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Triumpf des Willens über die Vorstellung

Atlantis – die Welt als Wille und Vorstellung, ein Musik-Theaterabend von Sebastian Hartmann und PC Nackt
Uraufführung 27.01.2024 im Staatschauspiel Dresden, https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/atlantis/

Der Enkeltrick bei der Rezeption von Regietheater besteht darin, die Unbegeisterten der geistigen Armut zu verdächtigen. „Das ist so gut, verstehst du das nicht? Fehlt dir vielleicht der intellektuelle Zugang?“ Und da das Bildungskleinbürgertum nichts mehr fürchtet, als aus dem erlauchten Kreise der geistigen Oberschicht ausgeschlossen zu sein, jubelt es, wenn Jubel angezeigt scheint. „Steht auf, wenn ihr Experten seid!“

So erklärt sich zumindest Teichelmauke® die Begeisterungsstürme, die heute abend durch das Dresdner Theater fegten. Am Inhalt kann es nicht gelegen haben, vielleicht an der Opulenz von Bild + Ton, aber ein gewisser Anteil an vorbeugendem „Auch-dafür-sein“ wird sich wohl dazwischen gemischt haben.

Wir lernen im Programmheft, daß Hartmann „keine Handlungsfolge und keine Figuren im Sinne eines traditionellen Dramas benötigt“, um seine „musikalisch strukturierte Form und eine plastische Installation im Bühnenraum“ stattfinden zu lassen. Die Trauben sind mir viel zu sauer, sagte der Fuchs, als er nicht rankam, und auf diese Weise lässt sich vieles rechtfertigen. Dennoch lege ich hier den Maßstab des Theaters an, auch wenn sich der Basti Hartmann längst in höheren Sphären wähnt.

Zum Bühnenbild lässt sich sagen, daß es jeder Walldorfschule als Klettergerüst dienen könnte, so frei von Ecken und Kanten wie es ist. Geklettert wurde allerdings nicht an diesem netten Stück Kunsthandwerk, aber es fuhr ein paarmal bedeutungsschwer rauf und runter.

Überhaupt war in jeder Sekunde viel Bedeutung zu spüren, oder zumindest der feste Wille dazu, sei es bei den dramatischen Gesten im Halbdunkel, beim seitwärtsschreitenden Chor, beim an die Ritter der Kokosnuss erinnernden Reiten ohne Pferd oder dem viermal wiederholten „la la la la“, nachlesbar im Libretto. Tatsächlich wird der im Programm abgedruckte Text so bezeichnet, was raffiniert ist, weil man ja um die häufige Sinnfreiheit in der Oper weiß. Die Veröffentlichung ist allerdings auch leichtsinnig, weil man den Stuss damit nachlesen kann und sich nicht der Mantel des Nicht-Verstehens oder Gleich-Wieder-Vergessens drüber breitet. Und so lässt sich manch literarische Kostbarkeit wie „der Kreis ist rund Augen voller Farben wie ein Hund im Feuer voller Narben“ für die relative Ewigkeit erhalten.

Im Kern geht es um eine Bebilderung und Vertonung des Schopenhauerschen Lehrsatzes „Die Welt ist meine Vorstellung“. „Ein Satz, den Jeder als wahr erkennen muss, sobald er ihn versteht“ (vergleiche Enkeltrick). Hartmann erweist sich auch diesmal als der Leni Riefenstahl des Theaters und setzt auf Masse, Volumen, Bilderfluten, Oratorien und meist heroische Musik (deren Schöpfer PC Nackt zwar erst in einem lächerlichen Auftritt mit einem unsichtbaren Heiligen Geist der Theatermusik die Szenerie betritt, sich danach aber als rahmengebender Virtuose zeigt) sowie bedeutungshuberndes Getänzel, was eine Verbindung zur reformatorischen Bewegung in Hellerau herstellen soll. Gut, kann man machen. Wo kein wirkliches Konzept ist, braucht es nicht viel mehr.

Zum Fremdschämen war punktuell durchaus Gelegenheit, aber das immer wieder durchscheinende „Seht her, ich kann hier machen, was ich will“ des Hartmann, der sich damit leider in Richtung des Namensvetters Waldemar bewegt, ist das eigentliche Ärgernis.

Ich nenne die Inszenierung eine großartige Kacke – mit der Betonung auf „artig“, denn so revolutionär im Konzept finde ich es nicht, auf wesentliche Stilmittel des Theaters wie Handlung und Figuren zu verzichten. Das ganze Brimborium mal abgezogen, war es dann doch recht langweilig.

Die Theatervölkerschlacht zu Leipzig

Ein Ferndiagnose

Da hat es also einen geräuschvollen Intendantenwechsel gegeben in der alten Kaufmannsstadt: Der Alte hat nicht mehr wollen sollen, der Neue wurde sehr rumpelig ins Amt gehoben.
So weit so schlecht, das kommt schon mal vor. Aber was da nun abgeht … man kann sich im beschaulich-barocken Dresden (das hiesige Theater nehm ich ausdrücklich aus von dieser Zueignung) nur wundern.

Da rüsten die verbliebenen harten Männer zum Sturm auf die Bastei von Lübbe, kaum das diese errichtet ist. Da wird gegen einen frischen Intendanten geholzt, dass es nur so kracht. Da kartätschen die Verteidiger aus allen Rohren und kippen Kübel voll Stinkendem über die Angreifer.

Ich halte mich inhaltlich erstmal raus. Weder habe ich sonderlich viel von Herrn Hartmanns Centraltheater gesehen (das, was ich sah, war aber sehr anregend), noch kenne ich Herrn Lübbes frühere Arbeit in Chemnitz und die aktuellen Leipziger Inszenierungen. Letztere wirklich „noch“, das ganze Getös macht schon neugierig.

Aber zum Stil erlaube ich mir einige Anmerkungen:
Nachtkritik.de ist ohnehin nicht für pfleglichen Umgang miteinander bekannt, doch diese Debatte toppt alles. Positiv ausgedrückt: Das Theatervolk ist bewegt und gibt dieser Bewegung auch Ausdruck. Nur … muss es unbedingt auf diese Art sein?
Es ist selbstverständlich legitim, sein „Bravo – ganz ohne Einschränkungen“ zur Emilia zu posten, ebenso wie ein „größte Katastrophe, der ich je beiwohnen durfte“. Aber dann geht es ans Eingemachte: Der Kritiker kann gar nicht objektiv sein (welcher ist das schon?), er gehörte ja zur Findungskommission, deren Empfehlung man nicht folgte (was schon ein seltsamer Vorgang ist). Und die Gegenseite dreht das Argument natürlich um. Und es wird reichlich nachgetreten, das schöne Wort „Theaterkampf“ erblickt das Licht der Kommentare. Peinlich, das Ganze.

Aus meiner wirklich neutralen leipzigfernen Sicht:
Selbst der Kritiker ist ein Mensch und damit fehlbar. Ihm Böswilligkeit zu unterstellen, weil er Haare in der neuen Suppe findet, ist albern und entspringt einem seltsamen Lagerdenken.
Vielleicht sollte das Schauspiel Leipzig künftig die Besucher in Fanblocks sortieren? Hartmann-Ultras ganz links (von der Bühne aus gesehen), Lübbe-Jünger so weit entfernt wie es geht. Und dazwischen der kleine Block von Leuten, die einfach nur Theater sehen wollen, um sich damit auseinanderzusetzen und ja, gottverdammtnochmal, sich auch mal unterhalten lassen wollen.

Trotz alledem: Nach diesen drei, vier tollen Tagen wird das Leben selbst in Leipzig irgendwie weitergehen. Man wird beobachten können, ob und wie sich die neue Mannschaft findet. Der Start war offenbar nicht der Beste, aber – um hier mal einige Plattitüden anzubringen – eine Intendanz dauert fünf Jahre. Und die Bühne ist meist rund. Und Tor ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. Letzterer ist übrigens das Publikum.

Derweil werden noch viele Säue durch die Nachtkritik getrieben worden sein. Und Leipzig wird wieder das sein, was es immer war: Ein Theater irgendwo in Mitteldeutschland, nicht ganz groß, aber auch nicht ganz so klein.

Übrigens, dieser kleine Seitenhieb sei mir als Landeshauptstädter gestattet: Am selben Abend, als „Emilia Galotti“ in Leipzig durchfiel bzw. reüssierte, gab es in Dresden eine Premiere gleichen Namens, die über jede Kritik erhaben zu sein schien.