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Küssen verboten

„Dear Moldova, can we kiss just a little bit?“ vom Teatru Spalatorie Chisinau, Erarbeitung Nicoleta Esinencu und Regie Jessica Glause, gesehen im Rahmen des Bürgerbühnenfestivals in Dresden am 23. Mai 2014

 

 Alltag in Moldawien, man sitzt in der Küche und schnippelt den Borschtsch zurecht. Doch berichtet wird dabei von etwas in diesem Land sehr Außergewöhnlichem: Dem offenen Umgang mit der Homosexualität, sei es der eigenen, der des Kindes oder derer der Mutter. In dem kleinen Land zwischen Rumänien und Russland ist das ein Un-Thema, dessen Erwähnung wenn schon nicht Aggressionen, so zumindest Ablehnung oder im besten Falle Totschweigen nach sich zieht. „Schwuchtel“ hat sich als gängiger Begriff etabliert, und wer von der Polizei mit seinem Partner im Auto überrascht wird, kann froh sein, wenn er nur sein Geld abliefern muss, um ungeschoren davonzukommen. Zwar gibt es in Moldawien nicht jene irrwitzigen Gesetze wie in Russland oder in islamischen Staaten, aber die Gesellschaft scheint nahezu geschlossen in ihrer Ablehnung dieser „Anomalie“ und wird von den (orthodoxen) Kirchen darin bestärkt.

 In einer solchen Atmosphäre eine dokumentarische Theaterarbeit über und mit Homosexuellen und deren Angehörigen zu fertigen und diese dann auf eine Bühne zu stellen, verlangt nach einer Art von Mut, den man hierzulande wohl kaum mehr aufbringen muss, nicht in der Kunst und nicht anderswo. Nicoleta Esinencu hat das Wagnis auf sich genommen, sie hat aus intensiven Interviews mit Betroffenen, die sie über ein Beratungszentrum zur Homosexualität kennenlernte, einen Text geformt, den Jessica Glause dann inszenierte und im Teatru Spalatorie in Chisinau inzwischen mehr als fünfzehnmal aufführte. In den moldawischen Medien sei das Echo verhalten, so hörte man nachher, wenn das Stück nicht gar skandalisiert wurde, doch die Publikumsreaktionen seien sehr positiv, bei vielen Zuschauern wäre ein Prozess des Umdenkens angestoßen worden oder sie seien vielleicht auch erstmal nur zu einer vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit dem Thema angeregt worden.

 Dass dies gelungen ist, mag man gerne glauben, denn das Stück verzichtet auf jegliche vordergründige Plakativität und lässt einfach die Menschen erzählen, von sich und von den anderen. Da steht ein äußerst charmanter älterer Schwuler auf der Bühne und spielt und singt über sein Leben, nebenher kocht er auch noch den Borschtsch. Ein Junge berichtet von seiner Mutter, die sich aus ihrer Ehe löste, um mit ihrer Freundin zusammenzuleben, und was sie dabei zu erleiden hatte und hat. Ein junger Mann (der einzige „richtige“ Schauspieler im Kreis der Laien) spricht von seinem Coming-Out, schwierig für sich und noch mehr für seine Familie. Ein Mädchen schildert ihren verwirrenden Weg bis zur Erkenntnis, dass sie Frauen liebe. Doch am anrührendsten ist für mich das Elternpaar, das die Geschichte seines homosexuellen Sohns und des langen Prozesses bis zum Begreifen, Annehmen und Akzeptieren dieser Wahrheit erzählt und dabei auch wunderbar selbstironisch miteinander spielt.

 Es ist ein unglaublich warmherziger, menschlicher Abend, man möchte alle auf der Bühne umarmen für ihren Mut und ihre Leistung, die unabhängig vom Thema unbedingt sehenswert ist. Das wird niemals peinlich oder gleitet in ein Betroffenheitstheater ab, die Botschaften werden unprätentiös und damit umso wirkungsvoller gebracht.

Am Ende versammelt sich die Gruppe zum Essen am Tisch, im Hintergrund läuft das Video einer traditionellen moldawischen Hochzeitszeremonie, die Protagonisten sind Männer. Doch bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein, bislang ist Küssen verboten für gleichgeschlechtliche Paare in der Öffentlichkeit. Aber der Weg besteht aus vielen Schritten, und einen großen davon geht dieses Stück.

Es bleibt zu hoffen, dass es auch in Moldawien weiter die Resonanz findet, die es verdient, und damit zu einem Wandel des gesellschaftlichen Klimas beiträgt. Was kann Theater Besseres leisten?

 In Dresden – wie auch beim Theaterfestival „radikal jung“ unlängst in München – schlug den Macherinnen und Darstellern eine Woge der Sympathie entgegen, die auch beim anschließenden Publikumsgespräch nicht abebbte. Auch dies war ein großartiger Beitrag zum Bürgerbühnenfestival, und – neben den „letzten Zeugen“ – der gesellschaftlich relevanteste allemal.

 

Das haben sich die Jugendlichen selber ausgedacht

„Tod.Sünde.7“ vom Jungen DT Berlin, Regie Wojtek Klemm, gesehen im Rahmen des Bürgerbühnenfestivals in Dresden am 22. Mai 2014

  

Eine Stückentwicklung, so faszinierend und rätselhaft wie ein Tocotronic-Song. Sechzehn Jugendliche aus Berlin zeigen ihren Blick auf die Welt, zwischen Gewaltphantasien und der Sehnsucht nach Geborgenheit ist alles dabei, Sex und Süßigkeiten nicht zu vergessen. Collagen aus eigenen Texten werden verspielt, vertanzt, versungen, mal in Punk-Attitüde, mal als anscheinend liebreizender Mädchenchor, dessen gräulicher Text einen dann allerdings schnell wieder in die harte Realität der „Jugend von heute“ holt. Wo kommen nur täglich all die neuen Probleme her? Und wer interessiert sich überhaupt dafür?

 Es ist eine unheile Welt, die hier gezeigt wird. Die Bühne (Mascha Mazur) erinnert an einen der betonverbauten öffentlichen Plätze, die es nicht nur in Berlin an vielen Ecken gibt, doch nur ein einzelnes Sprayer-Kunstwerk prangt an den Wänden, die Konzentration ruht ungeteilt auf dem Bühnengeschehen. Und da wird einiges geboten, insbesondere die Tanzszenen der jungen Laiendarsteller (Choreografie Efrat Stempler) sind beeindruckend, musikalisch kongenial begleitet an E-Gitarre und Mac von Micha Kaplan. Der Bezug zu den titelgebenden sieben Todsünden wird nur stellenweise deutlich, im Ganzen ist es eher ein modernes Sittengemälde, eine kleine Horrorshow der Laster und Versuchungen, die dem Jugendlichen heutzutage so zur Verfügung stehen. Damit lässt sich der Abend problemlos füllen, der rote Faden aus den angekündigten sieben Kreisen einer Höllenfahrt wird dann erst im Nachgang wirklich sichtbar, wenn man das Stück noch einmal Revue passieren lässt.

 Am packendsten ist die Inszenierung, wenn sie persönlich wird, die Leidensbiographie der Sportversagerin wird mit sarkastischem Lachen illustriert, bei der Magersuchtsbeichte bleibt der Kloß im Halse lange stecken. Aber auch die eher alltäglichen Miniaturen von der Schlacht bei Primark oder vom Bemühen um das perfekte Selfie im andauernden social Media – Stress sind sehenswert. Das Dicksein als Konkurrenznachteil wird in einer Performance nach Müller-Westernhagen ironisch ausgeleuchtet, auch eine Boygroup-Persiflage gibt es zu bestaunen.

 Es ist eine Mischung aus Provokationen, Offenbarungen und Showeinlagen, alles fügt sich zu einer „neuen Seltsamkeit“, die erwähnte Tocotronic schon vor Jahren besangen. Einige Zitate bleiben länger hängen, facebook & Co. helfen, „nicht eine Sekunde mit dir allein sein zu müssen“, (auch) die Jugend von heute will sich nicht vorschreiben lassen, wie sie sich zu ruinieren habe, den Platz in der Gesellschaft findet man wohl nur, wenn man jemand anders wird als man ist. Dem Dämon des Überdrusses wird ausgiebig gehuldigt, und „sharing is caring“, das wird auf der Bühne dann auch für Körperteile verbal angewendet. Von einigen bedeutungshubernden überlangen Pausen abgesehen, ist das eine mitreißende und fesselnde Revue, die eindreiviertel Stunden vergehen wie im Fluge.

 Die Darsteller*innen agieren allesamt auf hohem Niveau, zeigen eine beachtliche Bühnenpräsenz und sind stimmlich und tänzerisch hervorragend eingestellt. Offenbar kann das seit einigen Jahren bestehende Junge DT auf ein großes Reservoir von spielbegeisterten Talenten zurückgreifen für die drei Inszenierungen, die spielzeitlich das reguläre Repertoire ergänzen.

 Naturgemäß war das eine völlig andere Art einer jungen Bürgerbühne, als sie vor wenigen Tagen hier vom Mannheimer Nationaltheater mit „Nichts“ gezeigt wurde. Da wurde mit hoher Perfektion „vom Blatt gespielt“, hier fügten sich die Erfahrungen und Haltungen der Darsteller zu einem aufregenden Stück, das wirklich mit ihnen selbst zu tun hatte. Mir selbst ist diese Form deutlich näher, und auch das wiederum sehr junge Publikum im Kleinen Haus feierte die Aufführung lang und euphorisch.

 

Wenn Sprache zu Musik wird

„Requiemaszyna“ vom Theaterinstitut Warschau, entwickelt und einstudiert von Marta Górnicka, gesehen im Rahmen des Bürgerbühnenfestivals in Dresden am 21. Mai 2014

 

 Ein Bürgerensemble betritt im Dauerlauf den Saal, in einer langen Reihe, zwei Dutzend Männer und Frauen aus Warschau, die Bühne füllt sich. Kurze Stille, dann hebt der Chor an, mit Urgewalt, doch präzise moduliert und nuanciert dank des Dirigats von Marta Górnicka, die mitten im Publikum steht. Allein ihr zuzuschauen, wäre schon ein Vergnügen, wie sie mit raumgreifenden Gesten nicht nur die Stimmen, sondern auch die Bewegungen des Chors steuert.

Texte von Wladislaw Broniewski aus den dreißiger Jahren werden mit Sprachfetzen aus dem Alltag, Abzählreimen, Kampfliedern und Werbesprüchen vermischt, dabei immer wieder in Wiederholungen gepresst, die Lautstärke variiert ebenso wie die Zusammensetzung der Gruppen, die die Zeilen sprechen. Kernthema des „ekstatischen Requiems für ein System …, in dem die Freiheit zu einer Technik der Macht verkommen ist“ (so das Programmheft) ist die Arbeit, vor allem in den häufigsten Darreichungsformen „viel zu viel“ und „gar keine“, und was sie dadurch aus den Menschen macht. Dazu werden die stimmlichen Mittel des Ensembles ausgereizt, es wird gesungen, geflüstert, gebrüllt, gewispert, geatmet, im Stakkato gesprochen … Dieser Chor hat einen ganz eigenen Sound. Und eine mitreißende Rhythmik sowieso. Das meist roboterhafte Agieren ist Absicht, der fast maschinellen Sprache von Broniewski angemessen. Kaum zu glauben, was man aus Laien (denn das sind festivalgerecht alle Chormitglieder) an Klangfülle und –wucht herausholen kann, in einer ganz eigenen Schönheit.

 Ja, dieses Werk ist schön, es ist eine faszinierende Komposition aus Sprache und Rhythmus, das einen auch ohne Polnischkenntnisse in seinen Bann zieht (die Texte werden auf deutsch übertitelt). Die äußerste Exaktheit der Chorsprache, die sicher auf harter Arbeit beruht (auf polnisch „Praca“, wie oft zu hören ist) ist bewundernswert, die Choreographie der Gruppe bei den Neuformierungen auf der Bühne fällt dagegen etwas ab, auch wenn die Positionswechsel wohl überlegt scheinen. Trotz der relativen Kürze von einer dreiviertel Stunde ist auch die konditionelle Leistung der Darsteller*innen beachtlich, immerhin war es schon die zweite Aufführung an diesem Abend im Societätstheater.

Das Publikum dankt mit sehr langem und sehr lautem Applaus und trampelt fünf Vorhänge herbei. Ein Höhepunkt des Festivals, ganz ohne Zweifel.

 

 Im Publikumsgespräch ist noch einiges zu den Hintergründen zu erfahren. Es ist nach dem „Frauenchor“ und dem „Magnificat“, die beide auch international schon große Beachtung fanden und diverse Auszeichnungen bekamen, die dritte Arbeit von Marta Górnicka, die 2010 begann, in dieser Form zu arbeiten und damit eine ganz eigene Ausdrucksweise gefunden hat. Das alles passiert nicht im Rahmen einer theatergebundenen festen Institution, sondern projektbezogen unter den Fittichen des Warschauer Theaterinstituts „Zbiegniew Raszewski“. Die Mitwirkenden werden jeweils neu gecastet für die Projekte, Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, nur ein Gefühl für Rhythmik und der Wille, sich auf einer Bühne auszudrücken. Von einem vorhandenen Libretto und einem Konzept für die Inszenierung ausgehend, wird das Stück dann in den Proben bis zur Endfassung weiter entwickelt.

 Auch wenn das chorische Theater in Dresden einige (junge) Traditionen hat, die auf Volker Lösch und seinen Bürgerchor der „Orestie“, in den „Webern“ und bei „Woyzeck“ zurückgehen, so etwas hat man hier noch nicht gesehen. Am ehesten vergleichbar scheint es mit „Antigona Oriental“ zu sein, ebenfalls von Lösch, das er in Montevideo inszenierte und damit auch in Dresden gastierte.

Aber was heißt schon „vergleichbar“? Die Requiemaschine steht für sich selbst. Ein mitreißender Abend, voller Kraft und Poesie.

 

Doch etwas fehlt

Doch etwas fehlt

1. Deutsch-Europäisches Bürgerbühnenfestival in Dresden:

Nachdem sich am Sonntag und Montag der Begriff von Bürgerbühne deutlich weitete, kehrte man mit den Stücken des vierten Tages zu den vermeintlichen Kernkompetenzen zurück.

Die Borgerscenen Aalborg Teater präsentierte „Romeo og Julie lever!“ (Romeo und Julia leben!) in der Regie von Minna Johannesson, die Mannheimer Bürgerbühne des dortigen Nationaltheaters brachte „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ von Janne Teller mit.

Da ist etwas gelungen

Etwas hat sich in Gang gesetzt

„…, und nichts kann es mehr aufhalten“, um einen Slogan des Deutschen Theaters Berlin, das mit seinem Jungen Theater hier ebenfalls vertreten sein wird, zu zitieren. Das erste deutsch-europäische Bürgerbühnenfestival hat am 17. Mai 2014 in Dresden begonnen, und zumindest in den nächsten sieben Tagen wird es den Rhythmus dieser Stadt maßgeblich bestimmen.

Sonnabendnachmittag, kurz vor 17 Uhr, es wuselt und quirlt derart vor und im Foyer des Kleinen Hauses, dass man eine erste Ahnung davon bekommt, welch logistischer Aufwand hinter diesem Festival steckt. …

Es dauert, ehe das Völkchen sich im Saal eingefunden hat, doch viertel sechs (für die Gäste: Viertel nach Fünf) geht es dann endlich los: Ein Chor aus siebzig Akteurinnen und Akteuren der Dresdner Bürgerbühne, in seiner Besetzung repräsentativ für die volle Breite der Spielenden, eröffnet mit einem Lied über dieselbe das Festival, gewohnt begeisterungsfähig und selbstironisch. „Party und Partizipation“ heißt das Motto, und man wagt auch den Blick in die Zukunft, wenn die Bürgerbühne erst zehn Jahre alt sein wird, steht bestimmt auch die erste Welttournee an. …

(Die gesehenen Stücke: „Die Klasse“ vom jungen theater basel und „Die letzten Zeugen“ vom Burgtheater Wien)

Der ganze Text:
http://www.livekritik.de/kultura-extra/theater/spezial/buergerbuehnenfestival2014_dererstetag.php

Der Bürger als Theatermann

Schöne, nicht ganz neue Welt

Die Saisonvorschau 2014/15 des Staatsschauspiels Dresden

Es ist Gründonnerstag, ein Journalistenfeiertag, wie man jetzt auch im Staatsschauspiel Dresden weiß und deshalb die Pressekonferenz zur kommenden Saison um einen Tag vorzog. Die Vorstellung vor den interessierten Publikumskreisen (zwei Vereine und einige Abweichler) konnte aber am geplanten Tag verbleiben, die meisten im mit 200 Gästen gut gefüllten Foyer sind ohnehin im Rentenalter.

Ich beschließe, den rar gewordenen Moment, zum jüngsten Viertel der Besucher zu gehören, ausgiebig auszukosten und lasse mir die Laune auch nicht durch die witzelnde Einleitung des Vereinsmeiers Eins verderben. Dessen Zumutungen lässt Intendant Wilfried Schulz locker abtropfen und hat gleich ein ärztliches Bulletin zu verkünden: Ja, Lea Ruckpaul habe sich den Fuß gebrochen, aber bei den jungen Leuten wachse sowas schnell wieder zusammen. Sie würde heute trotzdem die Titelrolle in Antigone spielen, im Sitzen, und ihre Wege würde jemand anderes gehen, was grad noch auf der Bühne geprobt würde, weswegen man mit der Spielplanvorstellung ins Foyer ausgewichen sei.
Das klingt verdammt interessant, wie schlümmstes Berliner Regietheater, auch wenn ich das Stück überhaupt nicht und die aktuelle Inszenierung auch nicht besonders mag. Ich bleib dann aber doch nicht zur Vorstellung, die Welt (oder zumindest ein Milliardstel davon) wartet auf meinen Bericht. Also:

Die „geistige Stütze“ des 61-jährigen Schulz (um den Vereinsmeier Eins zur Strafe zu zitieren), Chefdramaturg Robert Koall, weilt im fernen Amerika, um auch dort Gutes zu tun, zumindest an einigen Studierenden. Wie man ihn kennt, wird er eine Uraufführung mitbringen.
Wilfried Schulz muss heute also alleine die durchaus wohlwollende Halbfachwelt (Fachhalbwelt?) bespielen, aber dies gelingt prächtig. Die gute Stunde vergeht wie im Fluge, nur am Anfang sind es ein paar Fußballmetaphern zu viel, das hat er gar nicht nötig, zumal er gelegentlich einen Zwischenruf bekommt, den er als Steilpass aufnimmt und dem Rufer postwendend ins eigene Netz knallt. (Jaja, ich kann das auch mit den Metaphern.)

Genug geblödelt.
Es wird eine schöne Welt werden im Dresdner Theater, wenn auch keine völlig neue. Doch man startet mit einer Uraufführung, besagter „Schönen neuen Welt“ nach Aldous Huxley, die – siehe oben – Robert Koall eingesammelt und für die Bühne aufbereitet hat. Und dann führt auch noch der seit dem Dresdner „Don Carlos“ zur allerersten Reihe gehörende Roger Vontobel Regie, der diesen beängstigend-großartigen Stoff sicher in faszinierender Weise umsetzen wird. Da freu ich mich schon sehr drauf, und wenn es für den 12. September schon Karten gegeben hätte, würde eine jetzt mir gehören.
Also mal kein Klassiker zur Eröffnung, aber vielleicht wird es ja einer.

Dafür folgt dann ein richtiger: Tschechow. Das brachte Herrn Schulz zum Sinnieren, wo denn die Sehnsuchtsorte heute so wären, da ja „nach Moskau …“ nur mehr bedingt gelten würde. Die Frage blieb offen. (Ich hätte Hiddensee und das Schützenhaus in Wehlen zu bieten, aber das ist jetzt vielleicht zu banal.)
Regie wird Tilman Köhler führen, was unbedingt eine gute Idee ist, wie laut Schulz auch das Ensemble findet. Drei Dutzend Bewerber*innen hätte er auf elf Rollen … Dass er bei dieser Gelegenheit auch noch so cool ist, über sein sicher nicht unbeträchtliches Gehalt zu witzeln (und einen Teil davon als Schmerzensgeld zu definieren), zeigt eine Souveränität, die in den fünf Jahren seines Vertrags stetig gewachsen ist.

Wilfried Schulz hat inzwischen in Dresden verlängert, was ebenfalls eine gute Idee ist, und beginnt nun seine sechste Spielzeit. In dieser wird es – auch wenn „Klaus im Schrank“ noch wie geschnitten Brot geht – ein neues Kinder- und Familienstück geben, „Das Gespenst von Canterville“ nach Oscar Wilde. Auch wenn die Geschichte eigentlich jeder kennt, wird interessant sein, wie Susanne Lietzow dies auf die Bühne bringt. Dass Herr Schulz wortreich erklärte, warum nun Frau Lietzow schon wieder „sowas“ machen würde, sagt leider einiges über das Ansehen dieser Gattung in Fachkreisen aus, was einerseits schade ist, mir aber andererseits auch wurscht, denn selbst wenn es die großartigen „Ratten“ nicht gegeben hätte, würde ich ihre Arbeit dennoch schätzen.

Der Faust kommt immer wieder, das kann ich bestätigen. Nach der werktreuen Fassung von Holk Freytag vor einigen Jahren (mit einem phänomenalen Gespann Glodde/Mesgarha, ich erinnere mich gut und gern) kommt nun der hierzulande noch nicht tätig gewesene Intendant aus Uppsala, Linus Tunström, der auch als Choreograph arbeitet, und kündigt eine freie Interpretation an. Es soll irgendwie retrospektiv werden und die Best-Ager im Ensemble dürfen sich schon mal warmlaufen. Auch das klingt spannend.
Die darstellende Jugend ist dann bei „Wie es euch gefällt“ gefragt, das Jan Gehler, Hausregisseur Nr. 2, erstmals auf der großen Bühne inszeniert. Dies sei nicht mit „Was ihr wollt“ zu verwechseln, tat Schulz kund, und bescheinigte einem „Hoffentlich!“ Rufenden dann eleganter, als ich das hier widergeben kann, mangelnde geistige Reichweite. Doch auch den hier nicht mehr ganz so gut gelittenen Andreas Kriegenburg ereilte bei dieser Gelegenheit ein Schulzscher Ordnungsruf: 30 Minuten zu lang sei es geraten.
(Schulz ist da übrigens ganz meiner Meinung, den fast einhelligen Verriss der diesjährigen Inszenierung teile auch ich mitnichten.)

Egal. Kriegenburg (oder besser Dresden?) bekommt eine neue Chance, „Bernarda Albas Haus“ von Lorca wird im April 2015 premierieren und fast das gesamte weibliche Ensemble auf der Bühne versammeln, was allein schon Grund genug wäre hinzugehen. Davor gibt es noch einen unbekannten Schiller („Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“) des hier auch noch nicht so populären Regisseurs Jan Philipp Gloger und Kafkas „Amerika“, das Wolfgang Engel, auf andere Art ein Hausregisseur, inszenieren wird, mit Olaf Altmann als Bühnenbildner.

Irgendwie (vermutlich beim Stichwort Gloger) kam dann die Sprache auf die Semperoper und die „dort noch verbliebenen Kollegen“, die sich der guten Wünsche aus dem neuschwesterlichen Hause sicher sein könnten. Respekt, noch nie hat sich ein offizieller Vertreter der Kultur im Freistaat so deutlich erbost über den Rauswurf von Serge Dorny geäußert wie Wilfried Schulz heute. Aus anderen Landeshauptstädten, z.B. in Bindestrich-Ländern, hört man derzeit eher Ergebenheitsadressen an die Ministerien.
Gut, er hat frisch verlängert, einen weiteren Rauswurf eines Intendanten wegen Majestätsbeleidigung würde Frau von Minister politisch weder durchbekommen noch überstehen, dennoch: Diese klare Positionierung ist dankenswert, zumal sie einen Bogen schlug nach Wien und nach Düsseldorf, wo auch grad große Tanker schlingern.

Zurück zu einer anderen Art von Theater: Im Großen Haus sind noch die „Lehman Brothers“ zu erwähnen, die die Geschichte des Kapitalismus über 150 Jahre erzählen werden, kleiner haben wir es hier nicht. Das Stück stammt vom Italiener Stefano Massini und kommt als deutschsprachige Erstaufführung. Regie führt der Kölner Intendant Stefan Bachmann, der damit auch die große Umbaupause in Köln überbrückt. Und Friederike Heller wird „Dantons Tod“ von Büchner inszenieren, die Premiere ist im Mai 2015 geplant.

Das Kleine Haus und die Bürgerbühne kommen dann zeitbedingt recht kurz weg. Mit Philipp Löhle gibt es einen neuen Gegenwartsautor, den Barbara Bürk inszenieren wird. Der letzte Roman von Monika Maron, „Zwischenspiel“, wird vom Jung-Regisseur Malte Schiller verarbeitet, die Hauptrolle übernimmt Hannelore Koch, eine schöne Konstellation.
Ein Stück zum NSU wird es geben, von Thomas Freyer in der Regie von Tilman Köhler, fragend angelegt, wie Schulz erklärte. Und Roger Vontobel wird mit der „Panne“ von Dürrenmatt seine zweite Dresdner Produktion in dieser Saison machen und seine allererste eines Schweizer Autors auch. Arthur Miller steht mit „Alle meine Söhne“ auf dem Programm (Regie Sandra Strunz), und Martin Heckmanns wird sich mit den Qualen der Eltern bei den ersten sexuellen Erfahrungen der Kinder befassen, ein Stück ganz nach dem Geschmack des Intendanten, wie er bekundete.
Und dann kommt noch ein Musikstück von und mit Clemens Sienknecht, „Superhirn oder wie ich die Photonenklarinette erfand“. Wilfried Schulz ist sicher nicht rachsüchtig, merkt sich aber alles, und so wurde der arme Zwischenrufer von vorhin mit „nichts Ernsthaftes, also nichts für Sie!“ angesprochen. Er wird das sicher nie wieder tun.

Ach ja, und dann steht noch was Geheimes ins Kleine Haus, mit „Ein neuer Text“ umschrieben. Immerhin der Regisseur ist mit Jan Gehler schon fixiert, was dann auf die Bühne kommt, soll erst zur Frankfurter Buchmesse verraten werden. So macht man das heute.
Die beiden hiesigen Lokalzeitungen stiegen dennoch in ihrer Berichterstattung nicht darauf ein, bei der einen ist man ohnehin nicht verwöhnt, und die andere setzte den Schwerpunkt auf die Aussagen zum „Fall Dorny“. Hier kann man sich also noch investigativ betätigen, so man dies möchte oder muss.

Die Bürgerbühne ist inzwischen Normalität, was schön ist, ihr aber in solchen Veranstaltungen auch keine Extrawurst mehr beschert. Fünf neue Inszenierungen sind zu erwarten, auf jene zur jüdischen Identität in Dresden, inspiriert durch die „letzten Zeugen“ des Burgtheaters, die zum Bürgerbühnenfestival im Mai hier gastieren werden, sei besonders verwiesen. Und auf das nunmehr dritte Landschaftstheater, wieder von Uli Jäckle.

Es ist – Phrasendrescher an – ein „reicher Spielplan“, mit einer klareren inhaltlichen Trennung zwischen Großem und Kleinem Haus, wie mir scheint. Die Saison trägt kein eigenes Motto, aber dem – nicht nur wegen der ungewöhnlichen Schauspielerportraits – gelungenen Spielzeitheft ist ein Zitat von Wolfgang Herrndorf vorweggestellt:
„Wir waren unterwegs, und wir würden immer unterwegs sein, und wir sangen vor Begeisterung mit“
Ja, meinereiner kommt mit, und selbst das Mitsingen kann ich mir vorstellen, wenn das alles so eintritt.

Die Veranstaltung beschließt Vereinsmeier Zwei, kalauernd wie Nr. Eins, aber immerhin hat er Blumen dabei. Und dann ist Ostern.

Ganz die Mama.

„Medeas Töchter“, Aufführung des Clubs der stolzen Bürgerinnen an der Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden, gesehen am 10. April 2014

 Ich muss des besseren Verständnisses halber ein wenig ausholen.

In Dresden wurde so einiges erfunden, der Kaffeefilter z. B. – man kann aber auch aufbrühen – oder das Mundwasser, wobei Zähneputzen wohl immer noch wirksamer ist. Und auch wenn diese Dinge hier vielleicht nicht direkt erfunden wurden, so bekamen sie doch in Dresden ihre Marktreife, ab da wurde Geld damit verdient.

 Ähnlich verhält es sich mit der Bürgerbühne. Natürlich gab es das schon, äh, immer, würde ich sagen, dass Laien auf der Bühne standen, eigentlich ja bereits, bevor „Schauspieler“ ein Beruf wurde. Doch das System, eine Laienschar auf der Bühne mit einem ganz normalen Theaterapparat aus Profis zusammenzubringen, wurde in den letzten Jahren unstreitig in Dresden perfektioniert und institutionalisiert. Damit wird nun auch Geld verdient, aber noch mehr wird Ruhm eingesammelt, und da der Beifall das Brot des Künstlers ist (der bestimmt auch weiß, wie man da Butter und Kaviar drauf schmiert), kann man das vor fünf Jahren begonnene Wagnis als gelungen bezeichnen, so sehr gelungen, dass die Fachwelt sich inzwischen hier die Klinke in die Hand gibt und uns im Mai das Erste Europäische Bürgerfestival ins Haus steht, natürlich in Dresden, an der Wiege der Bewegung.

 Diese Bürgerbühne zerfällt (im übertragenen Sinne, Leute!) in zwei Teile:

Da sind zum einen die „richtig“ inszenierten Aufführungen, die sich dann wiederum aus an stark an den Biographien der Darsteller orientierten Stückentwicklungen zusammensetzen und zum anderen aus den Klassikern der Theaterliteratur, die dann mit einem sehr speziellen Blick auf die Bühne gebracht werden. Beide sind Bestandteil des normalen Spielplans des Staatsschauspiels und überdauern im besten Falle schon mal eine Sommerpause. Dass sie oftmals sehr erfolgreich sind, liegt beileibe nicht nur daran, dass das Publikum gern auch mal seine Verwandten, Freunde und Bekannten auf einer richtigen Bühne erleben möchte, sondern an den anrührenden Geschichten aus dem ganz normalen Leben. „Experten des Alltags“ sind die Darsteller laut Eigenwerbung der Bürgerbühne, und dem ist nicht zu widersprechen.

Und dann gibt es noch die Clubs, etwa ein Dutzend in jeder Saison, die jenen offen stehen, die sich nur mal ausprobieren wollen am Theater. Diese tragen so klangvolle Namen wie „Club der liebenden Bürger“ oder auch „Club der anders begabten Bürger“. Gekrönt wird deren Arbeit mit einer (ein- oder auch zweimaligen) Aufführung.

Wem diese weitschweifige Erläuterung dann immer noch nicht ausreicht, möge sich hier umschauen: http://www.staatsschauspiel-dresden.de/buergerbuehne/

 Und heute war nun der „Club der stolzen Bürgerinnen“ dran.

Sechzehn Frauen zwischen 14 und 40 Jahren beschäftigten sich unter der Leitung der Theaterpädagogin Christiane Lehmann mit dem Thema „Stolz“ und landeten bei Medea, der tragischen, zauberkundigen Gestalt aus dem antiken Kolchis, die ihre Heimat aufgab, um ihren Traummann, den griechischen Helden Jason, bei seinen Abenteuern zu unterstützen (Zitat Programmflyer). Doch Medea bot nur den roten Faden, den sie sich vermutlich bei Ariadne lieh, um die eigenen Lebenserfahrungen der Spezialistinnen im Frausein und Frauwerden (nochmal zitiert) bühnengerecht aufzubereiten.

 Vorweg: Es ist gelungen. Ein schöner, anregender, oft auch anrührender Abend, getragen von der Kraft und der Spielfreude der Akteurinnen.

Jene treten im vom Tanztheater gewohnten schwarzen Dress auf, drapiert mit Tüchern in den vier Grundfarben, die sie effektvoll einzusetzen wissen (Bühne und Kostüm: SUTTER/SCHRAMM). Wird anfangs noch – zum Frustabbau? – imaginär aufs Publikum eingeschlagen, werden dann die Leitsätze rezitiert, die die einschlägige Fachliteratur von Emma bis Brigitte bereithält. „Rasier Dich!“ ist mir besonders in Erinnerung geblieben.

 Die Widersprüchlichkeit der Frau von heute und an sich wird dargestellt, wir begegnen verschlossenen Labertaschen und well organized Chaotinnen. Es ist ein „Theater unserer lieben Frauen“, doch eh man dieser Kirche beitreten kann, werden andere Seiten aufgezogen, das Damenprogramm ist nicht mehr smoothy. So viele Todeswege kennt Medea für den Ungetreuen, dass Mann froh ist, nur einmal sterben zu können. „Schwanz ab“ ist natürlich auch dabei, unter den Gewalt- und Machtphantasien ist „auf den Bauch kacken“ da eher harmlos, aber trotzdem nicht schön. Frauen sind auch nur Menschen, wenn auch ganz besondere, lernt man, man ahnte es ja schon.

 Dass die musikalischen Beiträge mir nicht ganz so gelungen erschienen, lag sicher daran, dass die eingespielte Musik (Stefan Menzel) doch sehr nach Dorfdisko klang, das reißt auch eine kollektive Milva nicht raus. Absicht? Keine Ahnung. Dafür wird der zahlreich vorkommende Chortext meist sehr präzise vorgetragen, man spürt die Arbeit, die dahintersteckt, und die tänzerische Leistung – nicht nur mit den farbigen Schleiern – ist beachtenswert.

 Der schlechte Mann solle ein äußerlich sichtbares Merkmal tragen, wird gefordert. Aber Mädels, das hat er doch schon …

Die zu Recht angesprochene ewige Toilettenfrage bleibt weiter ungelöst, denn auch wenn alle anderen Weltprobleme geregelt sein werden, dürfte die Schlange vor der Mädchentoilette immer noch beträchtlich sein, und nur die Taffesten der Damen nutzen den männlichen Rückzugsraum, wobei die Jungs dann dort leicht pikiert zur Seite gucken. So war es, so wird es wohl immer sein.

 Aber ich schweife ab. Am Schluss des Stücks werden Fragen formuliert, an das Leben, doch die Antworten muss dann doch jede für sich selbst finden (jeder übrigens auch, wenngleich sich jene beim antagonistischen Geschlecht etwas anders stellen). Eine kurzweilige Stunde geht zu Ende, das dankbare Publikum jubelt und spendet reichlich Applaus.

Man hört, die Aufführung wird zum Saisonende im Juli noch einmal stattfinden. Ich rate zum Ansehen.

Faust – Macht – Kopf

Unvollendete Gedanken zum Faust

Die wenigsten unter uns werden es wissen (nicht jeder kann ein Eisenbahner sein): „Kopf machen“ bedeutet, die Richtung völlig umzukehren oder zumindest deutlich zu ändern. Ein Zug macht Kopf, wenn er in einen „Sack“-Bahnhof hinein- und wieder hinausfährt. „Sack“ bezieht sich dabei nicht auf die physische Beschaffenheit der bahnhofstypischen Anlagen, sondern auf die Tatsache, dass es am Ende eines Sackes gewöhnlich nicht mehr weitergeht, solange jener intakt ist.
Nachdenken ist dabei erst einmal nicht gemeint.

A Der klassische Faust I als Kurzform in Zitaten und Assoziationen:

1. Verwirren, nicht befriedigen!
2. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
3. Die Kunst ist lang. Und kurz das Leben.
4. Dem Wurme gleiche ich und nicht den Göttern.
5. Ein verfrühter Abgang wird durch Glockengeläut verhindert
6. Botschaft hören, Glaube vermissen, Erde ihn wiederhabend
7. Zwei Seelen, ach, in meiner Brust, die eine will sich trennen
8. Ich bin ein Teil von jener Kraft …
9. Zu alt um nur zu spielen, zu jung um ohne Wunsch zu sein
10. Wenn wir uns drüben wiederfinden, sollst Du mir das Gleiche tun
11. „Augenblick, verweile doch“ … Dann wär’s vorbei
12. Blut ist ein besonderer Saft
13. Die Kraft ist schwach doch die Lust ist groß
14. Hexen – Einsdurcheins
15. Der Helena-Trunk
16. Arm und Geleit angetragen und abgelehnt
17. Verliebter Tor … Beginn des Abwegs
18. Was so ein Mann nicht alles denken kann
19. Ihre Ruh ist hin, ihr Herz ist schwer, … Und ach, sein Kuss!
20. Wie hasst Du? Es? Mit der Religion?
21. Duckt er da, duckt er sonst auch.
22. Fortgang selber denken.
23. Tod und Tod. Und Tod. Der Soldat als Hüter der Moral fällt.
24. (theoret.: Religion als Disziplinierung und Machtsicherung)
25. Walpurgisfatsche, Gretchenvision, Faust bereut ein bisschen.
26. Kerker. Grete ist schon auf dem nächsten Level, zu spät für die Rettung. Es graut ihr ohnehin vorm Heinrich.
27. Die Zweier-Karawane zieht weiter.

B Das meint?

(Man kann den Faust heutiger machen, aber sicher nicht besser. Nur, wenn man ihn nicht heutiger machen würde, wäre er deutlich schlechter.)

Faust macht also Kopf, nachdem er sich nen Kopf gemacht hat, dreht sein Leben um mit Hilfe von Mephisto.
Gretchen ist anfangs keine Gescheiterte. Aber sie wird durch Faust zu einer.
Mephisto ist dabei der hilfreiche Geist, der tut das aber nicht für lau. Faust darf nun nie glücklich werden, sonst ist seine Seele verloren
Und wenn schon. Wer braucht nach dem Tode noch seine Seele?

Faust und Mephisto sind natürlich dieselbe Person.

C Und jetzt?

Der Faust am Anfang ist heute vielleicht

• der erfolgreiche Geschäftsmann mit Selbstzweifeln und einem modischen Burnout, gelangweilt vom Wohlstand, auf der Suche nach dem Kick und nach dem Sinn
• der hochgelobte Schriftsteller, der doch weiß, dass seine Bücher nicht mehr sind als gequirlte Kacke, der den Literaturbetrieb hasst, aber das Einkommen daraus schätzt
• der Gentechniker, der weiß, dass er seine Züchtungen irgendwann nicht mehr beherrschen wird, aber diesen Gedanken im Forschungs- und Erfolgsrausch immer wieder verdrängt
• der Volkspartei-Politiker, der lange schon ahnt, dass seine einfachen Antworten nicht ausreichen, um die komplizierten Fragen zu beantworten, sich aber weiter in Macht und Anerkennung suhlt, weil er zu feige ist, die Wahrheit zu sagen
• der Professor, der routiniert seine Theorien verkündet, obwohl er schon lange nicht mehr daran glaubt, der gerne nochmal von vorn anfangen würde, aber zu viele Verpflichtungen hat
• … also im Prinzip jeder, der sich auf dem falschen Weg fühlt, sich aber nicht traut, die Richtung zu ändern

Mephisto?
Kann der Dealer sein, die Luxushure, der Schamane, das Delirium.
Er ist aber immer das Spiegelbild, die dunkle Seite des Faust.

Aber … gibt es Mephisto überhaupt?
Nein. Er ist nur ein Produkt der überreizten Phantasie von Faust, seine erdachte Legitimation zum Grenzübertritt. Eine Kopfgeburt im wahren Sinne, ein Homunkulus des Faust. Alles Böse, alles Dunkle ist doch in Faust schon drin, er braucht keinen Teufel, nur einen Anstoß, einen Katalysator, einen Vorwand. Und dann zieht er los, was kostet die Welt? Sie gehört doch sowieso schon mir. Das Glück ist auf der Seite des Tüchtigen.
Wo gehobelt wird, fallen Späne, wo verführt, Jungfrauen. Wo die Kraft des Meeres gebändigt werden soll, sind kleine Leute und ihr Häuschen fehl am Platze.
Mit uns zieht die neue Zeit … Es möge sich besser keiner in den Weg stellen.

Übrigens:
Gibt es Gott? Nicht den Arne aus dem Radio, sondern Gott?
Wenn es Gott gibt, muss es dann einen Teufel geben? Und wenn es keinen Gott gibt, kann es dann einen Teufel geben? (Auch in „Der Meister und Margherita“ wird das nicht endgültig geklärt.)

Und „Faust“ heute? Der Name ist meist härter als sein Träger.
Faust oder Fäustling? Oder auch Faustan? Das ist hier die Frage, Hamlet.

(Lustig, gerade eben, als ich das schreibe, sitzt das Gretchen aus der letzten „richtigen“ Faust-Inszenierung in Dresden am selben Tresen im Thalia.)