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Kunst am öffentlichen Verkehr – legitimes Recht oder illegale Inbesitznahme?

Einige subjektive Betrachtungen, inspiriert von einem mailwechsel

Alles begann mit einem Hinweis auf der Plattform cynal.de:

Conceptual Vandalism

03.12.2012 14:57

“ Eine ganz kriminelle Ausstellung“

Mitte der 1980er schwappte das US-amerikanische Phänomen U-Bahn Wagen zu besprühen nach Europa über. Da es in wenigen Städten großflächige Metrosystem gab, konzentrierte man sich auf andere Nahver­kehrsmittel . S-Bahnen und Regionalzüge schienen das perfekte Pendant zu sein, um die amerikanischen Vorbilder zu imitieren. Die Writing Ideologie “Schreibe deinen Namen so oft wie nur möglich auf Züge” wurde dabei übernommen.
Seit 2000 sind neue Tendenzen zu entdecken. Das simple Namedropping wurde einer Gruppe Sprüher zu langweilig. Sie entwickelten neue Strategien auf Zügen zu malen. Bis 2009 war es eine kleine Gruppe an Zugkünstlern, die sich vom klassischen Writing auf Zügen getrennt haben. Seitdem scheinen, durch den Einfluss des Internets, immer mehr Writer das “Züge Verkunsten” als ernsthafte Strategie zu begreifen.
Conceptual Vandalism fasst eine Gruppe Zugmaler zusammen die bereits vor 2009 im non-writing Kontext konzeptuell auf Zügen arbeiteten.

Werke der Ausstellung

Die Originalkunstwerke werden in Deutschland immer binnen kürzester Zeit zerstört. Die Fotografie ist das am weitesten verbreitete Medium zur Dokumentation der Werke.
Deshalb zeigt die Ausstellung vor allem dokumentarische Fotografie. Ergänzt wird der Inhalt durch Skizzen, Objekte, Videos und Internetinhalte.

Künstler

An der Ausstellung beteiligen sich Künstler, die nicht öffentlich in Erscheinung treten. Die Künstler agieren ausschließlich im Untergrund. Zugmalerei ist bis heute illegal und wird strafrechtlich verfolgt.

Kurator: Jens Besser

 

Der Verfasser fühlte sich berufen, seine Meinung als Kommentar dazuzugeben:

„Züge verkunsten“, so kann man das auch nennen.
Unabhängig vom künstlerischen Wert der Hervorbringungen und von der Diskussion, ob man ohne weiteres anderer Leute / Firmen Eigentum als Grundfläche für seine Arbeiten nehmen sollte: Ich schau gerne aus dem Fenster in der S-Bahn. In der Straßenbahn ist das ja inzwischen meist durch Werbung verklebt.

Was ich wirklich schick fände, wär mal eine farbenfrohe Aufhellung der inzwischen unzähligen Stadtgeländewagen, aber privates Eigentum scheint höher zu stehen als quasi-öffentliches. Schade.“

Der Kurator Jens Besser antwortete prompt und ausführlich. Es entspann sich eine Diskussion per mail, die kurzzeitig und teilweise auf dem blog teichelmauke.me dokumentiert wurde, dort aber wegen einiger Missverständnisse nicht mehr zu finden ist.

Davon angeregt, entstand aber der folgende Text, der nicht den Anspruch haben soll, ein „Urteil“ zu fällen, aber dank der vorausgegangenen Debatte etwas gelassener mit dem Thema umgeht.

 

 

Zunächst einmal ist festzustellen, dass wir alle in (rechtlich) sehr geregelten Verhältnissen leben. Für jeden Lebensbereich gibt es unzählige Gesetze, Richtlinien und Vorschriften, und wenn doch mal eine Lücke auftaucht, hilft meist das Bürgerliche Gesetzbuch.

In diesem nimmt das Eigentum einen prominenten Platz ein. Auch durch die Verfassung ist es geschützt, obgleich dort auch die Wendung „Eigentum verpflichtet“ zu finden ist.

Wenn also jemand (A) hergeht, das Eigentum eines anderen (B) mit was auch immer zu ver­sehen, ohne dass ihm dessen Einwilligung vorliegt, ist dies in unserer Gesellschaft Unrecht, und B kann erwarten, dass deren Vollzugsorgane gegen A aktiv werden, um B zu seinem Recht zu verhelfen. So weit, so theoretisch.

 

Schwieriger scheint die (mentale) Lage zu sein, wenn es sich bei B um ein Unternehmen im Be­sitz des Staates (also von uns allen) handelt und bei A um einen ambitionierten Künstler, der seinen Werken damit öffentliche Aufmerksamkeit bescheren will, auch, um Nachdenken zu provozieren und für Aufklärung zu sorgen (oder zumindest das, was er dafür hält). A beruft sich dabei auf die Kunstfreiheit und die positiven Reaktionen, die er gelegentlich erfährt.

„Juristisch“ ändert das natürlich nichts, aber darum soll es hier nicht gehen. Ich will ein wenig über die etwaige moralische Rechtfertigung oder mögliche Alternativen nachdenken.

 

 

Einen „Notstand“ zu definieren, bei welchem die Gesetze nicht mehr gelten, dürfte selbst dem glühendsten Verfechter dieser Kunstform schwer fallen. Unzweifelhaft ist Kunst dringend notwendig, aber aus der Verhinderung einer sehr kleinen Sparte davon erwächst noch kein Recht zum Regelbruch.

Auch die Krokodilstränen, die wegen der gewöhnlich schnellen Zerstörung dieser Schöpfungen vergossen werden, können mich nicht rühren. Jeder Sprüher weiß das vorher, und jedes infra­ge kommende Werk mit dem Titel „Kunst“ zu schmücken und ihm damit den Status einer heili­gen Kuh zu verschaffen, scheitert an der fehlenden Ausstattung der Fahrzeugwerkstätten mit künstlerischem Fachpersonal.

Hier sei auch auf „Nipple Jesus“ verwiesen, ein Stück von Nick Hornby, das derzeit am Schau­spielhaus läuft. Hier ist die Zerstörung (und deren Dokumentation) eines Bildes das eigentliche Kunstwerk, was sich aber sicher nicht 1:1 übertragen lässt.

 

Berechtigterweise kann man nun einwenden, dass „legal“ diese Kunst so gut wie unmöglich sei, da Unternehmen wie B im Allgemeinen nicht von Leuten geleitet werden, die für ihre Kunstsin­nigkeit bekannt sind. Aber auch das reicht als Argument bei weitem nicht aus, die von B meist so genannte „Sachbeschädigung“ zu vollziehen.

 

Interessanter ist aber die Frage nach einem „öffentlichen Interesse“. Ist es für die Gesell­schaft wichtig, solche Kunstformen zu fördern, auch wenn diese sich bisher meist illegaler Methoden bedienen? Hier fällt mir ein „Ja“ nicht schwer, auch wenn die Meinungen über den Grad des Interesses der Öffentlichkeit zwischen Jens Besser und mir deutlich auseinander­gehen.

Nur, wie? Natürlich gibt es auch hier Behörden und Institutionen, die sich dafür zuständig fühlen müssten, wir haben ja sogar auch seit mehr als zehn Jahren einen Bundeskultur- äh, Beauftragten. Nur ist es sicher illusorisch zu glauben, dass beispielsweise das Dresdner Kul­turamt die Sprayflaschen kaufen würde, mit denen dann nachts die S-Bahn verkunstet wird.

 

Die Lösung kann ja nur sein, dass diese Institutionen behilflich sind, diese Kunstform in die Legalität zu überführen, indem sie vermitteln, fördern und organisieren. Dass dies ein dickes Brett ist, was zu bohren wäre, weiß ich selbst.

(Ich habe allerdings den leisen Verdacht, ohne ihn mangels Szenekenntnis belegen zu können, dass für einige Akteure dann der Reiz des Nervenkitzels entfiele und sie ihre gewohnte Ar­beitsweise fortsetzen würden. Aber das ist nur eine Behauptung.)

 

Dies hätte übrigens einen weiteren Vorteil: Die Arbeiten würden zuvor kuratiert werden. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, muss man sich ja doch oft viel Schrott ansehen, auch handwerklich betrachtet (ok, das ist subjektiv).

Das ist nämlich meiner Meinung nach neben der Unrechtmäßigkeit der zweite große Mangel an der aktuellen Situation: Jeder, der sich traut und eine Sprühflache halten kann, verschafft sich ein Podium, egal, ob er eine anspruchslose Sammlung von Tags produziert oder ein ambitio­niertes Bild. Ich hatte mich im mailwechsel mit dem Kurator auch schon über die Arroganz jener ereifert, denen das Zuglayout zu langweilig sei und die es deshalb nach eigenem Duktus aufhübschen wollten.

 

Nicht, dass ich glaube, das oben Geschilderte wäre illusorisch. „Irgendwann“ kann ein solcher Zustand eintreten, Jens Besser erwähnte auch einige entsprechende Aktivitäten. Der Zeit­raum bis dahin dürfte allerdings ein großer sein. Also was tun, bis es soweit ist?

 

 

Meiner Meinung nach gibt es keine dringende Notwendigkeit, auf Fahrzeuge zu sprühen (die Experten werden vielleicht widersprechen). Die Werke wirken ebenso auf bewegungslosen Flächen, auch wenn sie dort vielleicht nicht dieselbe Reichweite erzielen. Und es gibt überall genug Ruinen, denen eine Gestaltung gut täte (auch dies ist an sich nicht rechtmäßig, aber deutlich unproblematischer).

Nur wird diese meine Meinung die Protagonisten der Szene nicht sonderlich interessieren, es wird also weitergehen mit dem Sprayen, wobei zu hoffen ist, dass parallel eine „legale Szene“ heranwächst, die sich dann – auch dank der zu erwartenden qualitativen Überlegenheit – irgendwann durchsetzen wird.

Dass diese sich dann natürlich aus dem vormals illegalen Agieren herleitet und dort ihre Wurzeln hat, ist unbestritten. Und im Umkehrschluss würde sich daraus auch eine gewisse Legitimation der wilden Sprayerei ergeben, originellerweise aber eben erst in dem Moment, wo genug gesellschaftliche Akzeptanz vorhanden ist. Ich denke, dass es da viele Parallelen zu anderen Entwicklungen gibt, nur leider meist mit dem Unterschied, dass sich die Vorreiter nicht illegaler Methoden bedienten resp. bedienen mussten.

 

 

Abschließend: Beim Mailwechsel mit Jens Besser habe ich auf diesem Felde vieles dazugelernt, ich sehe jetzt einiges differenzierter. Zum Konsens sind wir aber nicht gelangt, wie auch.

Ein Zitat von ihm: „Sprüher sehen ihre Werke eben als Kunst und nicht als Vandalismus.“ Ja, gern, aber auch die Kunst heiligt nicht alle Mittel.

 

Ich wünsche mir sehr, dass es mehr Kunst im öffentlichen Raum gibt, auch auf Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs. Ich denke aber, dass das noch ein langer Weg ist, und ich glaube nicht, dass das eigenmächtige Besprühen von Zügen uns da wesentlich voranbringt. Es verhärtet eher die Fronten. Hier ist Vermittlung gefragt, und vielleicht auch mal eine Art Waffenstillstand.

 

Das bunte Leben in schwarz-weiß

Oh Boy,

Ein Berlinfilm wie man ihn noch nicht gesehen hat.
Eine Wiedergeburt des Film Noir. Fast jedenfalls.

„Das Einzige was ich noch für dich tun kann ist nichts mehr für dich zu tun“. Sagt der Vater und hat vermutlich recht.

Wie nicht von dieser Welt irrlichtert ein hauchzarter Nico (Tom Schilling) durch Berlin, ohne Studienplatz, ohne Job, ohne Ziel.

Es kommen vor:
Ein sexuell frustrierter Nachbar mit Mitteilungsdrang.
Eine Debilkorrekte Filmproduktion.
Eine Fahrscheinkontrolle mit internen Problemen.
Ein Koksservice mit lieber Oma.
Ein Schrei- und Stöhntheater mit empfindsamem Chroreographen.
Eine Jugendbande mit schwerer Kindheit.
Eine Psychotante mit demselben Problem, aber einer scheinbar netten Lösung.

Berlin halt.

Gwisdek in gewohnter großer Rolle, „aus heutiger Sicht gab es damals nicht“.
Dann Charité.  Dann Tod.

Und richtigen Kaffee gibt es nicht für Nico.
Sonst passiert eigentlich nicht viel.

Muss auch nicht. Tolles Kino.

Von Jan Ole Gerster. Noch nie gehört. Geht auch nicht. War sein erster.

Es war nicht alles faul im Staate Dänemark.

„Hamlet“ von William Shakespeare in der Regie von Roger Vontobel, gesehen am 24. November 2012 im Staatsschauspiel Dresden (Premiere)

Vor dem Hause wird der Budenzauber vorbereitet, drinnen ist er schon in vollem Gange. Eine Bühne in der Bühne, ein Konzert im Stück.

Hamlet kommt ein wenig wie Dirk von Lowtzow daher, eine stolze Mutter und ein leicht genervter Onkel (und nunmehr Stiefvater) im Publikum. Ophelia geht richtig ab beim Requiem der Christian-Friedel-Combo für Hamlet senior, wie viele junge Dinger im Saal.

Die Musik irgendwo zwischen Placebo und Die Art, gar nicht übel.

Rosenkranz und Güldenstern (die erinnern mich an die Zwillinge aus dem Turm, wobei es natürlich andersrum ist) haben einen Auftrag: Hamlet bespaßen und überwachen. Jener scheint als unzuverlässig.

Währenddessen wird Ophelia vom Bruder Laertes über die Gesetze des königlichen Heiratsmarktes aufgeklärt, will aber nicht hören. Ihr Vater Polonius (auf gewohnt hohem Niveau Ahmad Mesgarha) hält Hamlet für einen Schnepfenjäger, das folgende Drama wird musikalisch untermalt. Dieses Stilmittel erschöpft sich langsam, wird aber unverdrossen zum Einsatz gebracht. Wegen zwei Songs lässt man ja auch keine Band kommen.

Auf einmal ist Polonius bekehrt und glaubt an die (wahnsinnige) Liebe des Hamlet zu seinem Töchterlein, warum, wird nicht recht ersichtlich. Aber es gibt sicher schlechtere Gründe für den Wahnsinn.

Hamlet monologisiert, der König schenkt sich nach. Das kann dauern.

Dann noch ein dreihändiges Trauerspiel, langsam reicht es, nicht nur dem König.

Der erste Videoblock, mir hat schon was gefehlt. Polonius petzt. Ophelia soll es beweisen, jetzt macht die Kamera auch Sinn.

Bewiesen wird der (scheinbare) Wahnsinn, nicht aber der Grund. Eine grandiose Szene.

Hamlet soll nun nach England, zur Kur vermutlich.

Aber zuvor noch Auftritt eines angry young man. Hier zeigen sich dann doch die (musikalischen) Grenzen von Christian Friedel. Er rockt das Publikum im Saal, oder macht zumindest das, was er dafür hält. Im zweiten Rang ist man dennoch begeistert.

Der König bricht das Spektakel ab, zurück zum Theater.

Torsten Ranft in einem großen Monolog, nicht nur hier absolut überzeugend. Abgang mit Schunkelmusik, hübsche Ironie.

War Hamlet senior wirklich so ein Goldstück? Egal, seinem Sohnemann wird eindeutig zu kurz getrauert. Der Freund Horatio (Sebastian Wendelin angenehm gelassen) ist pragmatisch, the show must go an. Aber der Unglückswurm Hamlet steigert sich in seinen Verdacht.

„Die Kunst der Bühne“ soll nun den Mörder entlarven, Hamlet hat eine hohe Meinung von der Macht des Theaters. Die Kraniche des Ibykus fliegen mit Hilfe eines musikalischen Intermezzos. Der Tathergang wird nachgestellt, dem König ist das eher unangenehm, mir auch.

Die folgende Beschuldigung widerspricht der Staatsräson, die Bühne verschwindet. Das Bühnenbild insgesamt ein großartiges Werk, an der Idee mit der „Einsitzreserve“ könnte man vielleicht noch feilen.

Der Videobeweis kommt zum Einsatz. Ja, es war Abseits, äh, Mord. Oder? Jeder hat da seine eigene Sicht. Pause zum Nachdenken. Und Hamlet senior mustert finster die Szenerie.

Die Spielfläche hat sich geweitet. Der König geht dahin, wo auch er zu Fuß hingeht. Großes Geschäft. Naja. Schön illustriert dabei der Verfolgungs-Wahn.

Audienz bei Frau Mutter. Es zeigt sich eine Vaterfixierung, die man sonst nur von Mädchen kennt.

Das bekannte Shakespearesche Massensterben beginnt, aber es erwischt erstmal den Falschen. Mesgarha hat Feierabend, bleibt uns aber als Leiche erhalten.

Die Mutter-Sohn-Szene verliert sich auf der nunmehr großen Bühne, überzeugt mich nicht. Hamlets Selbstgerechtigkeit wird immer penetranter, immerhin räumt er seinen Müll weg. „Ich bin grausam, um gut zu sein“, das kennt man auch aus anderen Gefilden.

Auch das ein hübsches Zitat: „ …beliebt bei der verworrnen Menge, die mit dem Aug, nicht mit dem Urteil wählt“. Herr Ranft kann sich das Grinsen zum Glück verkneifen dabei.

Hamlet segelt nun gen England und Ophelia in den Wahnsinn. Ein echter, berührend gespielt von Annika Schilling, der an diesem Hause scheinbar alles gelingt. Ebenbürtig Matthias Reichwald als zurückgekehrter Laertes, und Torsten Ranft komplettiert das Trio zur besten Szene des Abends.

Und nun? Ophelia ertrinkt, die Bühne versinkt.

Auf den Brettern ist man nun noch verlorener. Großes Bravo erster Klasse an Claudia Rohner.

Nie sah ich einen schöneren Totengräber. Der Schädel des Spaßmachers taucht auf, eine lustige Idee, das mit dem Bauchreden. Christian Friedel ist jetzt präziser, fessselnder.

Ein Doppelbegräbnis, der Totenvogel fliegt davon. Sicher nicht für lange.

Nun das Duell, die Zwillinge kamen zuvor unbemerkt abhanden. Christian Friedel spielt und stirbt für alle. Genial. Der beste Einfall, um dieses doch eher peinliche Schlachten abzubilden. Respekt, Herr Vontobel.

Abgang, einer nach dem anderen. Nur Horatio hat überlebt. Und Fortinbras spricht Hamlet posthum von aller Schuld frei. Heftiger, langer Applaus, mit Quietschgeräuschen.

Ich sah ein am Anfang überladenes Stück, das umso mehr gewann, je reduzierter die Mittel wurden. Der Einsatz der Band ist vielleicht marketingtechnisch, aber nicht dramaturgisch sinnvoll, finde ich. Er lenkt schlicht ab, auch wenn man sich bemühte, den Schauspielern akustisch Platz zu machen.

Sicher ist kein Vergleich mit dem genialischen „Don Carlos“ angebracht, aber das Stück ist insgesamt sehenswert. Und die Schauspieler tun das Ihrige, auch Christian Friedel, der mit dem Verlassen der Rockstar-Rolle sich wieder auf seinen Beruf konzentrierte.

Übrigens, es war viel Prominenz im Publikum, ich sah neben der versammelten Schauspielerelite des Hauses Herrn Klaußner, Herrn Tellkamp und zu meiner besonderen Freude Herrn Freytag. Und sicher viele andere mehr, doch die sah und/oder erkannte ich nicht. Auch das MDR-Fernsehen streunte durchs Haus.

Ein kleiner Nachsatz: Im Flur hängt ein Gemälde, das Paul Hoffmann als Hamlet zeigt. Der sieht verdammt aus wie Sebastian Wendelin … 😉

Hinterm Horizont geht’s nicht mehr weiter

„Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams in der Regie von Nuran David Calis, gesehen am 22. November 2012 im Staatsschauspiel Dresden (Premiere)

 

Dieser Zug endet hier. Die Ankunft von Blanche im Prekariatsidyll ihrer Schwester ist eher ein Aufprall. Hier gibt es Whiskey zum Frühstück, nicht Himbeereis. Die Stars&Stripes wehen, zur Begrüßung erfolgt eine Kofferdurchsuchung. Nein, Blanche hat keine Geschenke mitgebracht, sie schenkt sich selbst. Nicht alle sind begeistert.

Das erste Duell mit Stanley, dem Mann aus der Arbeiterklasse und außerdem von Stella. Die übliche geballte Ladung Erotik gegen proletarische Gradlinigkeit. Was ist aus Belle Reve geworden, dem schönen Traum von der Zukunft? Nein, nicht verkauft, verloren halt. Weg.

Immerhin scheint jener Stan zur Blutauffrischung der ehrwürdigen Familie DuBois zu taugen. Blanche lässt durchblicken, dass sie da auch zur Verfügung stünde.

 

Die Damen platzen nach ihrem Ausgang in die abendliche Pokerrunde wie ein Schluck Champagner in die Bierbowle. Blanches zartes Anbandeln mit dem naiven Mitch missfällt dem Hausherrn, der ahnt, welch zersetzende Kraft von dem Püppchen ausgeht. Brutal beendet er das Stelldichein, es entstehen die ersten Löcher in der Fassade. Von allen.

Mitch (in ungewohnter Rolle Wolfgang Michalek, aber ebenso großartig wie sonst als kraftstrotzender Bösewicht) startet einen harmlosen Flachlegeversuch, zu harmlos für Blanche. „Geld verschwindet“, weiß diese. Das hohe Roß ist noch nicht tot, aber der animalische Stan imponiert ihr schon, zumindest körperlich. Allerdings beruht dies nur bedingt auf Gegenseitigkeit.

 

Im Hintergrund verrichtet einer sein Geschäft, als sich die Schwestern anbrüllen. Erstaunlich kraftvoll beide, sowohl Ines Marie Westernströer als Stella als auch (an diesem Abend noch mehr) Nele Rosetz als Blanche spielen sich die Seele aus dem Leib. Das Fazit: Stan ist eine Bestie, wird aber geliebt. Eine flammende Rede von Blanche zur Kultiviertheit versickert ohne Wirkung.

Stan hat was herausgefunden. Noch behält er es für sich.

Die bittere Einsicht von Blanche, dass Mädchen jenseits der Dreißig es nicht leicht haben, ist nachvollziehbar. „Männer schätzen nicht, was sie zu leicht bekommen, verlieren aber schnell das Interesse.“ Ja, das Optimum zu finden ist schwer.

 

Mitch ist nun der Hoffnungsträger.

Die Hintergrundbebilderung ist von derber Romantik, als sich Blanche zuvor noch am jungen Kassierer zu vergreifen sucht. Es folgt ein missglückter Abend von Mitch und Bitch, es ist kompliziert, wie es auf facebook heißen würde. Aber dann springt Mitch doch noch aus dem verschwitzten Hemd, es folgt ein fröhliches Gewichteraten.

Melodramatik ist die neue Strategie von Blanche, die scheint auch aufzugehen, Mitch beißt an und will der siechen Mama eine Freude machen.

 

Pause. Noch ist nichts verloren.

 

Blanche hat Geburtstag. Den, äh, siebenundzwanzigsten. Zu diesem Anlass gibt es von Stan ein Ticket für die Heimreise und die ganze Wahrheit. Nicht viel Schönes dabei. Auch Mitch weiß nun Bescheid und ist not amused. Er schwänzt die Feier.

Stan pinkelt im Stehen, das war zu erwarten. Danach demoliert er das, was noch heile ist im Heim und zeigt, wer der Herr im (ramponierten) Hause ist. Das Wort Polacke erträgt er nicht.

Auch Stella ist schon vergiftet, glaubt er. Aber er liebt sie noch. Dann setzen ihre Wehen ein.

 

Ein später Besuch von Mitch, die letzte große Blanche-Show beginnt. Southern Comfort soll beim Überzeugen helfen, Blanche will Zauber, keine Realität, aber Mitch will Klarheit. Es folgt die große Beichte, „in meinem Herzen hab ich nicht gelogen“. Großartige Szene von beiden.

Mitch verwandelt Blanche in seine Mutter – so scheint es mir – und geht trotzdem.

 

Stan kehrt aus der Klinik zurück, noch ist es nicht so weit mit dem Sohn (was sonst). Sascha Göpel ist 100% Stanley Kowalski, großes Kino.

Ein Telegramm mit der Einladung zur Karibik-Cruise, vom Millionär gesendet, soso. Und die Rosen von Mitch, jaja. Die Kaiserin ist nackt.

Die finale Rache des Polacken für die Demütigungen durch Blanche lässt der Regisseur dankenswerterweise nur in unserer Phantasie stattfinden.

 

Ende. Blanche wird den Rest ihres Lebens auf dem Meer verbringen. Oder so ähnlich.

 

Ein großartiger Stoff, eine großartige Inszenierung, großartige Schauspieler. Man möchte sich themengerecht besaufen vor Freude an solch einem Abend.

Sieben Toren sind der Faust

 

Die Geschichte einer Theaterproduktion der Bürgerbühne Dresden haben wir in „Wir armen Toren“ nachverfolgen können, ganz nett sicher, aber …

Wovon handelt das Stück eigentlich?

Gar nicht so leicht zu sagen.

Vom Faust? Sicher. Von Gretchen? Auch ein bisschen. Von der bösen Midlife-Crisis? Ja, auch. Aber nicht nur.

Es geht um „Männerbiographien“, wie einer so schön sagt, ganz verschiedene, die ein Bruch (oder auch mehrere) verbindet, aber sonst erstmal nicht viel.

Das Stück lebt von der Potenz (und der erlebbaren Hilflosigkeit) seiner Protagonisten, sieben Lebenslinien werden auf der Faust-Geschichte verprobt, meistens passt es, manchmal nicht. Es ist – stellenweise – dieselbe Story in sieben Variationen, jeder ist Faust und ist es auch nicht, die „Hunde-Monologe“ zum Einstieg machen das deutlich.

Ein assoziationsreiches Bühnenbild, sieben Felder, Kabinen, Zellen, Boxen, Rückzugsräume … davor ein schmaler Steg und fünf Meter Abstand zum Publikum. Den wird es brauchen.

Regie und Dramaturgie übertreffen sich mit Einfällen. Die drei Erzengel und den Herrgott selbst spielt einer allein, auch im Himmel ist das Personal knapp. Davor noch als Einstieg die Monologe, die dem Stück den Namen gaben: Sechs Lebensläufe im Duktus der Studierstube, einer darf dazwischen das Original aufsagen.

Man wird also eingeführt mit Berichten aus dem krisengeplagten Mittelleben, die gesamte Bandbreite dessen, was man heute so haben kann, kommt zutage. Was haben die Sieben mit Faust zu tun? Sehr viel, jeder für sich.

Überhaupt, Sieben. Die mythische Bedeutung der Zahl ist nicht zu unterschätzen, nur die Drei gibt vielleicht noch mehr her. In sechs plus einem Tag soll die Welt erschaffen worden sein (der Ruhetag gehört unbedingt dazu), sieben Todsünden sind bisher bekannt, sieben Freunde müsst ihr sein (zumindest im Handball), die sieben Schwaben hatten immerhin ein gemeinsames Ziel, von den Glorreichen Sieben waren am Ende zwar nur wenige übrig, aber sie haben gewonnen. Die sieben Geißlein wurden von der Klugheit des jüngsten gerettet. Die Älteren unter uns werden sich noch an Herrn Carrells „verflichste Sieben“ erinnern. „Sieben auf einen Streich“ darf natürlich auch nicht fehlen. Und wie würde „Schneewittchen und die fünf Zwerge“ klingen?

Aber was passiert nun weiter im Stück? Die aus der Hexenküche neu gewonnene Jugendlichkeit und Energie kanalisiert sich in halbstarker Brünstigkeit, Sinnsuche und Unternehmertum.

Das Gretchen, das später erscheint, ist am Anfang eine Verheißung und am Ende ein Störfaktor. Keiner scheint ihr gewachsen, nur der Goethe-Freak bezwingt sie mit seinen Versen. Aber als es ernst zu werden scheint, kneift der Depp und klammert sich an die literarische Vorlage.

Gretchen wäre hier eher respektvoll Margarete zu nennen. „Das Heute-Gretchen und die sieben Fäuste“ ist vielleicht als Titel zu direkt, aber träfe es schon irgendwie. Und wie weiland die verstoßene Königstochter hat sie die Meute im Griff, bis … ja, bis einer sich mit der originalen Geschichte vom weltlichen Ende des Gretchens in ihr Herz schleicht. Dann ist es vorbei mit der kühlen Souveränität, das Weib Grete schlüpft am Ende gar in Helenas Identität, doch vergebens: Faust IV. (in der Reihenfolge des Auftritts, eigentlich ja Heinrich IV., aber das passt so gar nicht) fühlt sich überfordert vom direkten Begehren, er hat es eher mit der Theorie.

Bis dahin ist aber noch viel geschehen: Zunächst beklagen die Fäuste wortreich und lautstark ihr schweres Schicksal, ein Pudel assistiert dabei. Jener verwandelt sich flugs in den aus dem Prolog bekannten Mephisto und verleitet figilant den Faust zum Glücksspiel. Während Quadflieg und Gründgens in der Projektion stumm große Kunst bescheren, stammeln die Protagonisten auf der Bühne deren Texte aus dem Kopfhörer nach. Interessant, sag ich mal.

Da Faust konsequent die Existenz eines Jenseits verleugnet (zu seinem Glück hat Goethe nicht schon ein paar Jahrhunderte früher gelebt), dünkt ihm sein Einsatz gering. Also was soll‘s, wetten wir halt.

Nun muss Mephisto aber liefern. Im Gegensatz zu heutigen potentiellen Lieferanten tut er’s auch, nach einer kraftvollen Hexenküchenshow (Kochen ist ja eh im Trend) stehen 7 Jung-Fäuste da, offensichtlich mitten in der Pubertät.

Man sieht es bei der Gretchen-Erscheinung, erst per Video, dann – Auftritt aus der Menge – real: Eine große Bandbreite zwischen Verschüchterung und Macho-Gehabe tut sich auf. Letzterer bereut es, eine Polka kann auch weh tun. Mit Minnesang ist der Dame auch nicht beizukommen, sie stellt insistierend die Frage, der sie den Namen gab und duldet kein Ausweichen. Die anderen Fäuste verpissen sich, als auch die dank Brieftasche dicke Hose des Dritten sie nicht beeindruckt.

Nur der Feingeist bleibt übrig. Scheinbar wird auch er zerhackt, doch dann – wundersame Wendung – rührt er die Amazone mit dem Nachspiel von Gretchens Ende. Aber … kaum scheint er zu gewinnen, meldet sich der kleine Mann im Hinterkopf. No woman no cry …. Also Rückzug, kein Happy Ende.

Nach notgedrungen etwas ruckelndem Übergang zwei anrührende Beichten und ein Gefühlsausbruch aller Fäuste.

Mephisto zaubert im Teil Zwei unverdrossen weiter. Wenig später schwimmen alle im Geld. Aber sind die Scheine auch was wert? Man muss nur fest dran glauben. „Im Hintergrund Mephisto lacht, weil die Gier immer alles nur noch schlimmer macht.“

DER Faust – der Goethe-Kenner hatte wie vermeldet die Konkurrenten aus dem Feld geschlagen – sucht weiter Helena und findet Gretchen wieder. So war das nicht gedacht. Wieder kein Happy-End.

Finale Eins:

Die Auflösung der Wette zwischen Faust und Mephisto. Die Deutsche Bank gewinnt. Die Deutsche Bank gewinnt immer.

Finale Zwei:

Jeder der Faust-Kandidaten wettet noch einmal. Werden sie jetzt gewinnen? Meine Prognose ist 3:4.

Das Stück sollte man sicher nicht klassisch nennen, trotz der erhabenen Vorlage und vieler Zitate ist es modern angelegt. Ein dünner roter faustischer Faden zieht sich hindurch, die durchgängige Handlung der Vorlagen blitzt nur gelegentlich auf, es sind eher aneinandergereihte Szenen, mal nach, mal ohne, mal fast gegen Goethe. Der Wiedererkennungsfaktor des Faust ist manchmal gering, auch Deutschlehrer werden nicht jede Episode einordnen können. Aber darauf kommt es auch nicht an.

Ich armer Tor“ verhält sich zur deutschen Nationaldichtung wie ein heutiger Nachfahre des verehrten Herrn von Goethe zu ebenjenem: Man sieht vielleicht noch die Verwandtschaft, nur behaupten muss sich der Urururenkel heute selbst, mit seinen eigenen Möglichkeiten.

Und das tut das Stück, denke ich. Dennoch. Deshalb. Sowohl. Als auch.

Bis zum Jahreswechsel noch fünf Mal im Theater Ihres Vertrauens.

Gundi goes global und bleibt lokal

Ein Gundermann-Gedenkabend am 19.10.12 im Theaterhaus Rudi, Dresden-Mickten

Hütte voll im bluutschen Rudi, schon kurz nach Sieben. Der Gundermann-Freund ist pünktlich und vollzählig angetreten. Der „große“ Saal birst vor Menschen, dass es im großzügigen Souterrain noch eine Bühne gibt, muss sich erst rumsprechen.
Einige Musikschaffende versuchen sich oben wie unten an Gundi’s Werk. Das Ohr bedient sich bei Bedarf aus der Erinnerung, so wird auch das Verhunzte schön. Es wird inbrünstig mitgesungen und es kommt zu ersten Umarmungen. Einige Extremisten vollziehen gar das gefürchtete Mitklatschen.
Global geht Gundi deswegen, weil jetzt auch ein Holländer-Michel zur Gilde der Nachsänger gehört. Nach Schwaben ein weiterer Expansionserfolg. Und auf Russisch und Französisch soll es Gundi auch schon geben. Heute gehört uns Holland, morgen … Ach Quatsch. Blödes Zeilenfüllgebrabbel.
Im Keller werden auch Amateure und Debütanten auf die Bühne gelassen. Einer spielt und singt ähnlich schlecht wie Bob Dylan, wird aber sicher nicht so berühmt, diese Nische ist ja schon besetzt.
Die fast Einzige, die ich auf der Programmliste kenne, ist Barbara Thalheim. Deren Auftritt lässt ein bißchen auf sich warten, aber dann: es beginnt klassisch und wird dann aktueller, bleibt aber gut. Sicher ein schönes Konzert, wenn auch ein bißchen belehrend, was mir dann doch auf den Senkel geht. Ab in den Keller.
Dort darf ich immerhin die Sängerin auf die Wange küssen, als Ersatz-Muserich, traut sich sonst keiner. Nicht nur deshalb scheine ich einen interessanten Auftritt von Judith Reimann verpasst zu haben.
Aber auch der folgende Barde ist hörbar, schade, dass sich nur zehn Leute im geräumigen Keller verlieren. Dann wechselt es zu Betroffenheitslyrik, also wieder nach oben. Frau Thalheim immer noch am Set, nun fast rockig. Klingt gut. War aber schon die Zugabe.
Die Pausenmusik zielgruppengerecht klassischer Ostrock, modern abgemischt, was ihn nicht unbedingt besser macht.
Dann Herr Kondschak aus Tübingen, einer der Priester der Szene. Er hat seine Tochter mitgebracht, was in jeder Hinsicht erfreulich ist. Gott ist eine Frau, hab ich dabei gelernt.
Während der Herr Vater nur gelegentlich an Dieter Birr erinnert, tanzt Tochter Merle sehr schön und singt auch. Inhalt? Naja, … auch dabei, manchmal. Ein vertonter Lebenslauf, nichts Überraschendes. Manchmal aber doch ein bewegender Moment, für den es sich lohnt zu bleiben. Und „Stilles Glück“ ist dann sicher der Höhepunkt des Konzerts. Dann noch Gundi’s „Linda“ mit Geige, leicht verheult geh ich zum Rauchen.
Die Party (ja, werte Herren aus einer bekannten Nachtgaststätte, solche Partys gibt es auch) beginnt mit dem alten Skoda Octavia. Na gut, es ist eher eine Session. Und Platz zum Tanzen ist auch kaum. Aber die Sache nimmt Fahrt auf, als ich weiche (muss morgen früh raus) geht es offenbar erst richtig los. Schön für die Zurückbleibenden.
Im Nachgang: Was ist der heutige Gundi-Fan für einer, so im Durchschnitt? Schwierig, zu heterogen ist diese Gruppe. Ein klassischer Typus davon ist um die Fünfzig, Alt-Ossi, durchaus angekommen im neuen Leben, Mittelschicht, tritt bevorzugt in gemischtgeschlechtlichen Paaren auf, mit dem Hang zur Lagerfeuer- Nostalgie. Weeßte noch? In zehn Jahren werden sie sich erzählen, wer auch schon tot ist.
Aber es gibt auch viele andere.
Der Akademikeranteil und jener der Linken-Mitglieder scheint deutlich überdurchschnittlich zu sein, egal, das sind ja auch Menschen.
Es gibt auch einen Verein namens „Seilschaft“, wusste ich bisher nicht. Die passende Vokabel dazu heißt wohl rührig, zumindest hat jener zum 15. Todestag ein beachtliches Programm in mehreren Städten auf die Beine gestellt. Das Rudi ist zudem mit goldenen Worten des Meisters tapeziert, eine hübsche Idee.
Die Mitglieder des Vereins laufen stolz mit Hostessen-Schildchen rum, die sie als solche kenntlich machen. In den meisten Fällen hätte man das auch so gesehen.
Es ist vermutlich nicht mehr weit bis zur Ersten Gundischen Freikirche, aber warum auch nicht? Es gibt banalere Gründe fürs Glauben.
Ich geb heute kein endgültiges Urteil ab, ein Bericht muss reichen. Bin befangen und ein bißchen gerührt. Die Musik von Gundi fängt auch mich immer wieder ein, und die Party war größtenteils doch unterhaltsam.

Ein langes Stück über das Töten

Titus Andronicus“ von William Shakespeare in der Regie von Jan Klata,

gesehen am 7. Oktober 2012 im Staatsschauspiel Dresden

Heute mal keine Nacherzählung. Das würde den Rahmen sprengen, soviel wie hier gemordet, getötet, vergewaltigt und aufgefressen wird. Ich verweise auf seriöse Quellen. Aber einige Anmerkungen:

1. Das Wagnis, ein Stück in zwei Sprachen mit Schauspielern polnischer und deutscher Zunge zu inszenieren und dabei trotz der naheliegenden historischen Bezüge nicht in die Korrektheitsfalle zu laufen, ist aller Ehren wert. Wegen jener Falle musste es wohl auch ein polnischer Regisseur sein, nein, nicht irgendeiner, sondern DER polnische Regisseur dieser Tage.

2. Wenn man Shakespeares blutigstes Stück heute auf die Bühne bringt, bedarf es neben einer „angemessenen“ Darstellung des zügellosen Mordens auch einer gewissen Distanz dazu, die ohne Ironie nicht herzustellen ist. Dies schien mir absolut gelungen.

3. Man muss nicht jeden Regieeinfall mögen, einige waren auch richtig peinlich. Auf Luftgitarre spielende Goten hätte ich ebenso verzichten können wie auf den prächtigen Ständer des Mohren. Jenen (weißen Schauspieler) schwarz einzufärben, fand ich hingegen lustig, von jeglicher p.c. unbefleckt.

4. Der Einstieg ins Stück mit einem die Särge seiner Söhne hereinschleppenden Titus Michalek (überragend als Vieh und Mensch) und deren ordnungsgemäße Registrierung, Beweinung und Aufbewahrung, unterstützt von einer martialischen Marschmusik aus der Heavy-Ecke, gehört für mich zu den stärksten Anfängen, die ich jemals auf der Bühne gesehen habe (gut, so viel Theatererfahrung hab ich nun auch noch nicht).

5. Die reduzierte Fabel des Stücks, dass aus Siegern schnell Verlierer werden, wenn sie sich von List und Tücke auseinander dividieren lassen, war trotz des Brimboriums klar erkennbar. Titus krönt schlicht den falschen Kaiser, so nimmt das Unheil seinen Lauf. Und letztlich sind an allem ja nur die Frauen schuld, ob nun aktiv oder passiv. Love hurts.

6. Klata findet interessante, für Dresden ungewohnte Formen. Dass das oftmals aufkeimende Entsetzen stets mit einer Parodie konterkariert wird, hält den Zuschauer tränenfrei und das Stück am Laufen.

7. Jener Zuschauer wurde natürlich auch hinreichend gequält. Ob nun Hochfrequenztöne, Lärmterror oder eine ausgewalzte angedeutete Vergewaltigung am vorderen Bühnenrand, man musste schon wissen, worauf man sich einließ. Ein Dutzend Besucher ging vorzeitig von der Fahne, was den ohnehin nur zu einem Drittel gefüllten Saal weiter dezimierte. Klata wird gewusst haben, warum er keine Pause einbaute.

8. Einen, nun ja, Musikschaffenden wie „Fancy“ aus der verdienten Versenkung geholt zu haben, ist auch ein Verdienst des Stücks. Ich persönlich hätte Modern Talking noch passender gefunden, aber die hatten offenbar keine so treffenden Zeilen wie „Slice me nice“.

9. und letztens: Ich prophezeie, das Stück wird in Dresden nicht lange laufen. Trotz aller Modernität „von oben“ ist ein Großteil des Publikums hier sicher nicht gewillt, sich auf extreme Formen von Theater einzulassen. Das ist schade.

Wie das in Wroclaw aussieht, kann ich leider nicht einschätzen.

Also: Ich ging hin und rechnete mit dem Schlimmsten. Ich ging weg und war doch sehr angetan. Relativ gesehen also ein absoluter Treffer. Und auch sonst ein gutes, sehenswertes Stück.

Wer stehen bleibt ist raus

„Das normale Leben oder Körper und Kampfplatz“, deutsche Uraufführung von Christian Lollike, gesehen am 01.10.12 unter der Regie von Hauke Meyer am Staatsschauspiel Dresden

 

In einem sich thematisch ungefähr zwischen „Die Firma dankt“ und „Vater Mutter Geisterbahn“ verortenden Stück wird in einer temporeichen Inszenierung die aktuelle Gretchenfrage gestellt: Wie und womit bestehst Du in der modernen Welt?

 

 

Eine Bühne ganz in Weiß, eine Schrankwand voller Schubkästen, eine weiße Couch als Gefängnis. Es wirkt klinisch, oder besser wie in einem Labor. Die Versuchsanordnung besteht aus A, B und C, ihr Aktionsfeld ist die moderne Welt.

 

Gleich am Anfang seien die Darsteller bedacht: Von Annika Schilling, Philipp Lux und dem Noch-Studenten Jonas Friedrich Leonhardi mag ich niemanden hervorheben. Alle spielten präzise und glaubhaft, ohne sich über den Text zu stellen. Eine seriöse Leistung, wie hier am Hause gewohnt.

 

Die Handlung:

Sie (A) fühlt sich verfolgt. Er (C) meint, das wäre die innere Stasi, ein Organ, da zu einem gehört und doch wieder nicht, weil es einen kontrolliert und steuert. Noch ein Er (B) ist skeptisch.

So fängt das Stück in etwa viermal an. Immer wieder verlaufen sich die Akteure in den Tiefen des Alltags, „wollten wir nicht eine ganz normale Geschichte erzählen, eine Huldigung an die Lebenslust?“, immer wieder Neuanfang.

 

Die moderne Religion Fitness, der Zwang zum schlank und gesund aussehen. Der Konkurrenzdruck im Büro, der mit nach Hause genommen wird. Die Angst, die überall lauert. Das alles wird plausibel vorgeführt, ebenso wie die Abneigung gegen fette Menschen, die jener gegen Fremde gleicht und auf einen natürlichen Instinkt zurückzuführen sein soll, das Fette, Fremde als Bedrohung.

 

Man möchte so gern tolerant sein, aber man ist neidisch auf den Zusammenhalt der Kanaker. Weil man nicht so sein kann, sollen die auch nicht so sein. „Kapitalismus“ als Wort ist verpönt, erinnert zu sehr an schuldbewusste Fürsorgehumanisten (ich persönlich würde eher Peace-Brezeln sagen). Aber immerhin ist man sich bewusst, dass man statt Mensch nur ein Konsumentenprofil ist, was zwischen Shops pendelt.

 

Im Heimischen ist es nicht besser. Erziehungsmodelle prallen aufeinander, und wenn es dann mal drauf ankommt, muss Mutti arbeiten. Genialer Satz: „Natürlich sollst du am Wochenende nicht arbeiten, du sollst mit deinen Kindern zusammen sein, es sei denn, du bist im Rückstand.“ Im Rückstand ist man schnell. Erster Zusammenbruch.

 

In ihrer Vorstellung fliehen sie auf eine einsame Insel, aber in der Realität der anderen werden sie gefunden, GPS machts möglich. Man kann jetzt TV-schön werden, aber irgendeiner hat meine Identität gestohlen und läuft jetzt damit rum und spielt mich. Echt blöd.

 

Man ist die wandelnde Leere, ein Loch, zu nichts nutze, ohne Orientierung. Und man ist doch schon 39 … Da werden einige im Saal genickt haben. Und in anderen Sälen sicher auch.

Dann das schöne Bild, dass man dem Zug hinterher rennt, der aber viel zu schnell fährt, als das man ihn erreichen könnte. Abends ist einem klar, dass das Schwachsinn ist, aber da ist man betrunken, und morgen geht das Rattenrennen weiter. Wer still steht ist raus.

 

Wir haben Google Maps, doch wir wissen nicht wonach wir suchen sollen. Aber dank der neuen Bekenntniskultur können wir das immerhin allen mitteilen. Früher behielt man so einen Scheiß für sich bis man platzte.

 

Das private Leben geht natürlich auch in die Brüche, überreizt wie man ist, ist man auf dem Kampfplatz Familie verloren. „Willst du mich verlassen? – Du hast mich doch schon lange verlassen.“ Eine Light-Zigarette in der Penthouse-Küche als Rebellion, dann sogar noch eine. That’s Rock’n’Roll.

 

Die einzige Fluchtmöglichkeit scheint, mit dem Existieren aufzuhören. Wenn selbst der Partner ein IM der inneren Stasi ist … Du hast die Möglichkeit, auf normale Weise individuell zu sein, aber bitte nicht umgekehrt. Man kann jetzt seinen Partner lokalisieren, das ist das Ende vom Ende. Zweiter Zusammenbruch.

 

Sie ist für niemanden mehr genug da. Das Hamsterrad dreht immer schneller. Wahnvorstellungen. Klinik. Mann weg. Kinder weg. Draußen.

 

Der Kreis schließt sich am Ende. A begegnet sich selbst, die eine joggt gegen die (Lebens-) Uhr, die andere sitzt verfettet auf der Parkbank und frisst den bösen Kuchen. Die eine verachtet die andere, die eine ist der anderen egal. Wer ist wohl glücklicher?

Ende.

 

Soweit die Nacherzählung. Ein berührendes Thema, in meist plausible Bilder gesetzt, sowohl sprachlich als auch seitens der Bühne. Ein Verwandtschaft zu Hübners „Die Firma dankt“ ist unverkennbar, ebenso zu Heckmanns „Vater Mutter Geisterbahn“. Letzteres beschaut das private, ersteres das berufliche Leben, Lollike bringt beides übereinander. Fast könnte man die Stücke als Trilogie begreifen.

 

Ob die abgeleiteten Thesen alle so zutreffen oder hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird, mag jeder für sich entscheiden. Ich frag mich schon manchmal, was denn das Besondere an der „heutigen“ Arbeitswelt ist, die diese so böse und verschleißend macht. Ich denke, der Hauer im Schacht „Gute Hoffnung“ um die vorletzte Jahrhundertwende oder noch früher die Fabrikarbeiterin in Manchester hätten gerne unsere Probleme gehabt. Und auch heute braucht man nur mal den Erdteil wechseln, um wirkliche Probleme vor sich zu haben.

Ok, das ist ein Totschlagargument, ich will psychischen Druck nicht verharmlosen und von Karoshi hab ich auch schon gehört. Diese Themen sollen nicht relativiert werden, manchmal ist mir aber sehr viel Nabelschau und Befindlichkeitskult dabei.

 

Ein – natürlich völlig unpassendes – Argument habe ich neulich im Netz gelesen: Ein renommierter Psychologe antwortete auf die Frage, ob die mit den modernen Kommunikationsmitteln gegebene ständige Erreichbarkeit die Menschen nicht in fürchterlichen Stress versetzen würde, sinngemäß so, dass die (deutschen) Menschen im Dreißigjährigen Krieg für die Schweden physisch ständig erreichbar gewesen seien, das sei viel größerer Stress gewesen.

Deutlicher kann man das kaum ausdrücken.

 

Also, bei aller Empathie: Ja, auch die Entfremdung und Vereinzelung der Menschen im heutigen Leben ist ein Problem in der Welt, nicht das einzige oder das größte, aber immerhin eines, das eine Menge von Menschen in der „Ersten Welt“ betrifft und worüber nachzudenken lohnt, gerne auch in der Form eines Theaterstücks. Und wenn das Thema so angepackt wird wie von Lollike, kann das eine Bereicherung für alle sein, die damit zu tun haben. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

 

Mrs. Polly Macheath-Peachum, CEO Bank of Beggars, London-Soho

„Die Dreigroschenoper“, gesehen am 28.09.12 in einer Inszenierung von Friederike Heller am Staatsschauspiel Dresden

Frau Heller setzt konsequent auf Show und Glamour, die Story und die Brechtsche Moral sind eher Nebensache. Das funktioniert theatertechnisch gut, auch von teils sehr guten Darstellern getragen, aber hinterlässt dann doch einen gewissen Phantomschmerz bei mir.

 

2. Rang. Immerhin, überhaupt eine Karte ergattert. Die Beinfreiheit ist wie im Billigflieger, aber dafür hat man einen Blick wie beim Landeanflug, um im Bilde zu bleiben. Das Haus ist voll, auch voller Nachwuchszuschauer, so gehört sich das.

 

Die „Moritat von Mackie Messer“ wird als Reigen angeboten, fast jedeR außer dem Ungeheuer darf mal ran. Das wirkt doch konventionell und über-werktreu, sogar die Strophe mit dem Licht gibt es zu hören.

 

Des Bettlerkönigs Büro, ein armer Schlucker will hier mittun. „Licences only for professionels“, niemand glaubt einem das eigene Elend, deshalb gibt es bei Peachum ein Fremdes.

Das Spiel scheint seltsam statisch, man hangelt sich von Song zu Song. Diese sind zweifelsohne die Highlights bisher.

 

Auftritt der Räuber als Muppets, sie swingen mit Mac und Polly, dann walzert es. Weill ist geduldig.

Hochzeit. Wie oft kommt das schon vor. Und dann in einem Pferdestall? Miss Polly is not amused. So richtig funktioniert die Bande nicht, offenbar schon innere Kündigung. Und Macheath Machtworte verhallen ohne sichtbares Ergebnis.

Es ist eine traurige Fete, bis Polly die Seeräuber-Jenny gibt. Wer hat da geschrieben, Sonja Beißwenger habe gesangliche Defizite? Blödsinn. Wir sind beim Schauspiel, nicht in der Operette.

 

Was ich persönlich sehr schade finde: Christian Friedel versemmelt jenen großartigen Text von Mac, bei dem er im ersten Halbsatz Polly lobt und ihr im zweiten das Singen ein für alle mal untersagt. Das ist leider kaum zu hören.

Nein, Friedel ist auch kein Mackie. Er singt wunderbar, er tanzt, besser tänzelt elegant, er sprüht vor Charme … aber da ist nichts zu sehen von Verschlagenheit und Hinterlist, von Macho und Serienkiller, von Skrupellosigkeit und Machtwillen. Er ist einfach zu lieb, ich glaub es ihm nicht. Oder sollte er so sein? Dann wäre der Rolle aber mächtig Gewalt angetan worden.

 

Dann kommt noch die Obrigkeit in Form von Tiger Brown, dem Sheriff, zur bescheidenen Hochzeit. Der kennt die Gesellschaft aus seinen Akten, ist aber rein privat hier, als Macheath alter Ego. Ahmad Mesghara vertrat souverän den maladen Benjamin Höppner, ohne dabei Bäume ausreißen zu können.

 

Das Ehepaar Peachum keift inzwischen aus der Loge, like the Muppet-Show (ein hübscher, wenn auch verzichtbarer Einfall), aber es hilft nichts mehr. Aus Miss Peachum wurde Mrs. Macheath, die sichtbar noch einige Eingewöhnungsschwierigkeiten im neuen Umfeld hat.

Was tun, wie auch Lenin und Hübner fragen? Jonathan Jeremiah Peachum kennt Tiger Browns dünne Stelle und sticht kräftig rein. Jener fällt um und nach Mackie wird plötzlich gefahndet.

 

Für Thomas Eisens Peachum gilt mit Abstrichen für mich dasselbe wie für Friedels Mackie: Die dunklen Seiten bleiben weitgehend verborgen. So ist der Bettlerkönig eher ein freundlicher Kostümverleiher denn ein gerissener Geschäftsmann. Ganz anders seine Frau Cylia, Antje Trautmann gestaltet sie wunderbar, ohne in eine Karikatur zu verfallen. Und gesanglich spielt sie in einer eigenen Liga.

 

Dass der Text sich weiter zäh gestaltet, liegt sicher auch am Text selbst. Man kann den glaub ich auch ohne Herrn Brecht zu schänden heute etwas kürzen.

 

Herr Macheath wird gewarnt, ziert sich ein wenig und entschließt sich dann doch zu fliehen, erstmal nach Highgate und dann ins Bankgeschäft. Ach Mackie, es hat so kurz gedauert, seufzt eine ahnungsvolle Polly, die das Stück vermutlich auch schon gesehen hat: „So manch großer Geist blieb in ner Hure stecken“. Es folgt die Übergabe der Amtsgeschäfte, die Verwandlung von Mrs. Peachum in ihre neue Rolle ist erstmals zu ahnen. Prima gespielt.

 

Abgang Mackie, aber er kommt nicht weit. Will er ja auch nicht. Jenny und ihre Schwestern im Gewerbe heißen ihn willkommen. Dass jene Huren eingangs nymphengleich auf Schaukeln sitzen und sich im Laufe der Szene in Polizisten verwandeln, ist für mich der beste Regieeinfall des Abends. Hoffentlich wird das in Sachsen nicht als Beamtenbeleidigung ausgelegt.

 

Ein großartiges Duett von Mackie und Jenny, von Sebastian Wendelin mit vollem Körpereinsatz gespielt. Diese Besetzung ist eine tolle Idee, was sich am Abend noch öfter erweisen wird.

Das Duett endet allerdings mit der Zuführung des Ganoven nach Old Bailey. Und zwar nicht zum Baileys-Trinken.

 

„Mac, ich bin es nicht gewesen“, ein sichtlich zerknirschter Brown fleht um Vergebung. Jener revanchiert sich mit einer großen Show, das ist der Platz, auf dem Friedel sich austoben kann. Szenenapplaus, wie vorher auch schon einige Male.

Auftritt einer bonbonfarbenen Lucy, des Tigers Töchterlein. Die hat nun ihre eigenen Interessen, die sie mit einem (gefaketen) runden Bauch untermauert, und nimmt Macheath in Gefangenschaft. Dann kommt auch noch Polly resp. Mrs. Macheath, das Dreckhaufen-Duett beginnt. Sehr schön, auch von Christine-Marie Günther in ihrer ersten großen Rolle am Hause.

Pollys Auftritt wird beendet durch eine Quoten – Darth Vader (Vada?). „Ich bin deine Mutter“ röchelt Antje Trautmann unter ihrem Helm.

Mackie gelingt es, Lucy zu be-, was auch immer, jedenfalls ist er draußen.

 

Ausgeflogen, das Vögelchen, muss auch Peachum erkennen, der zu Besuch kommt. Die Polizei kann da gar nichts machen, bedauert Sheriff Brown.

Das großartige Lied vom Fressen und der Moral ebenso großartig dargeboten. Aber … es mangelt mir im ganzen Stück an Statisten, das nimmt viel Wirkung weg. Sowas muss doch nicht sein, in einer so theaterverrückten Stadt hätten sich doch leicht zwei Dutzend Huren und Bettler gefunden?

Peachum klärt inzwischen mit Brown die Machtverhältnisse. Die schiere Masse des Lumpenproletariats sorgt für Entsetzen beim Sheriff und für die Wende. Aber auch hier alles sehr oberflächlich, fast operettenhaft.

Schön das folgende Bonmot, dass die Menschen zwar ohne Probleme Elend anstiften können, es aber nicht aushalten, es anzusehen. Das „Geschäftsmodell“ der Hilfsorganisationen.

 

Der folgende Salomo-Song, sonst bei mir gefürchtet ob seiner Tonfolgen, wird bei Wendelin zum Genuss.

Macheath wird abermals gewarnt und geht abermals in die Falle, wenigstens die Huren halten sich an die Absprachen. Tja, bevor es Nacht ward, lag er wieder droben, und nun wird es eng. Morgen früh wird Mackie hängen.

Seine Verzweiflung ist nun glaubhaft, zumal sich seine Getreuen langsam abwenden und auch seine liebe Gattin schon als Schwarze Witwe erscheint und sich außerstande sieht, ihm das Bestechungsgeld zu besorgen. Aus ist’s.

(Diese Szene hab ich schon viel viel dramatischer gesehen, vor allem mit den Räubern, aber das war sicher nicht geplant)

 

Noch nicht ganz, den Spannungsbogen hält ein witziges Filmchen. Ja, kann man machen, warum nicht? Will ja nicht immer nur nörgeln.

 

Dann kommt also – nach kurzer Erläuterung des dramaturgischen Ansatzes – der reitende Bote des Königs.

„Anläßlich der Dröhnung ihrer Majestät …“, das wär doch ein hübscher Witz gewesen. Oder vielleicht auch nicht. Jedenfalls wird Macheath begnadigt, geadelt usw.usf.. Die Begeisterung auf der Bühne hält sich aber in Grenzen. Seine Stelle ist schon eingespart, an der Spitze der Organisation steht jetzt seine Fast-Witwe, da ist kein Platz mehr für die alten Halunken. Es wird jetzt nicht mehr eingebrochen, es wird gegründet.

 

Eine Maslowsche Bedürfnispyramide wird zum Ende hochgehalten, sozusagen die Zusammenfassung des Stückes in einem Bild. Langanhaltender Beifall motiviert die Schauspieler zu einer (geplanten) Einzelvorstellung des Ensembles, schöne Idee.

 

Also:

Nicht meine Lieblingsversion, dem Witz fiel oftmals die Tiefe zum Opfer. Aber sehenswert, wenn man sich darauf einlässt. Sonja Beißwenger für mich der unbestrittene Star des Abends, die Wandlung von einem Naivchen zur Gangster-Bossesse war überzeugen.

Thomas Eisen und Christian Friedel kämpften zwar wacker, verloren aber am Ende dann doch deutlich gegen mein Lieblings-Duo Tom Quaas und Tim Grobe, die vor sieben Jahren diese Bretter bespielten. Lag sicher auch an der „taktischen Marschroute“.

 

Übrigens auch wieder ein sehr schönes und informatives Programmheft.

 

Noch zwanzig Jahr zu arbeiten …

„Die Firma dankt“, UA von Lutz Hübner, in der Regie von Susanne Lietzow gesehen am 22. April 2012 im Staatsschauspiel Dresden

Eine Parabel zwischen alter und neuer Arbeitswelt, sie handelt vom verlorenen Wert von Verdiensten, vom Neu-Erkämpfen-Müssen seiner Position, vom Spielen nach unbekannten Regeln, von den Schmerz-Grenzen erhaltener Demütigungen. Lutz Hübner lässt einen Mittvierziger die „Neuaufstellung“ seiner Firma durchleben und durchleiden. Am Ende muss jener erkennen, dass für ihn kein Platz mehr da ist, den er ohne Selbstaufgabe ausfüllen könnte.

Adam Krusenstern muss warten. Warten im Gästehaus seiner frisch übernommenen Firma, die ihn zu diesem Wochenende einbestellte. Ihn, den letzten verbliebenen Abteilungsleiter, alle anderen wurden vom neuen Management schon entsorgt. Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet, Rauswurf, Degradierung oder Beförderung.

Auch die ersten Begegnungen machen ihn nicht klüger. Hier scheinen alle keine Nachnamen zu haben. Kein Zeitplan, keine Tagesordnung, so ein Chaos hat Adam in 20 Jahren Betriebszugehörigkeit noch nicht erlebt. Die Assistentin umschwirrt ihn (oder überwacht sie ihn?), die beißlustige Personaltrainerin gibt abwechselnd den guten und den bösen Bullen, der neue Personalchef bleibt ganz allgemein in seinen Sprechblasen. Alle sind irgendwie unter Spannung. Nur der mutmaßliche Praktikant ist überlocker, Krusenbergs Ratschläge zu Umgangsformen belustigen ihn. Hier prallen Welten aufeinander.

Krusenberg spürt, dass etwas von ihm erwartet wird. Er beruft ein Meeting ein, aber es wird ein Desaster. Schon am Gestühl scheiternd, verhungert er bei seinem Schaulaufen vor einem desinteressierten Kreis. Demütigung durch Ignoranz. Das Auftauchen des jungen Schnösels, den alle wer weiß warum anhimmeln, lässt die Besprechung endgültig platzen. Die Teilnehmer widmen sich wichtigeren Dingen.

Nur der selbstgewisse Schnösel bleibt, versaut erst Adams Anzug und dann endgültig dessen Laune mit seinen Thesen von der modernen Wirtschaft. Erfahrung und Kompetenz sind unwichtig, die Systeme organisieren sich selbst, Produktperfektion ist irrelevant, man muss den Kaufvorgang verkaufen. Krusenstern versinkt im riesigen Sofa und taucht als Marionette wieder auf. Alles ist offensichtlich Scharlatanerie, aber diese kommt an. Doch was sollen facebook-Produkte in einem Stahlwerk? Hat er in seinen 20 Arbeitsjahren wirklich alles falsch gemacht? Ist er verdorben für die schöne neue Firmenwelt?

Die anderen sind inzwischen in Feierlaune. Der vermeintliche Praktikant Sandor ist ein umworbener Shooting-Star der New Economy, der endlich zugesagt hat, den Laden zu übernehmen. Der Aktienkurs steigt.

Die Nutzwertanalyse des frischgebackenen Chefs geht allerdings zu Krusensterns Ungunsten aus. Adam macht den üblichen Deal, Abfindung gegen geräuschlosen Abgang, besser er wird mit ihm gemacht. Mangels Personalakte muss zu seiner Verabschiedung aus seinem Dossier vorgelesen werden. Was man so alles anhäuft in zwanzig Jahren … die wissen wirklich alles.

Es ist Sandors erste selbstverursachte Kündigung, das will er sich aus der Nähe ansehen. Sein strafverschärfendes Mitgefühl und seine These, Krusenberg sei ein Oldtimer, zwar unpraktisch und kaum verwendbar im Alltag, aber sehr faszinierend, lässt jenen die Contenance verlieren. Er hat noch zwanzig Jahre zu arbeiten!

Die folgende Prügelei bleibt einseitig. Sandors geschmeidige Virtualität hat der physisch-archaischen Gewalt aus der Old Economy nichts entgegenzusetzen. Sieg durch K.O. in der ersten Runde.

Dies führte nun eigentlich zum berechtigten fristlosen Rauswurf des Übeltäters, allein Sandor fühlt sich als Warhol-Wiedergänger und erkennt eine prägende Szene aus dessem Leben: Das Valerie-Attentat. So einen könnte er doch gut brauchen? Er trifft eine Management-Entscheidung.

Die Runde ist irritiert, dass Krusenstern nun wieder im Rennen ist. Offenbar verstehen auch sie die Regeln nicht ganz. Aber nach welchen Regeln würfeln die Affen? Der Personalchef hängt seinen Golfpullover in den neuen Wind, die Trainerin nimmt erneut seine Daten auf. War ja alles schon gelöscht.

Mitten im Gespräch entspringt ihr eine flammende Rede über Würde und Selbstachtung. Sie ahnt, dass die Probleme des Krusenstern bald auch die ihren sein werden.

Adam entwickelt seine Strategie zur Würdebewahrung, reicht die innere Kündigung ein und geht auf Sabotagemission am Betriebsklima. Auch übt er schon mal Fiesigkeit am schwächsten Glied der Kette, alles natürlich präzise abgehört von Sandors Spielzeugen. Dennoch will der ihn haben, für die Skeptiker-Rolle ist er die Idealbesetzung.

Schlussszene. Während Sandor von der Old-School-Vorstellung des Krusensternschen Meetings schwärmt und dieses am nächsten Tag mit seinem neuen Team als Retro-Kapitalismus zelebrieren will und die Personaltrainerin plötzlich nicht mehr gebraucht wird („Danke, wir melden uns“), verschwindet der Personalchef vollumfänglich in Krusensterns Gesäß.

Davon unangenehm aufgestoßen, steht Adam die ganze Absurdität der Situation plötzlich klar vor Augen. Was ist die Ermordung eines Mannes gegen dessen Weiterbeschäftigung? Er geht ab, ob er den Personalchef vorher noch ausscheidet, ist nicht zu erkennen. Den Dank, Firma, begehr ich nicht.

Game over.

Wie kommen Menschen mit den immer schnelleren Veränderungen in der Arbeitswelt zurecht? Wie agieren Menschen in Systemen, die sie nicht mehr verstehen? Wie reagieren Menschen auf die Tatsache, dass man sie als nicht mehr brauchbar einschätzt? Wie fühlen Menschen, die heute noch Vollstrecker und morgen schon Aussortierter sind? Wie gehen Menschen mit Macht um?

Alle diese Fragen werden angerissen in Hübners Stück, logisch, dass sie nicht komplett beantwortet werden können. Aber er bereichert damit eine Diskussion über mindestens zwei Zukunftsthemen, nämlich der von Personalchefs gerne so genannten „Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer“ (welche inzwischen bei Mitte Vierzig beginnen) und ganz nebenbei auch zur Relevanz von virtuellen Werten in der Ökonomie. Die Gegenpole Sandor und Krusenstern (alle anderen Figuren sind nur Mittel zum Zweck) repräsentieren die alte und die neue Welt, wobei das Neue nicht unbedingt gut sein muss, nur weil es das Neue ist. Irgendeiner muss den Jungen auch erklären, dass ein Geldschein nicht größer wird, wenn man mit der bekannten I-Geste zwei Finger auf ihm spreizt.

Ich habe zahlreiche nachdenkliche Gesichter nach draußen gehen sehen, unter den meisten waren Krawatten befestigt. Der nächste Tag wird ein Montag sein, da wird Vielen Vieles bekannt vorkommen.

Nach „Frau Müller muss weg“, jener Cash-Cow des Staatsschauspiels, wo es sehr präzise um den vergleichsweise beschränkten Bereich der Schullaufbahnwahl der lieben Kleinen ging, dreht Lutz Hübner jetzt ein größeres Rad, ist dabei aber ebenso genau in den Beobachtungen und hellsichtig in den Prophezeiungen. Man sollte das Stück (auch) auf Aktionärsversammlungen spielen.

Last but not least wie immer die Schauspieler:

Julia Keiling und Annedore Bauer als Gäste standen in den großen Pumps von Ina Piontek und vor allem Christine Hoppe, die die Premiere bestritten hatten. Frau Hoppe (auf deren baldige Wiederkehr sicher neben mir sehr viele hoffen) hatte ihre Personaltrainerin weiter nach vorne in der Wahrnehmung gebracht, Frau Bauer spielte zurückhaltender. Letzteres hilft sicher der Konzentration auf die beiden Antipoden, auch wenn die Ella in ihrer Ahnung, dass auch sie bald zu den Krusensterns gehören wird, eine sehr interessante Figur ist.

Thomas Eisen ist sehr präzise besetzt, eine Rolle wie für ihn gemacht, der er ohne Abstriche gerecht wird.

Christian Clauß in seiner ersten größeren Arbeit (noch als Student begonnen) sehr sehr authentisch, mit jeder Faser das verwöhnte Jüngelchen, dessen Spielzeug immer größer wird, dem man wegen seines wachen Interesses und seiner Begeisterungsfähigkeit aber nicht wirklich böse sein kann.

Der Krusenstern ist eine Figur, bei der man vorsichtig sein muss: Zu viele können da aus eigenem Erleben mitreden. Philipp Lux nimmt sich der Aufgabe in äußerst sensibler Weise an, er zeigt keine Karikatur, keinen Revoluzzer, auch kein Opfer, sondern einen Menschen, der die Welt um sich herum nicht mehr versteht und deshalb zweifelt, ob er noch dazu gehört. Bravo.

Ich las mit Freude, dass das Stück auch in dieser Saison auf dem Spielplan stehen wird. Also noch viel Zeit, um meiner Empfehlung zu folgen: Unbedingt ansehen!