Nicht Dürrenmatts Humor

DER BESUCH DER ALTEN DAME, inszeniert von Nicolai Sykosch, Premiere am Staatsschauspiel Dresden am 5. April 2024

So kann man das nicht machen, Herr Regisseur.

Friedrich Dürrenmatts Neo-Klassiker ist vieles, eine Fabel über die menschliche Gier, eine Abhandlung über Schuld und Sühne, ein Bericht über ein soziales Experiment, und ja, auch eine Komödie.

Aber, mit Verlaub, Herr Regisseur, keine der Art „ich lass meine Protagonisten am Anfang möglichst dämlich aussehen, da kommt der Spaß von ganz alleine“. Wenn man so gründlich falsch abbiegt wie vor der Pause, findet man im Normalfall den Weg nicht mehr zurück in eine dem Stück, dem Autor und auch dem Hause angemessene theatrale Form, da mögen sich einzelne Darsteller noch so abstrampeln, Herr Regisseur, es bleibt verhunzt und wird nicht mehr originell. 

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Mamma Medea

Von Einem, der auszog das Vlies zu holen, es auch irgendwie schaffte, dabei aber noch Eine mitbrachte, die sich dann doch mehr erhoffte, als der Eine letztlich leisten konnte, oder vielleicht auch wollte, weil es eigentlich gar nicht seine Idee war, sondern irgendwie so kam, daß die Eine zum Dank für die Hilfe und Rettung dann auch selbst erlöst werden wollte von der Barbarei oder der Provinz oder beidem und dem Einen so schnell keine Ausrede einfiel oder er das anfangs auch nicht überblickte, was draus werden könne, war ja auch nicht die hellste Kerze am Olivenbaum, aber das es dann so ungemütlich würde, wenn man später, wie es halt so Brauch war in der Zivilisation, die Eine gegen eine Andere aus der nächsten Generation eintauschen wollte, war ja nun wirklich nicht zu vermuten.

https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/mamma-medea/

Die theatralen Aspekte des Handballsports

Herr Mauke war Sport gucken

Dresden ist eine Sportstadt, sagt das kommunale Marketing gern. Dresden ist natürlich auch eine Kunst-, Kultur-, Barock-, Roland-Kaiser-, Einkaufs-, Auto-, Straßenbahn- sowie Pegida- und Schwurblerstadt, unter anderem, aber letzteres sagt das Marketing nicht so gerne.

Nun gibt es zwar einige Dutzend Kilometer elbabwärts noch eine Stadt, die sich mit diesem sportlichen Titel schmückt und auch sonst nicht viel mehr zu bieten hat, deshalb ist es ein bißchen gemein, das zu behaupten, aber im Haifischteich des regionalen Wettbewerbs werden vermutlich keine Gefangenen gemacht.

Begründet wird diese Zueignung unter anderem mit der Anwesenheit diverser Berufssport­vereine, z.B. erstrangigem Volleyball, drittklassigem Fußball und noch einigen anderen Sponsor-verwöhnten Gruppensportarten sowie damit, daß die Innenstadt gefühlt an jedem zweiten Wochenende der wärmeren Jahreshälfte mit Massenlaufveranstaltungen lahmgelegt wird. Nun ist die City dem Autor Mauke nicht so lieb, daß ihn das wirklich stören würde, aber es stürzt damit regelmäßig der städtische ÖPNV ins Chaos, und da hört der Spaß auf.

Handball gibt es auch in Dresden, und da Handball neulich auch reichlich im Fernsehen stattfand und Mauke in seiner zarten Jugend diesem edlen Sporte intensiv frönte, formte sich das alles zu einem wahrnehmbaren Verlangen, sich so etwas mal wieder in echt anzuschauen.

„Mal wieder“ meint dabei, solche Ereignisse bisher von der Auswechselbank oder gelegentlich von der Platte, wie wir Experten sagen, verfolgt zu haben, was zwar deutlich anstrengender, aber schon Jahrzehnte her ist, so daß der einhergehende Muskelkater inzwischen verflog. Das (erst aus späterer Sicht als wohlmeinend empfundene) Schicksal verwehrte dem Sportfreund Mauke das Erreichen irgendeines Kaders, die schon damals reichlich vorhandene Faulheit sperrte ihm den Weg ins richtige Leben frei. Aber das ist eine andere Geschichte.

Es begab sich also, daß am Freitag, dem 9. des Februars anno 2024 der hiesige Handballverein ein sog. „Pflichtspiel“ in der eigenen Halle austrug – wobei man sich fragen kann, ob hier nicht Pflicht und Willen (zum Broterwerb) Hand in Hand gehen, was eine angesichts der Sportart zwar naheliegende, aber trotzdem schräge Metapher ist. Gehen wir in der Folge mal davon aus, daß alle freiwillig dabei waren, nicht nur auf besagter Platte, sondern auch und vor allem auf den Tribünen.

Zweieinhalbtausend Menschen tummelten sich da, eine Zahl, für die das unweit gelegene Staatsschauspiel ein dreitägiges Christian-Friedel-Festival veranstalten müsste. Allerdings kamen die Menschen weniger des „Bildens und Besserns“ wegen, was im Theater ja generell stattfinden soll, sondern, um ihrer Mannschaft in der 2. Bundesliga bei der Arbeit zuzusehen.

Diese war gegen den ASV Hamm zu verrichten, der im vorigen Jahr noch eine Klasse weiter oben spielte, aber es müssen halt immer zwei absteigen. Wenn einen Verein dieses Los ereilt, fällt er entweder kadermäßig komplett auseinander oder berappelt sich sehr schnell, um wieder nach oben zu kommen. Für den ASV gilt letzteres, und so schwante dem Experten Mauke, daß dieser Dresdner Weg kein leichter werden würde, wie der deutsche Schlager singt.

Die ersten Schritte darauf wurden den heimischen Recken aber durchaus leicht gemacht. Mit einem Bohei, das an das Halbfinale der EM unlängst erinnerte, durften diese einzeln nacheinander das Parkett betreten, das obligatorische Kindchen aus dem Nachwuchs an der Hand, mit Getöse, Lichtershow und einem Conferencier, der sich kaum einbekam vor Glück, diesem Einmarsch beiwohnen zu dürfen. Wir im Publikum sollten auch alle die Nachnamen der Heroen rufen, und es gab wie in der Oper Obertitel dafür, so daß selbst Mauke dies hätte leisten können, wenn er denn gewollt hätte.

Im Unterschied zur Oper übrigens gibt es keine Publikums-Garderoben in der Sporthalle, was Zeit und Personal spart, aber irgendwie auch ungemütlich ist. Besagte Halle bytheway ist ein durchaus gelungener Sportbau, 2017 eröffnet und privat finanziert von einem lokalen Medizintechnik-Unternehmer, der dann sogar der Versuchung widerstand, seinen Namen dem Verein zu schenken, dessen Präsident er ist. Es gibt sie noch, die schönen Geschichten, und so spielt ein erst 2006 gegründeter Sportverein nun schon seit sieben Jahren stabil in der zweiten Liga und niemand sieht den sportlichen Geist resp. den Marktanteil in Gefahr. In anderen Sportarten mag das anders sein.

Zurück zum Bohei: Bei Mauke kam da bald der Verdacht auf, in einem Mehr-Sterne-Lokal zu weilen, mit einer stattlichen Reihe von Kellnernden im Fracke im Anmarsch, wo sich nach dem Lupfen der Tellerbedeckungen das raffinierte Gericht „Bockwurst an Senf im Dialog mit Brötchen“ zeigt. Ganz so groß war die Fallhöhe dann nicht, es wurde auch Kartoffelsalat gereicht und der Senf kam nicht nur aus Bautzen, um im Bilde zu bleiben, aber die maximale Eventisierung solcher Ereignisse geht ihm massiv auf den Wurfarm.

Zum Glück unterblieb das Absingen der Nationalhymne, aber der Einheizer war dennoch weiter sehr bewegt, dabei sein zu dürfen. Auf sein Geheiß hin sollten dann alle „Ha-Zeh“ rufen, und dann noch „Elbflorenz“. Ersteres hat Mauke nicht verstanden, und die zweite Wortschöpfung hängt ihm seit Jahren meilenweit zum Halse raus, so ausgenudelt wie sie ist. („Ausgenudelt“, „Florenz“, Italia, capito? Toller Witz.)

Dummerweise heißt der gastgebende Verein aber „HC Elbflorenz“, was an diesem Abend zu zahlreichen Wiederholungen der gefürchteten Vokabel führte. Natürlich ist das immer noch deutlich besser als „H.C. Strache“, aber „HC Medizin“ oder „HC Saegeling“ gängen doch auch und wären genauso leicht zu brüllen.

Apropos „brüllen“: Gebt kleinen Glatzköpfen kein Mikro in die Hand, die müssen alle was kompensieren!

Leider wurde diese Weisheit nicht beachtet, und so waren es nicht nur das halbe Dutzend Pauken und eine halbwegs ordentlich gespielte B-Trompete, die an den Nerven zerrten, sondern auch ein Schreihals mit unnötig verstärktem Organ.

Die Darsteller (es war übrigens eine reine Männerbesetzung wie zu Shakespeares Zeiten) waren das offenbar gewohnt und ließen sich in ihren Darbietungen nicht stören. Vor der Pause plätscherte das Geschehen munter vor sich hin, mal waren wie im richtigen Leben die Schwarzen vorn, mal die Roten und an die Wand gespielt wurde niemand. „Geschlossene Emsembleleistung“ nennt man das.

Man konnte sogar mittendrin Bier kaufen! Also nicht wirklich mittendrin, sondern nur an den Stirnseiten im ersten Rang, und es war auch nicht direkt Bier, sondern die Plörre aus Freiberg, aber immerhin. Da kann sich das Regietheater noch ein Scheibchen abschneiden.

In der Pause gab es Kleinkunst, ein älterer Herr wurde vom diensthabenden Brüllaffen angeschrien, daß er den 90. Geburtstag gehabt habe. Dann wurde den Sponsoren gehuldigt und um Spenden für einen Ausflug des Nachwuchses nach Spanien gebettelt. Der Hauptsponsor aus der Mikroelektronik ließ sich zwar nicht lumpen und hatte schon einige Chips bereitgestellt, aber es reichte wohl noch nicht. Für die milde Gabe darf er übrigens beim nächsten Spiel eine Job-Börse in der Halle veranstalten, der Kampf um die Köpfe ist auch in Dresden im vollen Gange.

Entgegen einer normalen Dramaturgie wuchs die Spannung nicht im zweiten Akt, sondern es wurde vorgeführt, wie wichtig eine gute Abwehr gerade auswärts ist. Insofern entwickelte sich der Abend zum Lehrstück, wenn auch nicht ganz ohne klassische Heldenfiguren.

Ein Siegfried mit Oberlippenbärtchen und Dauerwelle z.B. eroberte erst heldenhaft den Ball vor der eigenen Burg, um diesen dann ohne erkennbaren Dolchstoß in seinen Rücken in Feindesland kampflos wieder herzugeben. Ein anderer, nennen wir ihn Ajax, marschierte vor den gegnerischen Rittern lange auf und ab, um dann unvermittelt den Rundkörper in die fremde Scheune zu werfen. Zwillinge, wie üblich in identischer Kleidung, konnten trotz Kleinwüchsigkeit allein mit dem Spiel ihrer Schalmeien die Herden dirigieren. Ein meist geduckt gehender Merlin verstand es, sein Gegenüber etwa siebzehnmal für kurze Zeit in ein Handballerdenkmal zu verwandeln und konnte so unbehelligt sein Geschäft verrichten. Der jugendliche Held schließlich kam wie bei Lukas Rietzschel von rechtsaußen, begann aber erst mit den Heldentaten, als der Vorhang sich schon senkte.

Das war alles nett anzuschauen, und auch das Gebrüll von der Seitenlinie wurde ergebnisgerecht gegen Ende leiser, flammte aber nach dem Schlussapplaus noch einmal auf, um die nächste Premiere (mit erwähnter Job-Börse) anzupreisen.

Großes Theater gab es dann als Zugabe: Da herzten sich die Männer auf der Bühne, daß es eine Freude war. Auf der einen Seite wurden Rundtänze aufgeführt, auf der anderen Seite immerhin den Technikern applaudiert, so wie es sich gehört. Und ganz ohne Unterscheidung der getragenen Farbe gab es freundliche Abschiedsklapse in langer Reihe.

Nur ein Co-Regisseur zeigte sich übellaunig, dabei hatte er es doch selber versäumt, sich und den Seinen eine Auszeit zu gönnen, als es noch geholfen hätte. Einen Darsteller karnevalsgerecht in ein albernes Tigerkostüm zu stecken und diesen dann das Publikum durch übergriffige Nähe belästigen zu lassen, war allerdings eher Schmierentheater, so viel sei kritisch zu dem insgesamt gelungenen Abend angemerkt.

Triumpf des Willens über die Vorstellung

Atlantis – die Welt als Wille und Vorstellung, ein Musik-Theaterabend von Sebastian Hartmann und PC Nackt
Uraufführung 27.01.2024 im Staatschauspiel Dresden, https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/atlantis/

Der Enkeltrick bei der Rezeption von Regietheater besteht darin, die Unbegeisterten der geistigen Armut zu verdächtigen. „Das ist so gut, verstehst du das nicht? Fehlt dir vielleicht der intellektuelle Zugang?“ Und da das Bildungskleinbürgertum nichts mehr fürchtet, als aus dem erlauchten Kreise der geistigen Oberschicht ausgeschlossen zu sein, jubelt es, wenn Jubel angezeigt scheint. „Steht auf, wenn ihr Experten seid!“

So erklärt sich zumindest Teichelmauke® die Begeisterungsstürme, die heute abend durch das Dresdner Theater fegten. Am Inhalt kann es nicht gelegen haben, vielleicht an der Opulenz von Bild + Ton, aber ein gewisser Anteil an vorbeugendem „Auch-dafür-sein“ wird sich wohl dazwischen gemischt haben.

Wir lernen im Programmheft, daß Hartmann „keine Handlungsfolge und keine Figuren im Sinne eines traditionellen Dramas benötigt“, um seine „musikalisch strukturierte Form und eine plastische Installation im Bühnenraum“ stattfinden zu lassen. Die Trauben sind mir viel zu sauer, sagte der Fuchs, als er nicht rankam, und auf diese Weise lässt sich vieles rechtfertigen. Dennoch lege ich hier den Maßstab des Theaters an, auch wenn sich der Basti Hartmann längst in höheren Sphären wähnt.

Zum Bühnenbild lässt sich sagen, daß es jeder Walldorfschule als Klettergerüst dienen könnte, so frei von Ecken und Kanten wie es ist. Geklettert wurde allerdings nicht an diesem netten Stück Kunsthandwerk, aber es fuhr ein paarmal bedeutungsschwer rauf und runter.

Überhaupt war in jeder Sekunde viel Bedeutung zu spüren, oder zumindest der feste Wille dazu, sei es bei den dramatischen Gesten im Halbdunkel, beim seitwärtsschreitenden Chor, beim an die Ritter der Kokosnuss erinnernden Reiten ohne Pferd oder dem viermal wiederholten „la la la la“, nachlesbar im Libretto. Tatsächlich wird der im Programm abgedruckte Text so bezeichnet, was raffiniert ist, weil man ja um die häufige Sinnfreiheit in der Oper weiß. Die Veröffentlichung ist allerdings auch leichtsinnig, weil man den Stuss damit nachlesen kann und sich nicht der Mantel des Nicht-Verstehens oder Gleich-Wieder-Vergessens drüber breitet. Und so lässt sich manch literarische Kostbarkeit wie „der Kreis ist rund Augen voller Farben wie ein Hund im Feuer voller Narben“ für die relative Ewigkeit erhalten.

Im Kern geht es um eine Bebilderung und Vertonung des Schopenhauerschen Lehrsatzes „Die Welt ist meine Vorstellung“. „Ein Satz, den Jeder als wahr erkennen muss, sobald er ihn versteht“ (vergleiche Enkeltrick). Hartmann erweist sich auch diesmal als der Leni Riefenstahl des Theaters und setzt auf Masse, Volumen, Bilderfluten, Oratorien und meist heroische Musik (deren Schöpfer PC Nackt zwar erst in einem lächerlichen Auftritt mit einem unsichtbaren Heiligen Geist der Theatermusik die Szenerie betritt, sich danach aber als rahmengebender Virtuose zeigt) sowie bedeutungshuberndes Getänzel, was eine Verbindung zur reformatorischen Bewegung in Hellerau herstellen soll. Gut, kann man machen. Wo kein wirkliches Konzept ist, braucht es nicht viel mehr.

Zum Fremdschämen war punktuell durchaus Gelegenheit, aber das immer wieder durchscheinende „Seht her, ich kann hier machen, was ich will“ des Hartmann, der sich damit leider in Richtung des Namensvetters Waldemar bewegt, ist das eigentliche Ärgernis.

Ich nenne die Inszenierung eine großartige Kacke – mit der Betonung auf „artig“, denn so revolutionär im Konzept finde ich es nicht, auf wesentliche Stilmittel des Theaters wie Handlung und Figuren zu verzichten. Das ganze Brimborium mal abgezogen, war es dann doch recht langweilig.

Ritter der Obstschale als 2tbeste Lösung

Gundermann: Alle oder keiner

Eine Revue über Helden, Gras und Kohle von Tom Kühnel

Premiere am Staatsschauspiel Dresden am 9. Oktober 2020

Alle Stücke, die ich schreiben wollte, macht schon der Tom …“ ist als beim Meister entliehenes Eingangs-Zitat in diesem Falle durchaus angebracht, in aller Unbescheidenheit, weil es im Falle der Teichelmauke um genau ein Stück geht, das jener immer schon mal zu Papier bringen wollte und das nun Tom Kühnel vor ihm getan hat.

Mit Bravour, soviel sei vorweggeschickt, und aus meinen hochfliegenden Plänen wäre eh nix geworden, vermutlich, und ich tröste mich nun unter anderem damit, daß auch Profis des Genres die Relevanz von Gundermann für die Theaterbühne erkannt haben.

Meister ist übrigens die Bezeichnung, die wir im Freundeskreis schon seit Jahren für den Gundermann verwenden, und daraus wird zum einen meine Befangenheit in dieser Sache ersichtlich, aber auch die Prägung durch ein inzwischen sechzigsemestriges Studium der Gundermannistik, das leider nur in den ersten Jahren einen starken Praxisbezug aufwies. Will sagen, in Sachen Gundermann macht mir so schnell niemand etwas vor, ich bin aber auch fix beleidigt, wenn etwas nicht meiner Meinung davon entspricht, wie man den Gundermann heute vorstellen muss. So war ich mit dem Spielfilm „Gundermann“ von Andreas Dresen nur halbwegs glücklich, die danach erschienene Doku „Gundermann Revier“ von Grit Lemke schätze ich hingegen sehr. Mit dem halben Dutzend Bands, die sich um den Nachlass von Gundermann verdient machen, von „Die Seilschaft“ über die „Randgruppencombo“ bis hin zu Christian Haase werde ich sehr unterschiedlich warm, aber das tut hier nichts zur Sache und trägt nur zum imaginären Zeilenhonorar bei.

Tom Kühnel ist da vermutlich emotional weniger vorbelastet, und das tat seiner Revue durchaus gut. Mit den musikalischen Leitern Matthias Trippner und Jan Stolterfoht inszenierte er die Gundermann-Stücke in nahezu jeder denkbaren Stilrichtung vom Nina-Hagen-Quietschgesang über einen wirklich guten Blues und über Belcanto bis zum Death Metal, zumeist gelungen und in der Regel auch kongenial interpretiert – von den üblichen Verdächtigen Henriette Hölzel, Jannik Hinsch und Thomas Eisen hatte man das erwartet, positiv zu überraschen wusste auch Betty Freudenberg.

Eine Revue wird naturgemäß weniger von der Handlung getragen, dennoch orientierte man sich biographisch und schilderte Leben und Wirken des Gundermann fast chronologisch. Das hatte durchaus seinen Reiz, auch wenn dem einschlägig Gebildeten manche Szenen aus Film und Doku sehr bekannt vorkamen. Die 1:1 – Übertragung auf die Bühne war sicher nicht die beste Idee des Abends, auch nicht die Playback-Variante von Interview-Sequenzen aus dem sozialistischen Alltag von damals, die nach der ersten Erheiterung schnell ermüdete.

Der Gundermann trat hier in Versechsfachung auf, jeweils mit dem bekannten Fleischerhemd, strähnigen blonden Haaren (Kompliment an die Maske) und Gitarre vor den Hosenträgern, was die spielerische Last gut verteilte, aber neben ihm auch keine andere Figur zuließ, von einigen kurzen Spielszenen mit Ehefrau, früherem Führungsoffizier und damals Bespitzelten abgesehen. Das wiederholte Selbstgespräch zu sechst war da später unausweichlich, und neben einigen Längen, die der Zuschauer durchlitt, trug dies dann doch zur Wahrheitsfindung bei. Zunächst stand man klampfenbewehrt sehr frontal und statisch an der Bühnenkante, auch die Musiker klangen anfangs sehr nach Ostrock, aber es kam danach mit dem Einrollen von dampfenden Kühltürmen in den Bühnenhintergrund Bewegung in die Szenerie, auch musikalisch.

Visuell wurde einiges geboten, eine Filmszene etwa, die mit einer alten Sorbin begann, die den Verlust der eigenen Sprache und des Lebensraums beklagte und dann mit einem weiten Schwenk von oben über die Tagebaukante in eine Mond- und Kraterlandschaft wechselte. Später dann noch die Sprengung eines Großgerätes, das nicht mehr benötigt wurde, sinnigerweise mehrmals vorwärts und rückwärts gezeigt, als ob sich so die Löcher im Himmel wieder schließen könnten. Manchmal zerfaserte das Stück ein wenig zwischen den verschiedenen Stilmitteln, einiges wurde schlicht verkaspert. Die Kenntnis des Gundermann im Allgemeinen und des Dresen-Films über ihn im Besonderen ist in jedem Falle ein Vorteil für den Zuschauer, aber auch, wenn für einen der Gundermann vor allem eine Heilpflanze ist (soweit das in hiesigen Breiten möglich ist), kann man dem Stück sicher vieles abgewinnen.

Eine besonders gute Idee der Inszenierung, die mir nur anfangs etwas seltsam vorkam, war der abrupte Wechsel zwischen der rentnerfarbenen DDR-Tristesse in eine quietschbunte Werbewelt im Beitrittsgebiet. Krach, bumm, neues Leben! In schneller Folge blätterten dann Motive einschlägig bekannter Reklame auf, die den raschen Fortgang der Gundermann-Geschichte nach der Wende, vor allem seine Enttarnung als Stasi-IM, illustrierten. Hello Barbie, tell me aus der Akte … mit der Krönung arbeitet es sich auch leichter auf, selbst wenn in der Bärenmarke-Milchkanne nur ein Täterdokument zu finden ist. Dieser respektlose Rückblick auf die Jahre 90/91 wird nicht jedem Gralshüter gefallen, aber so skurril war das eben manchmal, zumindest in meiner Erinnerung.

Danach fuhr die Drehbühne rückwärts, und in der Fototapetenwelt erkannte man die Banalität des Blöden, die Bühne machte übrigens Jan Pappelbaum.

Zuvor war allerdings noch der intellektuelle Höhepunkt des Stücks zu bestaunen: Die raffinierte Verknüpfung von Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“ mit den Mühen des Gundermann in der Runde der Parteifunktionäre. Das Lancelot-Thema hatte Gundermann ja bereits in seiner ersten, 1988 bei AMIGA erschienenen LP „Männer, Frauen und Maschinen“ verarbeitet, und ob es damals schon irgendwelche Verbindungen gab, kann nur Herr Hein beantworten, aber es war frappierend, wie mühelos sich Heins literarischer Text durch die Sprechblasen der führenden Genossen ersetzen ließ. Ob nun an den Gral oder die hist. Miss. d. AK zu glauben ist, erschien egal, Zweifel war überall Verrat. Allein für diese Viertelstunde hätte sich der Abend schon gelohnt.

Wenn man bei Höhepunkten bleiben will: Emotional setzte diesen Betty Freudenberg mit der Interpretation des inzwischen legendär gewordenen Konzertbeginns in Berlin, als Gundermann seine IM-Tätigkeit bekundete, und des nicht minder bewegenden „Hier bin ich geborn“ im Anschluss.

Auf der anderen Seite der Skala für mich die Nachspielung der klassischen Talkshow-Situation zum Thema „Kumpelschutz oder Naturschutz“, die sich in der Darstellung der bekannten Positionen im Wortsinne erschöpfte. Daß die Schauspieler dabei als Insekten kostümiert waren (das immerhin beeindruckend von Leonie Falke umgesetzt), konnten sich vermutlich nicht alle im Publikum erklären, dafür kam der vorhergehende Verweis auf die Ansicht des Gundermann, Insekten wären für das Leben auf diesem Planeten inzwischen deutlich besser geeignet, ein wenig zu kurz. In einer 90 min – Version des Stücks, die ich für sinnvoll halte, hätte diese Szene keinen Platz mehr für mich.

Das oben schon erwähnte Erstlingswerk von Gundermann hält noch so viel relevantes Material bereit … folgerichtig kam auch fast alles davon zur Aufführung. Manchmal als Teil eines Nummernprogramms, okay, es war eine Revue, manchmal aber auch eingebettet in eine kontextuale Handlung.

Zum Ende hin wurde es dann doch wieder zum Nummernprogramm an der Bühnenkante, vielleicht sollte sich ein Kreis schließen. Aber der schloss sich so unauffällig, daß dann auf einmal Schluss war, während das Publikum weiter im letzten Lied schwelgte. Da sollte dramaturgisch noch nachgeschliffen werden, denn diese Irritation am Ende hat das Stück nicht verdient.

Insgesamt wurde aus der „Sammeltasse Glück“ reichlich zurückgeschüttet ins Publikum, zu anderen Zeiten wäre sicher ein Beifallsorkan durchs Haus gebraust. So machte der Applaus zumindest an Länge wett, was er an Stärke nicht haben konnte, und dies womit? Mit Recht.

Es war ein schöner, wichtiger und wertvoller Beitrag zur Einordnung des ostdeutschen Rockliedermachers ausm Tagebau. Daß Gundermanns Spätwerk im Ganzen ein wenig zu kurz kam, war dabei unvermeidlich, in einer gut zweistündigen Aufführung lässt sich auch unmöglich das gesamte Schaffen unterbringen. Kühnel hat sich für wichtige Ausschnitte entschieden, das ist gut so und lässt auch noch Raum für weitere Versuche (wenn auch nicht von mir).

Das Gesamtphänomen Gundermann kann ohnehin nicht mit einem einzigen Film, einem Konzert oder einem Theaterstück beschrieben werden. Aber alle liefern ein paar Steine zum Mosaik eines viel zu früh Gestorbenen, für den das Bild der „Kerze, die an beiden Enden brennt“, wohl erfunden worden ist.

[Hinweis: Eine gekürzte Fassung dieses Textes wird auch auf dem allgemein sehr zu empfehlenden Portal KULTURA-EXTRA https://www.kultura-extra.de/index.php zu lesen sein.]

Forrest Gump sagt, wo er steht

> KULTURA-EXTRA

„Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt vom ihm selbst“, von Ingo Schulze, Spielfassung und Regie Friederike Heller, Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden am 7. Februar 2020

Theater im engeren Sinne war das somit nur bedingt, eher eine dramatisierte und bebilderte Abfolge von Romanszenen. Die Figuren blieben zwischen den Buchdeckeln, keine erwachte zum Leben, die Abbildung von einem Vierteljahrhundert in einer Bühnensituation ist auch selten eine gute Idee.

Vergnüglich war es trotz allem, Ingo Schulze sei Dank. Und die Vorstellung, wie ein Forrest Gump durch den real Existierenden stolpert, hat auf jeden Fall was.

 

Die Leipziger Not-Oper: Hamsterradio goes Punk

Wie immer seinem Bildungsauftrag auf coloRadio.org folgend, informiert Teichelmauke aus aktuellem Anlaß über das Musikgenre „Punk“ und erklärt, warum man am Bass höchstens den Bierkasten tragen darf, aber keine Verantwortung.

https://www.dropbox.com/s/yaocdp432l86akd/Not-Oper.mp3?dl=0

 

Hamsterradio kompakt: Drei kurze Stücke über alles Mögliche

Für Menschen mit Konzentrationsschwäche: Die hier versammelten Sendungen sind jeweils unter einer Stunde lang! Das wird wohl machbar sein.

Sie stammen alle vom 2. November 2019, liefen live auf http://www.coloradio.org unter dem Sammelbegriff Hamsterradio und tragen die folgenden Titel:

  • Die Friedhofssendung
  • Die Gartensendung
  • Die Radiosendung

Bitte in dieser Reihenfolge hören. Oder in einer anderen.

https://www.dropbox.com/sh/fuigw4860q9rr7w/AACsdwh0SE3rYI0N2OQYp2bPa?dl=0

 

 

Mit der flachen Hand aufs Wasser geklatscht

Gestern (13.09.19) war Saisonauftakt beim Staatsschauspiel Dresden.

Trotz beachtlicher Regie und guten Darstellerinnen kein großer Wurf, was der schwachen Romanvorlage geschuldet ist und dem festen Willen, mal wieder das Leiden Ossi zu verherrlichen.

https://www.kultura-extra.de/theater/veranstaltung/urauffuehrung_MitDerFlachenHand.php

 

Der kleine und der große Unterschied

Ein paar Tage lang konnte man sich der Illusion hingeben, die Schreck- und Freudenschüsse nach den Wahlen am letzten Mai-Sonntag könnten dazu führen, daß neue Wege eingeschlagen werden, um zu retten, was noch zu retten ist an Zivilisiertheit im Inneren und Ansehen in der Welt, grad im äußersten Osten von Sachsen:

Ein Salon-Nazi mit den meisten Stimmen bei der OB-Wahl in Görlitz, aber sehr weit von einer großmäulig prophezeiten absoluten Mehrheit entfernt und deutlich dahinter ein CDU-Bewerber, der grad mal 30% der Wähler*innen von sich überzeugen konnte und damit fast exakt das Ergebnis des Gegenkandidaten bei der letzten OB-Wahl 2012 erreichte – das Potential der CDU in dieser Region also bestenfalls zur Hälfte ausschöpfte.

Gleich dahinter mit nur 2,4 %-Punkten oder 641 Stimmen weniger eine Bewerberin, die es „trotz“ ihrer grünen Herkunft schaffte, ein breites Bündnis hinter sich zu versammeln, und eine Kandidatin der Linken, deren Anteil von 1.470 Stimmen oder 5,5% im Verhältnis ähnlich desaströs war wie jener der CDU (exakte Zahlen hier: https://www.goerlitz.de/uploads/OB2019_1WG.pdf )

Angesichts der Tatsache, daß die AfD zwar wieder stärkste Kraft in Sachsen geworden war (wenn auch mit deutlich geringerem Stimmenanteil als noch zur Bundestagswahl 2017 und diesen ersten Platz somit nur dank der andauernden Schwäche der CDU bekam) und die nächsten Wahlen schon fast vor der Tür stehen, waren sogar neue Töne zu hören. Selbst der großer politischer Phantasie unverdächtige MP sprach von einer „Vier-Parteien-Koalition“, die es dann eben zu bilden gelte.

Was hätte näher gelegen, als gerade in Görlitz einen ersten Schritt zu gehen und den potentiellen Partnern auch mal etwas anzubieten, wenn man machtpolitisch schon auf dem letzten Loch pfeift (oder in diesem Falle bläst – Herr Ursu ist gelernter Trompeter)?

 

Aber im Osten nichts Neues – für die CDU bedeutet Zusammenarbeit Unterordnung, auf der Gegenseite wohlgemerkt. So wird aus dem kleinen Unterschied von ein paar hundert Stimmen der große Unterschied der politischen Kultur – die Versorgung eines für den nächsten Landtag ausgesonderten Parteifreundes „im besten Alter“ ist wichtiger als ein Modell, daß Sachsen in den nächsten Jahren vor dem Schlimmsten bewahren könnte. (Ob dies von allen in der CDU auch gewollt ist, darf allerdings bezweifelt werden)

Über die Selbstüberschätzung und mangelnde Weitsicht der Linken, die (auch) zu dieser Situation geführt hat, könnte ein eigener Beitrag zu schreiben sein, in dem viel von Traurigkeit die Rede wäre, aber das ist hier nicht das Thema.

Hier geht es um den Krug der Union, der wohl zum letzten Mal zum Wasser ging an der Neiße, bevor er dann im September bricht.

Und so darf der wackere Octavian weiter auf seinen Thron-Anspruch beharren, ohne daß ihn irgendein Augustus in Dresden zurückpfeifen würde – Herr Kretschmer arbeitet sich derweilen lieber am Vergleich von Unvergleichbarem ab und ergänzt seine ohnehin schon beachtliche Stilblütensammlung. Ohne die Größe einer Franziska Schubert, der „Staatsräson“ die eigenen Ambitionen unterzuordnen, hätte man wohl dank der Dimpflichkeit der Sachsen-CDU (eigentlich ein bairischer Fachbegriff, der aber selbst dort nur noch selten zum Einsatz kommen muss, „Bräsigkeit“ ist vermutlich geläufiger) dann in Görlitz den ersten AfD-OB in Deutschland gehabt. Danke, CDU, für gar nichts.

Spannend wird aber, wie sich Herr Kretschmer oder wer auch immer im September dann die sächsische Karre aus dem blaubrauen Dreck ziehen soll, sich die Bildung einer Regierung jenseits der AfD vorstellt. Glaubt er, man müsse nur rufen, damit alle potentiellen Partner die dargebotene Regierungsbeteiligung brav apportieren?

Das kann er tun – Glauben ist Privatsache. Und zugegebenermaßen ist in zwei Fällen der inhaltliche Trieb vermutlich deutlich schwächer ausgeprägt als der institutionelle – man darf davon ausgehen, daß für Ministertitel einige programmatische Großmütter geopfert würden, sofern diese noch lebend aufzufinden sind bei SPD und FDP. Nur werden aus drei Rittern von der traurigen Gestalt noch keine Musketiere.

Da macht offenbar einer die Rechnung ohne den vermeintlich vierten im Bunde – nebenbei gesagt übrigens die einzige Partei, die sich in Sachsen als Sieger fühlen darf nach der Wahl am Sonntag. Alle anderen sind teilweise massiv abgeschmiert im Vergleich zu 2017, https://wahlen.sachsen.de/europawahl-2019-wahlergebnisse-6931.php zu https://wahlen.sachsen.de/bundestagswahl-2017-wahlergebnisse-5073.php – und komme mir niemand mit den vielen Kleinparteien als Grund: deren Konkurrenz betraf alle.

Ein Strippenzieher wie Kretschmer sollte wissen, daß Politik – vornehm ausgedrückt – aus Kompromissen besteht. Und wenn jetzt ein Ursus minimus blind nach dem Honig der Macht tappt, soll er das halt tun (und das hoffentlich nicht auch noch verkacken) – aber um so größer wird der Teil des Bärenfells sein, den die Strategen der CDU abgeben müssen, um ein Regierungsmäntelchen zu schneidern.

 

PS: Falls jetzt einer bei der CDU anfängt nachzuzählen, welche Ministerien wohl dran glauben müssen nach der Wahl – gerne, ein bißchen Grusel schadet nicht.

Aber es geht in erster Linie um die Programmatik. Da wird manch bittre Träne fließen bei den Verteidigern des „Weiter-So“, des ungehemmten Zukunftsverbrauchs, des Polizeistaats, der autofixierten Verkehrspolitik, der industriellen Landwirtschaft, kurz bei allem, was der CDU und ihren Hintersassen heute lieb und teuer ist. Denen kann man dann nur empfehlen, in Rente zu gehen und nach Görlitz zu ziehen. Soll schön dort sein, an sich.