Kategorie: Dresden
Im Abendlande wird es früher dunkel
Die Überschrift ist nicht logisch, aber vieles heutzutage ist nicht logisch. Warum fühlen zum Beispiel einige Menschen im Moment derartige Phantomschmerzen, dass sie deshalb allmontagabendlich durch die Dresdner Innenstadt promenieren anstatt sich am Glühwein zu berauschen und Bratwurstfett auf die Funktionskleidung zu kleckern?
Unter einem schlecht ausgedachten Kürzel, das mich an irgendetwas zwischen Sanitärreinigung und Mitropa erinnert, sammeln sich heute also die Nachfahren der Kreuzritter. Jene, so darf man wissen, rekrutierten sich aus den zweit- und folgendgeborenen und somit erblosen Söhnen des Landadels, die mangels heimischer Beschäftigungsaussichten das Kreuz zu den Ungläubigen und fette Beute mit nach Hause zu bringen gedachten. Ein Hoch auf die Friedfertigkeit heutiger Wirtschaftsflüchtlinge!
Diese frühe Form der Entwicklungshilfe stieß bei besagten Ungläubigen, die das mit dem Unglauben übrigens genau andersrum sahen, auf wenig Gegenliebe, spielt allerdings in der Geschichtsschreibung der islamischen Welt kaum eine Rolle. So erfolgreich können die Missionen also nicht gewesen sein.
Jene heutigen Ritter vom Kreuz durch den Halbmond verteidigen also auf den Dresdner Straßen montags zwischen 6 und 8 Uhr abends ihr Märchenland, das man immerhin noch aus der (schlechten) Fernsehwerbung kennt, wenn auch immer seltener. Zum Anführer hat sich ein Lutz aufgeschwungen, dessen Nachnamen ich vergessen habe und für den Herr Brecht seinen Arturo Ui umschreiben müsste: Etwas weniger Raffinesse, dafür mehr Schnauzbart. Vorerst zumindest kann der gewesene Kleinkriminelle noch den Obermacker machen, bis er für die Bewegung nicht mehr nützlich, sondern nur noch ein Idiot ist. Dann müssen honorigere Männer und Frauen aus dem Wutvolke ran, ohne Vorstrafen, von Steuerdelikten vielleicht abgesehen, die sind ja eine Form des Widerstands gegen den von den Alis unterwanderten Staat.
Von „christlich“ ist übrigens in der putzigen Benamsung der Wandertruppe nicht die Rede, es bringt also auch nichts, an deren Nächstenliebe zu appellieren. Bis zum Übernächsten würde die ohnehin kaum reichen.
Wenn man aber so ausdrücklich „gegen“ etwas ist, liegt die Frage nach dem „Für“ nahe. Christianisierung? Hm, eher nicht. Religionsfreiheit? Gerne doch, ist aber mit dem „gegen“ nur bedingt kompatibel. Arisierung? Leider schon negativ besetzt.
Man merkt, den Freiheitskämpfern an der Heimatfront fehlt noch ein PR-Berater, mit dagegen allein kriegt man heutzutage keine Punkte mehr auf Dauer.
Wenn man das Thema mal quantitativ beleuchtet, relativiert sich dann doch vieles: Von den 15.000 Marschierern jene abgezogen, die als Volksdarsteller bei jeder dieser Gelegenheiten von Schneeberg bis Hoyerswerda präsent sind und jene, die das Umland bevölkern, bleibt allerhöchstens ein Prozent der Dresdner Bevölkerung, das sich hinter den vaterländischen Bannern versammelt. Und von denen hält sicher die Hälfte die Yenidze für einen Brückenkopf des Islam in unserer unschuldig-schönen Stadt.
Das soll jetzt nichts verharmlosen, auch mir ist klar, dass die mediale Reichweite deutlich größer ist als den paar Hanseln rechnerisch zustünde. So sind nun mal die Gesetze im Infotainment. Ob man das aber nun gleich willfährig als Niederlage verbuchen muss, wenn sich auf der anderen Seite einmal ein paar weniger der Mühe unterzogen haben, das Bild von Dresden wenigstens halbwegs zu retten, weiß ich nicht. Damit gibt man dem Gelatsche eine Bedeutung, die ihm nicht zukommt.
Bald ist Wintersonnenwende, die Tage werden wieder länger. Dann wird vielleicht auch Licht in den Hutznstubn des deutschen Geistes. Und bis dahin wünsche ich ein sehr unchristliches Wetter an jedem Montag abend.
Schalom,
Teich El Mauke
Die Geister, die ich rief … Rückenwind für den Dresdner Stadtrat
Auswertung der vierten „Dresdner Debatte“ zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept am 29. Oktober 2014 im Kulturrathaus
Die „Dresdner Debatte“ ist eine relativ neue Form der Bürgerbeteiligung bei Planungsprozessen, die sich wesentlich auf eine Online-Plattform (http://dresdner-debatte.de/) stützt, aber auch auf einige klassische Veranstaltungen und eine Info-Box, den markanten roten Container, der an relevanten Plätzen während der Laufzeit der Debatte aufgestellt und mit fachkundigem Personal besetzt wird, um die Anregungen der Bürger*innen aufzunehmen.
Die Landeshauptstadt hat hierfür schon einiges an Lob erhalten, die Methodik des öffentlichen Dialogs zwischen Politik, Planung und Bevölkerung – ursprünglich für abgegrenzte Planungsräume wie den Neumarkt oder die Innere Neustadt vorgesehen – scheint sich nun auch bei stadtweiten Themen zu bewähren. Und so wurde nach der Diskussion des Verkehrsentwicklungsplanes im letzten Jahr nun das derzeit in Aktualisierung befindliche INSEK behandelt.
INSEK ist weder eine Sondereinheit der Polizei noch der Verband der Insektenfreunde, sondern die verwaltungstechnische Kurzform des „Integrierten Stadtentwicklungskonzepts“, ein Strategiepapier der Landeshauptstadt, das die inhaltliche Richtung der weiteren Entwicklung der Stadt beschreibt und somit den fachlichen Einzelplänen übergeordnet ist, ohne eine rechtliche Verbindlichkeit zu haben. Letztmalig wurde das Konzept im Jahr 2002 beschlossen, bei einem Planungshorizont von zehn Jahren ist es somit höchste Zeit, ein neues zu erarbeiten.
Dies hat die Verwaltung getan und diesen Entwurf im Juni 2014 für vier Wochen den Bürger*innen der Stadt zur Kenntnis und Bewertung gegeben. Am 29. Oktober wurden nun die ersten Ergebnisse durch Baubürgermeister Marx und die mit dem Thema befassten Experten vorgestellt.
Im zur Diskussion gestellten Entwurf sind vier „Zukunftsthemen“ für Dresden definiert worden: Kulturstadt in Europa, Stadt mit Leistungskraft, Lebenswerte sowie Ressourcenschonende Stadt.
Diese wurden mit 30 Zielen der Stadtentwicklung untersetzt und auf 17 definierte Schwerpunkträume von der Innenstadt bis Hellerau angewandt, wobei nicht jedes Thema in jedem Raum eine Rolle spielt. In den einzelnen Schwerpunkträumen wurden auch noch „Schlüsselprojekte“ benannt, die für deren Entwicklung wesentlich sind. Nachlesbar ist das alles auf den Internetseiten der Debatte (http://dresdner-debatte.de/node/1757/informieren) und muss hier nicht im Detail aufgeführt werden.
Die Beteiligung der Bürger*innen wurde ein wenig verklausuliert dargestellt: Knapp 55.000 Seitenaufrufe habe es gegeben, diese allerdings nur von 4.000 verschiedenen IP-Adressen respektive Nutzern (ich nehme aber an, dass ein heimischer Rechner auch manchmal von mehreren Menschen benutzt wurde, insofern waren es vielleicht auch 5.000 Teilnehmer). Jeder Nutzer rief also nach dieser Rechnung im Schnitt die Seiten elfmal auf, was auf eine intensive Beschäftigung mit der Materie schließen lässt.
Durch die Nutzer wurden gut 500 Beiträge hinterlassen (also durch jeden zehnten) und diese Beiträge 650 mal kommentiert sowie 2.700 mal (ähnlich dem sattsam bekannten „Like“) positiv bewertet. Die Verwaltung betrachtete die hohe Anzahl an Kommentaren als Beleg dafür, dass die Plattform auch als Diskussionsforum wahrgenommen wird, dem ist sicher nicht zu widersprechen.
Die Hälfte aller Beiträge wurde dem Thema „Lebenswerte Stadt“ zugeordnet, mit der Schonung der Ressourcen befassten sich rund 20% und mit kulturellen Themen immerhin 15%. Der Rest von 9% betraf die (wirtschaftliche) Leistungskraft der Stadt. Dass in mehr als der Hälfte der Schwerpunkträume die dort definierten Schlüsselprojekte überhaupt nicht thematisiert wurden, sollte den Planern zu denken geben, nur als Zustimmung lässt sich das sicher nicht interpretieren.
Die Auswertung der Beiträge läuft noch, Anfang 2015 soll ein zusammenfassender Bericht vorgelegt werden. Bislang wurden 163 Ideen bzw. Vorschläge heraus aggregiert, wobei die Hälfte davon als nicht relevant für das INSEK oder die Fachverwaltungen bezeichnet wurde. 82 Anregungen sind somit noch in der Prüfung, ob sie Eingang in das Konzept finden sollen.
Natürlich lobte die Stadtverwaltung die fachliche Qualität der Beiträge, alles andere wär auch arg unhöflich gewesen gegenüber den Bürger*innen. Aber dies scheint kein Lippenbekenntnis zu sein: Wie schon bei den vorangegangenen Debatten geben zumindest die im Kurzbericht (http://dresdner-debatte.de/sites/default/files/content-fragment/downloads/abschlussbericht_insek_debatte_kurzfassung_internet.pdf) veröffentlichten Hinweise ein nahezu komplettes Bild der aktuellen Diskussionslage in der Stadt zur weiteren Entwicklung. Und die Vorschläge sind bei weitem nicht als Zustimmung zur bisherigen Stadtpolitik zu bezeichnen, im Gegenteil: In Summe wird ein konsequentes Umsteuern in Richtung von Nachhaltigkeit, sozialer Ausgewogenheit, Ressourcenschonung und Zukunftsfähigkeit gefordert, fast schon verblüffend ist die hohe inhaltliche Übereinstimmung mit den Eckpunkten der Kooperationsvereinbarung der neuen rotgrünroten Gestaltungsmehrheit im Dresdner Stadtrat. (Insofern scheint der Ausgang der Stadtratswahlen doch kein „Betriebsunfall“ zu sein, wie neulich ein CDU-Stadtrat meinte, und diese Bewertung eher einem Wunschdenken zu entspringen.)
Beispielhaft werden einige der allgemeinen Wünsche genannt: Die Förderung lokaler und zeitgenössischer Kunst und Kultur soll ebenso ausgeweitet werden wie jene von bedarfsgerechtem und nutzungsgebundenem Wohnungsbau. Städtische Brachen sollen nicht verbaut, sondern als Grünflächen entwickelt werden und auch für „urban gardening“ zur Verfügung stehen. Die lokale Ökonomie soll bessere Bedingungen erhalten, auch durch alternative Wirtschafts- und Kreislaufsysteme. Die soziale Infrastruktur soll mit dem Neubau von Kinderspiel- und anderen Bewegungsplätzen verbessert werden. Beim Verkehr wurde vor allem der notwendige Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur in allen Aspekten, die Ausweisung von „shared spaces“ sowie die anzustrebende Barrierefreiheit thematisiert, aber auch die Förderung von Carsharing und ähnlichen Modellen.
Allgemein wurde oftmals auch eine höhere Planungskultur in der Stadt mit früherer und breiterer Bürgerbeteiligung angemahnt.
Konkret heißt das dann zum Beispiel, dass in der Innenstadt ein zentraler Busbahnhof errichtet und eine durchgehende Fußgängerzone bis zur Neustadt geschaffen werden soll. Grünflächen sind ebenso auszuweiten wie das Angebot an preiswertem Wohnraum. Mit einer Gestaltungssatzung soll die Entwicklung der Innenstadt besser gelenkt werden. Im Schwerpunktraum Friedrichstadt / Löbtau / Plauen wird die Einrichtung eines Kreativquartiers ebenso verlangt wie die Ausweitung des Weißeritz-Grünzuges in die Stadtteile hinein.
In der Leipziger Vorstadt geht es um den notwendigen Verzicht auf anhängige Großprojekte wie Hafencity und Globus und um bezahlbaren Wohnraum. Im „Umstrukturierungsgebiet Pieschen“ werden die Hufewiesen als Grünfläche sowie der Bau eines Freibades gefordert.
Die Entwicklung des „Campus Dresden“ soll räumlich begrenzt, die Verkehrsverhältnisse vor allem für den Radverkehr verbessert werden. Im „Schwerpunktraum Elbe / Elbwiesen und -altarm“ ist die Freihaltung von Bebauung das wichtigste Thema, aber auch ein Flussschwimmbad wird gefordert.
Diskutiert wurde im mit etwa 150 Zuhörern recht gut gefülltem Saal unter anderem die Frage, ob 4.000 (oder nach meiner Rechnung 5.000) Teilnehmer an der Debatte nun viel oder wenig wären. Auch wenn die Zahl bescheiden klingt, immerhin entspricht sie der Besucherzahl von ca. 100 Bürgerversammlungen. So gerechnet sind auch die 50.000 Euro pro Dresdner Debatte nicht allzu viel.
Dennoch deutete Bürgermeister Marx an, dass die Fortsetzung dieser Beteiligungsform auch eine Frage der Kosten und der städtischen Kapazitäten wäre. Sollen hier die gerufenen Geister wieder heimgeschickt werden, weil man der Vielzahl der Ideen nicht mehr Herr zu werden glaubt?
Da müssen die Alarmglocken läuten in den interessierten Kreisen, denn besser als mit diesem Instrument kommt man kaum an das Gold in den Köpfen der Bürger. Natürlich wird das immer nur ein relativ kleiner, aber aktiver Teil der Bevölkerung sein, der sich hier einbringt, doch das ist bei den klassischen Formen nicht anders und die Zugangshemmnisse sind bei der Online-Debatte deutlich geringer.
Und auch andere Formen haben weiter ihre Berechtigung, so wurde zum Beispiel das in Eigeninitiative entwickelte „Stadt-Camp“ mehrfach erwähnt, und ohne Bürgerversammlungen wird es auch künftig nicht gehen. Dennoch, die Methodik ist sinnvoll, vergleichsweise kostengünstig und ausbaufähig. Und warum sollte ein ähnliches Modell nicht auch zur Meinungsbildung in grundsätzlichen oder konkreten Fragen auf Landes- oder Bundesebene genutzt werden können?
Ein Aspekt darf dabei allerdings nicht vernachlässigt werden: Politik wird damit nicht ersetzt, sondern nur unterstützt. In der Stadt gibt es den demokratisch legitimierten Stadtrat sowie zahlreiche Ortschaftsräte bzw. -beiräte. Dort müssen letztendlich die Entscheidungen getroffen werden, dazu wählen wir die Volksvertreter.
Nur können diese Entscheidungen durch eine vorlaufende Bürgerbeteiligung deutlich besser untersetzt und vorbereitet werden. Dazu ist allerdings ein entsprechender Zeitablauf zu organisieren, der die Hinweise der Bürger*innen nicht erst beisteuert, wenn die Behandlung des Entwurfs bereits in den städtischen Gremien erfolgt, wie beim Verkehrsentwicklungsplan wohl geschehen.
Aus der vierten Dresdner Debatte kommt also offensichtlich ein starker Rückenwind für die aktuelle Stadtratsmehrheit. Nun müssen die konkreten Vorschläge bewertet und gegebenenfalls in das INSEK eingearbeitet werden. Die dabei von der Verwaltung zugesagte Transparenz ist Voraussetzung dafür, dass sich auch bei der nächsten Debatte zahlreiche Menschen beteiligen werden.
Der depressive Komiker
Lesung von Oliver Polak aus seinem Buch „Der jüdische Patient“ innerhalb der 18. Jüdischen Musik- und Theaterwoche im Societaetstheater Dresden am 28. Oktober 2014
Die Woche hat itz 14 Tage
„Jüdisch. Jetzt!“ Die 18. Jüdische Musik- und Theaterwoche Dresden: Eröffnungskonzert von Daniel Kahn and The Painted Bird in der Jüdischen Gemeinde am 26. Oktober 2014
http://www.kultura-extra.de/musik/spezial/JUEDISCHJETZT2014_danielkahn_thepaintedbird.php
Die Wende der Anderen
Zwei Hörspielformate im Vergleich.
Egon Krenz hat die Wende erfunden
„1989: Jedem seine Geschichte“ ein MDR Figaro – Café in Kooperation mit der ZEIT und dem Staatsschauspiel Dresden am 28. September 2014
Wo ist man, wenn sich die Diskutanten Datumsangaben wie Stichworte zuwerfen und alle einschließlich des zuhörenden Saals auf Anhieb wissen, worum es geht? Richtig, in einer Debatte über das prägende Ereignis vor fünfundzwanzig Jahren, dessen heute gängige Bezeichnung „Wende“ auf Egon Krenz zurückgeht, wie der Schriftsteller Ingo Schulze (damals Dramaturg am Theater Altenburg) gleich zu Beginn anmerkte.
[Ich erinnere mich, dass Christa Wolf schon am 4. November (einem der oben erwähnten markanten Tage) dieses Wort öffentlich auseinandernahm und eine hübsche, aus der Seefahrt stammende Interpretation fand, sinngemäß: Der Kapitän befiehlt „Klar zur Wende“ und die Mannschaft duckt sich, weil gleich der Mastausleger über das Deck fegt. Auch die Anfügung „-Hals“ wurde von ihr in diesem Kontext erwähnt, was dem Siegeszug des praktisch-kurzen Begriffes „Wende“ keinen Abbruch tat. Und nun werden wir den nicht mehr los.]
Die anderen markanten Daten sind übrigens der 9. Oktober (ein bzw. DER Montag) und der 9. November, in welchem sich seitdem ein Großteil der Ambivalenz deutscher Geschichte abbildet. [Ich füge das nur an, weil unter den Lesern eventuell auch Menschen unter 25 Lebensjahren und/oder westdeutschen oder gar ausländischen Geblüts sein könnten. Man weiß ja nie. Bei allen anderen darf man diese Kenntnis wohl voraussetzen.]
Die anderen Diskussionsteilnehmerinnen waren Heide Schwochow, heute Drehbuchautorin, damals in der Kinderhörspielabteilung des DDR-Rundfunks – die berühmte Nalepastraße – und (auch formal) ausreisewillig sowie Evelyn Finger, die das Jahr 89 als Abiturientin in Halle erlebte, an der Saale, klar, und dennoch heute das elegant benamste Ressort „Glauben und Zweifeln“ der ZEIT leitet.
[Ein Ressort „Wissen“ gibt es übrigens auch, was allerdings etwa achtmal so viel Platz in der Wochenzeitung hat, es wird eben doch lieber gewusst als geglaubt oder gar gezweifelt.]
Moderiert wurde das sonntagnachmittägliche Radio-Café vom wie eh und je umschwärmten Thomas Bille.
[Den Begriff „Kanzelschwalben“ nutzte ich leider bereits in meinem letzten Bericht über ein ähnliches Ereignis und muss hier bedauerlicherweise auf ihn verzichten.]
Bei schönstem Spätsommerwetter war der Saal des Kleines Hauses immerhin halbvoll oder erschreckend halbleer, ganz wie man will. Auch dies ein Beleg dafür, dass alles relativ ist im Leben, auch der Blick auf den Herbst 89, der doch sehr von der eigenen Position abhängt, damals wie heute.
Die Abwesenden haben eine Diskussion verpasst, die – ohne nun gänzlich neue Erkenntnisse zu erzeugen – sich auf durchgängig sehr hohem Niveau mit der Geschichte der friedlichen Revolution und mehr noch mit dem heutigen Umgang mit dieser befasste. Ganz ohne Anekdoten kommt eine solche Debatte natürlich nicht aus, aber jene waren klug gewählt, ob es nun um die ungewöhnlich freundlichen DDR-Grenzer in Schmilka bei der Rückkehr aus dem Ungarn-Urlaub im September 89, um die Gelenkigkeit in der Halsgegend des Stabü-Lehrers [„Staatsbürgerkunde“, liebe oben erwähnte Randgruppe, eine Mischung aus Koranschule, Priesterseminar und Blinde-Kuh-Spiel, nur mit sozialistischem Inhalt] oder ganz im Gegenteil um die geistige Ungelenkigkeit einer überforderten Hannoveraner Lehrerin, die zu dieser Zeit auf ein eben ausgereistes Ost-Kind [nicht mit „ausgerissen“ zu verwechseln, das hatte alles seine Ordnung] mit erfahrungsbedingt hoher Politisierung traf, ging.
Jene Heide Schwochow, von der diese Geschichte stammte, begründete zuvor auch sehr einleuchtend, warum man als Familie – trotz der Möglichkeiten über Ungarn – lieber den eigenen Ausreiseantrag genehmigt bekommen wollte.
[„Besser durch den Vorderausgang schreiten als aus dem Klofenster klettern“ hat sie zwar nicht gesagt, aber so in etwa hab ich sie verstanden.]
Dass jene Bewilligung nun ausgerechnet am Vormittag des 9. November eintraf, führte an diesem Tage dann sicher gleich zweimal zu größeren Gefühlsausbrüchen, auch dies eine schöne Anekdote, welche noch besser wird, wenn man erfährt, dass Familie Schwochow (Mutter und Vater Rainer als Drehbuchautoren und Sohn Christian als Regisseur, ja, der vom „Turm“) kürzlich sozusagen als Ringschluss ein Fernsehspiel namens „Bornholmer Straße“ fertigte, das jene abendlichen Ereignisse am 9.11. vor 25 Jahren schildert und am 5. November in der ARD zu sehen sein wird, welche nun auch schon seit fast so lange nicht mehr mit „Außer Raum Dresden“ ausgesprochen werden kann.
Angesichts der im Rückblick absurden Situation am Grenzkontrollpunkt, wo die Entscheidung eines Einzigen, Oberstleutnant der Grenztruppen der DDR, angesichts einer diffusen Nachrichtenlage und mangelnder Order von oben den Schlagbaum anstelle der MPi zu heben, über den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmte, wird man dies als Komödie auf den Bildschirm bringen.
Es gab im Verlaufe des Gesprächs einige Merksätze zu notieren, wen wundert’s bei drei Größen der schreibenden Zunft. Ingo Schulze formulierte schön die untrennbare Bindung des eigenen Glücks an das Glück von allen in den besagten Monaten bis zum 18. März 1990, auch dies so ein Datum. Evelyn Finger nannte in der Rückschau die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der DDR an sich selbst und deren erlebte Wirklichkeit als das prägende Merkmal dieses Staates und Heide Schwochow verwies auf die Ambivalenz der (allermeisten) Menschen, für die ein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema nicht passen würde. Auch der Alltag in der DDR war nicht nur systemgeprägt, es wurde auch ohne Zutun der Partei geliebt und gelacht, geheult natürlich auch.
Thomas Bille fragte dann nach dem „Wenderoman“ und ob es so einen überhaupt gäbe bisher oder künftig geben könnte. Und obwohl da einige in Frage kämen, jeder ein bisschen, wurde dieser große Wurf so definiert, dass er aus dem Westen kommen müsse, ohne die dort sehr verbreitete „Westalgie“ natürlich, oder bereits in den Achtzigern im Osten geschrieben worden wäre, auch hier mit mehreren Kandidaten. An beidem ist sicher einiges dran, auch wenn der Begriff eher als Marketinginstrument auf die Buchmessen gehört. Wenn es jemandem gelänge, alle Aspekte dieses Weltenwandels in einem Roman abzubilden, hätten wir sicher einen zweiten Faust, aber ob der mit zwei Teilen auskäme, wage ich zu bezweifeln.
Interessant auch die einhellige Feststellung, dass sich die Debatte um die Umstände und Folgen des neunundachtziger Herbstes außerhalb der offiziellen Anlässe fast ausschließlich zwischen Ostdeutschen abspielen würde, erst in letzter Zeit sei z.B. in der gleichnamigen Wochenschrift eine Tendenz zu beobachten, dass man sich auch ohne biographischen Hintergrund mit diesem Jahrhundertereignis beschäftige. Erklärbar ist das sicher, schließlich unterschieden sich die Veränderungen in Ebersbach (Fils) zu Beginn der neunziger Jahre doch erheblich von jenen in Ebersbach (Sachs), und seitdem ist in beiden Partnerstädten nicht so sehr viel in dieser Beziehung passiert.
[Gut, das sächsische Ebersbach, das eigentlich in der Oberlausitz liegt, um das mal klarzustellen, hat sich inzwischen mit dem Nachbarflecken Neugersdorf per Bindestrich vereinigt, halb gezogen, halb gesunken, und strebt nun vielleicht den Titel „Ort mit dem längsten Namen“ an, der sicher die Reisebusse anlockt, aber sonst war wirklich nicht viel.]
Auch nicht neu (aber was überrascht nach 25 Jahren noch?), doch immer wieder neu beklagenswert ist der Fakt, dass mit dem Zusammenbruch des „linken Erlösungsversprechens“ namens real existierender Sozialismus der Gesellschaftsordnung hinter der Mauer ein potentielles Gegenmodell abhanden kam, das allein durch seine schlichte Existenz schon eine gewisse Wirkung hatte.
Wer will denn heute noch ernsthaft für ein anderes politisches System werben, jenseits von Marktkonformitäten, wenn einem postwendend das relativ frisch vergurkte Experiment im östlichen Europa um die Ohren gehauen werden kann? Ingo Schulze vor allem sind diese Betrachtungen zu danken, auch der Schwenk zum Einkaufsverhalten, mit dem man sich heute zumindest moralisch schuldig machen könne oder aber eben auch nicht.
Für das Thema Gerechtigkeitsdefizit, das immer noch zwischen den damaligen Widerständlern und den Mitläufern herrsche, weil jene meist bessere Startbedingungen in das neue System hatten, durch das Rückwirkungsverbot viele in Staatsnamen begangene Vergehen ungesühnt blieben und sich z.B. für die Opferrente außer den Betroffenen sich kaum jemand interessiere, blieb am Ende der anderthalb Stunden genauso wenig Zeit wie für eine Diskussion des beliebten Begriffs „Unrechtsstaat“. Allein diese hätte mit all ihren Facetten sicher noch einmal neunzig Minuten gebraucht, und ob es ein klares Ergebnis gegeben hätte, sei dahingestellt, eher wohl ein Unentschieden.
Mit diesem Radio-Café hat Figaro nicht nur einen anspruchsvoll-unterhaltsamen Nachmittag gestaltet, sondern auch den Auftakt zu „Eine Woche im Oktober – 25 Jahre friedliche Revolution“ des Staatsschauspiels Dresden gegeben. Ab dem 3.10. wird eine Themenwoche mit Theater, Performances, Lesungen, Konzerten und Diskussionen sowie gar einem eigenen abendlichen Radiokanal mit dem Jubiläum auseinandersetzen, hier gibt es Näheres dazu:
http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/spielplan/rahmenprogramm_eine_woche_im_oktober/beschreibung/
Es wird zu berichten sein.
Aber den Schlusspunkt dieses Textes darf Ingo Schulze setzen, der wie er erzählte seine Profession anlässlich einer chinesisch-amtlichen Nachfrage bei der dortigen Einreise so beschrieb: Er „schreibe – wie alle Schriftsteller – über Liebe und Tod vor wechselnden Hintergründen, und in seinem Falle nicht in Versform.“ Damit wäre zumindest das geklärt.
Reif für die Inseln
„Schöne neue Welt“ nach dem Roman von Aldous Huxley (Theaterfassung von Robert Koall) am Staatsschauspiel Dresden, Regie Roger Vontobel, Uraufführung am 12. September 2014
…
Was war dies nun?
Die Uraufführung eines Stücks Weltliteratur am Theater – schon das ist Grund zur Freude.
Die stimmige Übertragung dieses Textes auf die Bühne – man kann dabei gern von großer Werktreue sprechen.
Ein sinnliches Ereignis? Teils. Die Musik trug sehr zur Atmosphäre bei, das Bühnenbild bot manchmal Überraschendes, die Kostüme hatten ihre eigene Sprache, aber es fehlte die große Linie dahinter.
Die Interpretation eines immerhin achtzig Jahre alten Stoffes unter Verarbeitung der Weltgeschichte seitdem? Nein. Das bleibt folgenden Produktionen vorbehalten.
…
Kleingießhübel – Eine Reiseempfehlung
Am Ende der Lindenstraße beginnt die Wildnis, wo das Krümelmonster haust und Glückspilze massakriert werden. Die Wildnis nennt man auch Kleingießhübel, Stadt der Friseure mit der Spezialisierung auf Pechsträhnen. …
„Wildnis“, ein Landschaftstheater mit Bewohnern der Sächsischen Schweiz
Kooperation der Gemeinde Reinhardtsdorf-Schöna, der Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden und Theater ASPIK
Den großen Spaß, dieses Spektakel anzuschauen, hat man leider nur noch am nächsten Wochenende: Am 13. und 14. September jeweils um 15 Uhr vor Ort in Reinhardtsdorf-Schöna, Sporthalle. Der Shuttle-Bus fährt jeweils 13.30 Uhr vom Staatsschauspiel Dresden.
Dies ist auf absehbare Zeit die letzte Gelegenheit, ein Landschaftstheater in dieser Gegend zu erleben. Es wird dringend zugeraten.
Fast das halbe Sachsen
Immerhin: Fast jeder zweite Mensch in Sachsen, der dazu berechtigt war, unterzog sich der Mühe, an einem August-Sonntag, dem letzten der Sommerferien, sich in eines der etwa 4.000 Wahllokale zu begeben und an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Beziehungsweise tat er das schon früher per Briefwahl, eine Form, die immer beliebter zu werden scheint (in Dresden tat dies ein knappes Sechstel aller Wahlberechtigten).
Wenn man noch die ungültigen (Listen-) Stimmen herausrechnet, wurde der neue sächsische Landtag von gerade mal 48 Prozent der Bevölkerung gewählt.
Am Ende entschieden dabei wenige hundert Stimmen über das Unterschreiten der Fünf-Prozent-Hürde durch die NPD und auch über deren (finanzielles) Schicksal. Den Ärger über die zeitweilige Rettung der Strukturen der Neo-Nazis hat sich der Freistaat knapp erspart, und auch deren Kosten.
Die CDU möge das nicht feiern: Ihr ist es zu verdanken, dass der Wahltermin an das Ende der Ferien fiel. Still und geräuschlos sollten Wahl und Wahlkampf ablaufen, dafür nahm man auch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung in Kauf, die tendenziell eher den kleinen Parteien nutzt.
Während ihr Lieblingskoalitionspartner jedoch auch diese Hilfestellung nicht nutzen konnte und die AfD sich letztlich in ganz anderen Regionen bewegte, hätten die Christdemokraten sich nun fast den Titel „Steigbügelhalter der NPD“ verdient, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen.
Die FDP, deren Vorsitzender Zastrow sich am Wahlabend ratlos zeigte, was man noch mehr hätte unternehmen können, scheiterte letztlich deutlich, auch wenn man sich noch so deutlich vom Bund und „von Berlin“ abgrenzte, die Marketing-Maschine in den letzten Wochen auf Hochtouren lief und das FDP-geführte Wirtschafts- und Verkehrsministerium zuletzt die Förderbescheide öffentlichkeitswirksam im gefühlten Stundentakt ausreichte und noch jeden neu gebauten Papierkorb feierlich einweihte. Da wurde ein totes Pferd geritten, um in der Sprache der Werber zu bleiben.
Man darf gespannt sein, ob in den nächsten fünf Jahren ein Wiederaufbau gelingt und vor allem in welche Richtung er geht. Auch die kommunalpolitische Basis ist deutlich schmaler geworden, und die AfD steht sicher bereit, die Insolvenzmasse zu übernehmen.
Erfahrung mit Insolvenzen hat sie in Sachsen ja, auch wenn diese Anmerkung nicht ganz fair ist. Wer zehn Prozent holt, der muss schon ernst genommen werden, selbst wenn er inhaltlich kaum greifbar ist und eher vom diffusen Unbehagen des Wahlvolks lebt. Der zweite Einzug in ein Parlament nach dem der EU ist sehr ärgerlich, war aber zu befürchten, und er wird sicher auch nicht der letzte bleiben. Dennoch, in welche Dschungel man als Rechtspopulist geraten kann, lässt sich aktuell an Ronald Schill betrachten, die AfD wäre nicht die erste Shooting-Star-Partei, die sich im politischen Alltag schnell entzaubert.
Die Tatsache, dass die Sitze rechts der CDU seit heute verdoppelt haben, ist jedoch eindeutig die schlechteste Nachricht des Abends.
Überhaupt, die CDU: Die hat vor allem die Weisheit berücksichtigt, dass man, wenn man nichts mache, dann auch nichts Falsches täte, und ist mit dem Landesvati-Image von Herrn Tillich gut gefahren. Dennoch schmolzen auch deren Wählerstimmen, vor allem in absoluten Zahlen, langfristig weist der Trend stetig nach unten. Da wird man sich etwas einfallen lassen müssen in fünf Jahren, das über die Ball-Halten-Taktik hinausgeht.
Aber erstmal kann man sich den neuen Koalitionspartner aussuchen. Es dürfte in der CDU einige geben, die nicht die Natter Dulig am Regierungsbusen nähren wollen, der seiner SPD einen Zuwachs von über zwei Prozent bescherte, was in Sachsen immerhin ein Viertel des bisherigen Ergebnisses bedeutet. Man kommt dort aus einem tiefen Keller, aber es ist zu erwarten, dass ein Minister Dulig in fünf Jahren nochmal deutlich zulegen könnte.
Die Grünen hingegen sind in dieser Beziehung weniger gefährlich, aber inhaltlich deutlich sperriger. Nach einem Wahlergebnis, das man auch beim besten Willen nicht als Erfolg bezeichnen kann, vom Wiedereinzug ins Parlament vielleicht abgesehen, der auch nicht ganz sicher war, werden sie vsich wohl kaum der Zerreißprobe aussetzen wollen, die eine Koalition mit der in Sachsen besonders konservativen CDU bedeuten würde.
Aber nun wird erstmal verhandelt.
„Außen vor“, wie der Wessi sagt, bleibt dabei die Linke. Trotz eines stabilen Ergebnisses von knapp 20 Prozent fehlt ihr anders als in Thüringen dank der Schwäche der potentiellen Partner eine Machtoption. So stellte man sich schon kurz nach der Wahl weiter als DIE Opposition in Sachsen dar und richtet sich auch für die nächsten fünf Jahre in dieser Rolle ein, die zumindest keine unpopulären Entscheidungen erfordert.
Die Piraten bewegen sich inzwischen auf dem Niveau der Tierschutzpartei, ihre großen Zeiten sind wohl endgültig vorbei. Freie Wähler können in Sachsen weiterhin nicht landen, und auch alle anderen Parteien spielen keine Rolle.
Wenn man – natürlich rein theoretisch – die AfD als eine Kreuzung aus FDP und NPD begreift, hat sich in Sachsen so gut wie nichts geändert an diesem Abend. Nur der Juniorpartner der CDU wird ein neuer werden.
Götter fallen vom Himmel
„Kleider machen Bräute – Ein Shakespeare von den Amazonen“, Buch und Regie Peter Förster, gesehen am 31. Juli 2014 im Bärenzwinger Dresden
Das ausdauerndste Sommertheater Dresdens (rekordverdächtig mit 42 Aufführungen in siebeneinhalb Wochen) hat auch in diesem Jahr ein neues Stück auf Lager, die bewährte Rezeptur lautet Vermischung von (mindestens) zwei Klassikern, gut verrührt mit reichlich Blödelei und einer Prise aktueller Bezüge. Der Impresario Peter Förster hat mit den Werken der letzten Jahre (herausragend für mich „Zar und Zimmermädchen“ aus 2011 und „Eine für Alle“ vom Vorjahr) die Latte sehr hoch gehängt, was diese besondere Art von Theater angeht. Aber jedes Mal Weltmeister werden ist schwierig, wie man an diesem Abend merkt.
Diesmal also ein Potpourri der griechischen Sagen, die Geschichte dreht sich im Wesentlichen um Zeugung und Heldentaten des Herkules. Mit etwas gutem Willen lässt sich auch Shakespeare mit dem „Sommernachtstraum“ als Pate ansehen, insofern geht der Untertitel des Stücks dann doch irgendwie in Ordnung, obwohl Förster bei seiner gewohnt launigen Einführung jedweden Bezug zum Inhalt verneint und stattdessen auf Marketing-Notwendigkeiten verweist. Die Geschichte von der Saalrunde, die beim Telefonklingeln fällig wäre und die bislang als Einziger der Meister selber zahlen musste, ist – wenn schon nicht wahr – dann zumindest sehr gut ausgedacht. Dass man zuvor die Karten am Einlass beim Direktor höchstselbst kaufen konnte, macht einen Teil des Charmes dieses Sommertheaters aus, und der (seit einigen Jahren überdachte) Innenhof des Bärenzwingers ist eine ideale Spielstätte für diesen Zweck.
Außer Tobias Wollschläger ist niemand mehr vom letzten Jahr dabei, was jenen seine Haupt- und Platzhirschrolle gebührend herausstreichen lässt zu Beginn. Doch die vier anderen können mithalten, Benjamin Elstner muss bei der Vorstellung einen albernen Witz über seine Herkunft („aus dör Nöhe von Ölsterwörda“) erdulden, den Damen Guylaine Hemmer, Christine Scheibe und Cathrein Unger bleibt solche Pein gottlob erspart. Alle liefern eine solide Leistung und werden (fast zu) oft mit Szenenapplaus des lachfreudigen Publikums im nahezu vollbesetzten Rund belohnt.
Nur das Stück selbst kommt irgendwie nicht in die Gänge. In Theben erscheint Zeus der Alkmene in Gestalt ihres vom Einsatz in Troja zurückerwarteten Gatten Amphitryon und zeugt bei dieser Gelegenheit Herakles, auch als Herkules bekannt. Hera (die in dieser Interpretation erst später von Zeus geehelicht wird) hat ihn zuvor in der Asservatenkammer des Olymp passend eingekleidet. Die Täuschung fliegt schnell auf, als der richtige Amphitryon heimkehrt und seine Hausschuhe begehrt, doch die normative Kraft des Faktischen wirkt auch hier, Sohnemann Herkie weiß nichts von seiner höheren Abstammung und hat Vati und Mutti lieb.
Dessen Geburt erfolgt anfangs unter dem Kommando einer mehr als resoluten Hebamme, die dann aber lieber hinwirft und Ernährungsberaterin wird, nicht ohne zuvor allen überbesorgten Müttern beiderlei Geschlechts noch ordentlich eins mitzugeben. Stellenweise ist das witzig, aber es fehlt an einer Story, die Szenen stehen nur nebeneinander.
Dass Zeus sich dann während der Werbung um Hera dem Publikum gegenüber als „Meister der Flitterwochen“ bekennt, der den Brautstrauß bei der Hochzeit immer selber fängt und mit dem „Danach“ nichts mehr zu tun haben möchte, zählt zu den hübschesten Momenten im Stück. Nur Hera ahnt davon noch nichts und wiegt sich in den Illusionen einer Götterbraut.
Bis zur Pause finden noch einige preiswerte Witzchen ihr dankbares Publikum.
Danach geht es mit Mitmachtheater weiter, die (korrekt zitierten) zwölf Aufgaben des Herkules, die die verschnupfte Hera dem Zeus’schen Balg stellt, sollen und wollen mit „Ah“, „Oh“ und „Hmm“ gewürdigt werden. Das funktioniert hervorragend.
Im Gegensatz zur klassischen Vorlage darf der Held die Reihenfolge frei wählen, und nachdem – wir springen dramaturgisch ein wenig – elf bewältigt wurden, bleibt als letzte die Beibringung des Gürtels der Amazonenkönigin übrig.
Ein feudales Frauenbild (Zeus) trifft auf gender mainstreaming (Herkules), die Schauspielerinnen haben dann Gelegenheit zum Kostümwechsel und zu einem fulminanten Chorauftritt von aggro bis spirituell. Die eigentlich dem Paris zukommende Fangfrage nach der Schönsten von den Dreien wird hier Herkules gestellt, als Schnäppchen gibt es dazu wahlweise die Weltherrschaft, die Weisheit oder die Liebe zu gewinnen. Herkules versucht sich in Pluralismus und erfindet die Schwarmschönheit („Ihr Drei seid die Schönste“). Gute Idee, aber leider nicht praxistauglich. Oder die Welt ist noch nicht bereit, wie Tocotronic schon vor Jahrzehnten treffend feststellten.
Zeus hängt inzwischen in der automatisierten Warteschleife des Orakels von Delphi („Ich habe Sie leider nicht verstanden“), für mich die beste Szene des Stücks.
Irgendwie fügt sich alles aber doch, Herkules kehrt mit dem Gürtel heim, in welchen sich noch die in Liebe zu ihm entbrannte Amazonenkönigin Hyppolyte befindet. Beim großen Finale werden die Familienverhältnisse geklärt, Herkules wird zum Halbgott befördert, lehnt dies aber aus moralischen Gründen ab und bekennt sich zum Stiefpapa Amphitryon. Zeus, Gott und Mistkerl in Personalunion, hat jetzt einen schweren Stand, und während Hyppolyte und Herkules sich zum Happy-End finden und Hera und Athene einfach so weitermachen, droht er vom Himmel zu stürzen.
Aber so heiß wird das sicher nicht gegessen, und mit einem versöhnlichen Goethe-Vers zum Thema endet das Spektakel.
Sehr heftiger Beifall einschließlich des gefürchteten Im-Takt-Klatschens erschallt. Der Begeisterung kann ich mich jedoch nur bedingt anschließen. Sicher, der Abend ist stellenweise unterhaltsam, die schauspielerischen Leistungen sind sehenswert, aber es gab dann doch auch große Längen, ein Handlungsfaden war kaum erkennbar.
Doch man kann sich gern selbst ein Bild machen: Noch bis zum 7. September täglich außer Montag, immer 20 Uhr im Bärenzwinger unterhalb der Brühlschen Terrasse.
