken Dresden kommen wird, einer 100%-Tochter der Stadt Dresden. In den Aufsichtsräten dieser Gesellschaften sitzen neben OB Orosz noch einige, die am Zustandekommen dieser Entscheidung beteiligt waren und sich nun fragen lassen müssen, ob sie sich nicht im Sinne des Aktiengesetzes strafbar gemacht haben. Aufsichtsräte sind dazu da, Schaden vom Unternehmen abzuwenden und nicht diesem in die Tasche zu greifen …
Der Landesrechnungshof des Freistaats Sachsen ist als akribische Prüfstelle bekannt, fast berüchtigt. Es ist zu hoffen, dass diese Vorgänge in Chemnitz nicht unbeobachtet bleiben.
Es fällt mir schwer, ein einigermaßen sachliches Fazit zu ziehen. Ein unglaublicher Vorgang ist zu konstatieren, der drastisch beleuchtet, wie die Regierungsparteien in Sachsen mit ihrer Verantwortung umgehen und dem Gemeinwohl schaden.
Von Fahrlässigkeit kann dabei keine Rede sein, ich plädiere auf Vorsatz.
Edward mit den Stasi-Fakten
Da hat man also den Morales vom Himmel geholt und einen halben Tag in Wien geparkt. Weil man annahm, dass er den aktuellen Staatsfeind Nummer 1 des freiesten Landes der Welt ins Latinum schmuggeln wollte.
Früher hätte sowas den dritten Weltkrieg ausgelöst. Eine Präsidentenmaschine ist ja sowas von tabu, selbst im Krieg wär das bisher kaum denkbar gewesen … Aber die Latinos haben zum Glück genug eigene Sorgen und werden es wohl bei verbalen Gegenschlägen belassen.
Doch im Prinzip kann man die UN jetzt auch auflösen, wenn selbst die simpelsten diplomatischen Spielregeln Verfügungsmasse sind.
Man fragt sich allerdings, woher dieser Kadavergehorsam in Europa wohl kommt. Sogenannte „sozialistische“ Regierungen sind übrigens auch darunter, was immer das Wort auch konkret bedeuten mag.
Man macht Männchen trotz dieser Bloßstellung, dass die NSA in den Innereien ihrer Bürger rumgräbt. Angst, Snowden könnte den Rest auch noch verraten? Dass man weggeschaut hat, gegen ein paar Krümel vom Spitzeltisch, an die man sonst legal nicht käme?
Ich fürchte ja.
Es ist eine Schande. Westeuropa fällt bereitwillig um, eine hochgezogene Augenbraue in Washington bewirkt, dass man willfährig alles befolgt, was big brother diktiert. Der Asylantrag wird natürlich nach rechtsstaatlichen Kriterien geprüft, aber nach politischen Erwägungen abgelehnt. Formfehler, klar. Und nicht zuständig, er ist ja gar nicht in unserem Hoheitsgebiet. Und einen Pass hat er auch nicht mehr. Gibt es den überhaupt meldetechnisch noch? Das muss doch erstmal geklärt werden! Da könnte ja jeder kommen!
Man kann bei weitem nicht so viel fressen wie man kotzen muss.
Obwohl, Asyl in Deutschland? Ich würde abraten.
Bei der Schnarchnasigkeit der hiesigen Dienste möchte man ihm das nicht wünschen, bei einem Partner dritter Klasse schickt Uncle Sam schnell mal die Navy Seals. Edward wäre schneller wieder zuhause bei seinen Lieben, als Westerwelle einen scharfen Protest formulieren könnte.
Aber was bleiben Edward Snowden jetzt noch für Möglichkeiten?
Erstens, obwohl von ihm schon mal abgelehnt: Ein langes Leben von Putins Gnaden, der ihn dann immer mal hochhalten könnte, wenn es Meinungsverschiedenheiten über den Atlantik gibt. Da wäre doch noch was zu enthüllen? Nicht gerade ehrenvoll, aber immerhin eine halbwegs sichere Perspektive.
Zweitens, falls es doch mal eine Lücke im Luftraum gibt: Eine Art von Maskottchen eines linken Volkstribuns in Südamerika, mit ein bisschen Heldenglanz, aber mit fraglicher Zukunft. Kommt ja oft mal anders dort. Und die CIA braucht auch Erfolgserlebnisse.
Eine dritte Variante sehe ich nicht. Untertauchen, neue Identität? Kaum realistisch.
Man muss sich das mal vorstellen: Das Leben von Edward Snowden ist mit dreißig Jahren im Prinzip zu Ende. Die Hottest Kartoffel of the World, oberschurkig der Staat, der ihn aufnimmt, dem Untergang geweiht, da finden wir schon was.
Edward wird nie wieder etwas Selbstbestimmtes tun können, wenn er Glück hat, ist sein Käfig vergoldet. Er hat für den Dienst, den er der globalen Gesellschaft erbracht hat, einen hohen Preis gezahlt. Ihm gebührt höchster Respekt, und Mitgefühl.
Zur Rolle der Bürgerbühne
Einige Gedanken nach meiner ersten Saison
Ich gebe zu, ich bin direkt betroffen. Zwiefach, als langjährig begeisterter Theatergänger und seit November 2012 als glücklich ausgewählter Darsteller in einer Bürgerbühnenproduktion. Und damit befangen? Das wertet meine Meinung eher auf, denke ich. Schließlich hab ich nun beide Perspektiven.
Die Bürgerbühne ist natürlich kein Theater im klassischen Sinne. Sie ist vielleicht auch ein wenig dem Zeitgeist geschuldet, Partizipation ist chic im Moment.
Die entscheidende Frage ist aber: Was kann sie, was klassische Theaterformen nicht können?
Sie bringt Sichtweisen hinein, die aus dem „realen Leben“ resultieren (ohne zu vergessen, dass auch das Theaterleben wirklich ist). Und sie erschließt dem Theater idealerweise neue Zuschauerkreise, die sonst nie im Saal säßen.
Im ungünstigen Fall würde sie jedoch Produktionen ersetzen, die eigentlich mit (freien) Profis gemacht werden sollten und trüge damit zur Verschlechterung deren Situation bei.
Es sollte deshalb immer einen triftigen und genau beschreibbaren Grund geben, eine Produktion ausgerechnet mit Laien zu machen. Niemand kann an einer Dreigroschenoper Interesse haben, die klassisch inszeniert wird, wo sich aber Laien auf der Bühne tummeln. Das bringt keinen Erkenntnisgewinn, und man täte den Darstellern dabei keinen Gefallen.
Die „Jungfrau von Orleans“ in Dresden ist in diesem Sinne ein Grenzfall. Durch die Jugendlichkeit der Spieler und eine für sie angepasste Bühnenfassung war dies dennoch einer der Höhepunkte der diesjährigen Bürgerbühnensaison.
Die Kernkompetenz der Bürgerbühne ist jedoch m. E. etwas anderes: Die Stück-Entwicklung mit authentischen Menschen aus dem Alltag „da draußen“, die etwas zu erzählen haben, und die Schaffung eines tragfähigen Rahmens dafür. Zu Probenbeginn existiert dabei allerhöchstens ein grobes Konzept für den Inhalt, der rote Faden muss erst noch ausgerollt werden. „Ja, ich will“, „Cash“ und der „Arme Tor“ sind dabei ideale Beispiele.
Der Ablauf der Stückentstehung, diese Mischung aus Improvisieren, Vertiefen und Verwerfen, die harte Arbeit an Text und Form ist übrigens aus meiner Sicht für die Mitwirkenden noch spannender als das spätere Rampenlicht. Man ist über ein Vierteljahr Bestandteil eines kreativen künstlerischen Prozesses, wer hat das im Alltag sonst schon?
Ein besonderer Aspekt sind dabei die zahlreichen Clubs der Bürgerbühne, deren wöchentliche Arbeit mit einer oder zwei Aufführungen beim Clubfestival den Höhepunkt findet. Hier ist der Weg noch mehr das Ziel.
Was mich persönlich immer wieder überrascht und fasziniert, ist das kreative und darstellerische Potential, dass aus dieser doch nur Halbmillionenstadt erwächst. Als hätten hier Hunderte nur darauf gewartet, wachgeküsst zu werden.
Die Bürgerbühne Dresden ist – nach dem vierten Jahr ihres Bestehens darf man das konstatieren – eine wirkliche Erfolgsgeschichte. Es bedurfte dazu einer grandiosen Idee und noch mehr des Mutes, diese umzusetzen, eine handlungsfähige Struktur dafür zu schaffen und diese auch mit den Mitteln auszustatten, um „richtiges“ Theater zu machen.
Dass die Stücke der Bürgerbühne gleichberechtigt auf dem Spielplan stehen und von Technik und Kostümerie genau wie die Großen betreut werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Und das ist wohl das eigentlich Revolutionäre am Dresdner Modell: die nahezu vollständige Integration dieser „Laienspieler“ ins Haus.
Aus heutiger Sicht (aber „aus heutiger Sicht“ gab es damals nicht) hätte das auch schiefgehen können: die Stücke Flops, verkopft oder Bauerntheater, die Kritiken vernichtend, das Interesse gering, das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Hätte alles passieren können.
Dass es nicht so kam, ist der harten und kreativen Arbeit der künstlerischen Leitung um Miriam Tscholl zu verdanken, und einem Intendanten Wilfried Schulz, der genug Mut und Vertrauen hatte.
Die Saat scheint nun auch bundes-, wenn nicht gar europaweit aufzugehen. Bereits im Januar 2013 gab es in Dresden eine hochspannende Tagung zum Modell Bürgerbühne, im November wird in Mannheim eine Art Folgeveranstaltung stattfinden. Immer mehr Theater probieren Formen der Zuschauer- bzw. Bürgerbeteiligung aus, auch wenn die Dresdner Dimension wohl nirgendwo erreicht werden wird.
Warum? Es fehlt an Geld.
Man muss sich natürlich im Klaren sein, dass auch im Kulturetat jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Gerade wenn dieser Etat immer weiter schrumpft (oder im Extremfall wie in Eilsleben gestrichen werden soll), muss die Frage gestellt werden, ob das knappe Geld nicht besser komplett jenen zugute kommen sollte, die das Theater als Beruf (und Berufung) betreiben und schlicht davon leben müssen und wollen. Ist der Kulturetat nicht zu schade dafür, die Freizeit von gewöhnlich mitten im Leben stehenden Menschen aufzupeppen?
Das wichtigste Argument dagegen: Das Theater ist nicht für das Theater da, sondern für die Gesellschaft. Und wenn es in dieser Gesellschaft das wahrnehmbare Bedürfnis gibt, sich selbst in irgendeiner Form theatralisch zu betätigen, muss die Institution Theater auch (!) diesem nachkommen.
Aber natürlich ist das in der Theorie leicht gesagt, die konkrete Ausgestaltung muss immer lokal bestimmt werden.
Es ist auch noch auf das Verhältnis der (staatlich alimentierten) Bürgerbühne zu den freien Theatern und den Laienspielgruppen der Stadt einzugehen. Vereinfachend gesagt, wird hier oft eine Wettbewerbsverzerrung in finanzieller und personeller Hinsicht beklagt. Ob die Bürgerbühne den anderen Theatern Fördermittel abgräbt, kann ich nicht beurteilen, dazu kenne ich die Strukturen zu wenig. Für die Rekrutierung von Darstellern ist es aber natürlich ein Problem, wenn ein derart attraktives und breites Alternativ-Angebot existiert. Und wer sich schon einmal im Amateurtheater betätigt hat, ist sicher froh, weder die Kulissen selber schieben noch die Eintrittskarten verkaufen zu müssen, von Marketing, Kostüm und Technik ganz zu schweigen.
Wird damit die Laienspielszene ausgetrocknet? Ich denke eher, nach einem Abschwung wird sie sich wieder aufrappeln und vielleicht über ganz neue Kräfte verfügen.
Denn das Prinzip der Bürgerbühne (auch wenn es gelegentlich durchbrochen wird) ist: „Jeder nur einmal“. Und selbst wenn es im Einzelfall schade ist, sollte man daran festhalten. Ein stehendes Ensemble aus sich fast wie Profis fühlenden Amateuren ist nicht Sinn der Sache. Die Bürgerbühne lebt von immer neuem Input aus dem wahren Leben, und ich kann nicht erkennen, dass dieser Strom abreißen würde.
Aber wo soll der nunmehr Infizierte nun hin mit seiner entdeckten Spiellust und -freude? Genau. Ich prophezeie, die Laientheater werden allgemein einen deutlichen Zufluss erfahren in den nächsten Jahren. Und dass die neuen Mitwirkenden dann vieles besser (zu) wissen (glauben) als die Etablierten, wird man schon aushalten.
Etwa 700 Menschen haben in diesen vier Jahren die verschiedenen Angebote der Bürgerbühne aktiv wahrgenommen, die Zuschauerzahl dürfte deutlich fünfstellig sein. Allein das wäre Grund genug, alle Beteiligten zu beglückwünschen.
„Mein“ Stück hat es übrigens in die nächste Saison geschafft. Also noch ein Jahr länger kann ich gelegentlich in diesen Mikrokosmos eintauchen, die ausgeklügelte Logistik von Vorstellungen und Proben bewundern, einen Blick der vielen schönen Schauspielerinnen erhaschen, mit der Technik ein Bier trinken nach der Vorstellung und mich ein bisschen zugehörig fühlen zu diesem wunderbaren, einzigartigen Konstrukt Theater.
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