Kategorie: Kultur
Ganz die Mama.
„Medeas Töchter“, Aufführung des Clubs der stolzen Bürgerinnen an der Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden, gesehen am 10. April 2014
Ich muss des besseren Verständnisses halber ein wenig ausholen.
In Dresden wurde so einiges erfunden, der Kaffeefilter z. B. – man kann aber auch aufbrühen – oder das Mundwasser, wobei Zähneputzen wohl immer noch wirksamer ist. Und auch wenn diese Dinge hier vielleicht nicht direkt erfunden wurden, so bekamen sie doch in Dresden ihre Marktreife, ab da wurde Geld damit verdient.
Ähnlich verhält es sich mit der Bürgerbühne. Natürlich gab es das schon, äh, immer, würde ich sagen, dass Laien auf der Bühne standen, eigentlich ja bereits, bevor „Schauspieler“ ein Beruf wurde. Doch das System, eine Laienschar auf der Bühne mit einem ganz normalen Theaterapparat aus Profis zusammenzubringen, wurde in den letzten Jahren unstreitig in Dresden perfektioniert und institutionalisiert. Damit wird nun auch Geld verdient, aber noch mehr wird Ruhm eingesammelt, und da der Beifall das Brot des Künstlers ist (der bestimmt auch weiß, wie man da Butter und Kaviar drauf schmiert), kann man das vor fünf Jahren begonnene Wagnis als gelungen bezeichnen, so sehr gelungen, dass die Fachwelt sich inzwischen hier die Klinke in die Hand gibt und uns im Mai das Erste Europäische Bürgerfestival ins Haus steht, natürlich in Dresden, an der Wiege der Bewegung.
Diese Bürgerbühne zerfällt (im übertragenen Sinne, Leute!) in zwei Teile:
Da sind zum einen die „richtig“ inszenierten Aufführungen, die sich dann wiederum aus an stark an den Biographien der Darsteller orientierten Stückentwicklungen zusammensetzen und zum anderen aus den Klassikern der Theaterliteratur, die dann mit einem sehr speziellen Blick auf die Bühne gebracht werden. Beide sind Bestandteil des normalen Spielplans des Staatsschauspiels und überdauern im besten Falle schon mal eine Sommerpause. Dass sie oftmals sehr erfolgreich sind, liegt beileibe nicht nur daran, dass das Publikum gern auch mal seine Verwandten, Freunde und Bekannten auf einer richtigen Bühne erleben möchte, sondern an den anrührenden Geschichten aus dem ganz normalen Leben. „Experten des Alltags“ sind die Darsteller laut Eigenwerbung der Bürgerbühne, und dem ist nicht zu widersprechen.
Und dann gibt es noch die Clubs, etwa ein Dutzend in jeder Saison, die jenen offen stehen, die sich nur mal ausprobieren wollen am Theater. Diese tragen so klangvolle Namen wie „Club der liebenden Bürger“ oder auch „Club der anders begabten Bürger“. Gekrönt wird deren Arbeit mit einer (ein- oder auch zweimaligen) Aufführung.
Wem diese weitschweifige Erläuterung dann immer noch nicht ausreicht, möge sich hier umschauen: http://www.staatsschauspiel-dresden.de/buergerbuehne/
Und heute war nun der „Club der stolzen Bürgerinnen“ dran.
Sechzehn Frauen zwischen 14 und 40 Jahren beschäftigten sich unter der Leitung der Theaterpädagogin Christiane Lehmann mit dem Thema „Stolz“ und landeten bei Medea, der tragischen, zauberkundigen Gestalt aus dem antiken Kolchis, die ihre Heimat aufgab, um ihren Traummann, den griechischen Helden Jason, bei seinen Abenteuern zu unterstützen (Zitat Programmflyer). Doch Medea bot nur den roten Faden, den sie sich vermutlich bei Ariadne lieh, um die eigenen Lebenserfahrungen der Spezialistinnen im Frausein und Frauwerden (nochmal zitiert) bühnengerecht aufzubereiten.
Vorweg: Es ist gelungen. Ein schöner, anregender, oft auch anrührender Abend, getragen von der Kraft und der Spielfreude der Akteurinnen.
Jene treten im vom Tanztheater gewohnten schwarzen Dress auf, drapiert mit Tüchern in den vier Grundfarben, die sie effektvoll einzusetzen wissen (Bühne und Kostüm: SUTTER/SCHRAMM). Wird anfangs noch – zum Frustabbau? – imaginär aufs Publikum eingeschlagen, werden dann die Leitsätze rezitiert, die die einschlägige Fachliteratur von Emma bis Brigitte bereithält. „Rasier Dich!“ ist mir besonders in Erinnerung geblieben.
Die Widersprüchlichkeit der Frau von heute und an sich wird dargestellt, wir begegnen verschlossenen Labertaschen und well organized Chaotinnen. Es ist ein „Theater unserer lieben Frauen“, doch eh man dieser Kirche beitreten kann, werden andere Seiten aufgezogen, das Damenprogramm ist nicht mehr smoothy. So viele Todeswege kennt Medea für den Ungetreuen, dass Mann froh ist, nur einmal sterben zu können. „Schwanz ab“ ist natürlich auch dabei, unter den Gewalt- und Machtphantasien ist „auf den Bauch kacken“ da eher harmlos, aber trotzdem nicht schön. Frauen sind auch nur Menschen, wenn auch ganz besondere, lernt man, man ahnte es ja schon.
Dass die musikalischen Beiträge mir nicht ganz so gelungen erschienen, lag sicher daran, dass die eingespielte Musik (Stefan Menzel) doch sehr nach Dorfdisko klang, das reißt auch eine kollektive Milva nicht raus. Absicht? Keine Ahnung. Dafür wird der zahlreich vorkommende Chortext meist sehr präzise vorgetragen, man spürt die Arbeit, die dahintersteckt, und die tänzerische Leistung – nicht nur mit den farbigen Schleiern – ist beachtenswert.
Der schlechte Mann solle ein äußerlich sichtbares Merkmal tragen, wird gefordert. Aber Mädels, das hat er doch schon …
Die zu Recht angesprochene ewige Toilettenfrage bleibt weiter ungelöst, denn auch wenn alle anderen Weltprobleme geregelt sein werden, dürfte die Schlange vor der Mädchentoilette immer noch beträchtlich sein, und nur die Taffesten der Damen nutzen den männlichen Rückzugsraum, wobei die Jungs dann dort leicht pikiert zur Seite gucken. So war es, so wird es wohl immer sein.
Aber ich schweife ab. Am Schluss des Stücks werden Fragen formuliert, an das Leben, doch die Antworten muss dann doch jede für sich selbst finden (jeder übrigens auch, wenngleich sich jene beim antagonistischen Geschlecht etwas anders stellen). Eine kurzweilige Stunde geht zu Ende, das dankbare Publikum jubelt und spendet reichlich Applaus.
Man hört, die Aufführung wird zum Saisonende im Juli noch einmal stattfinden. Ich rate zum Ansehen.
Sag mir wo Du gestanden hast
„Spiegelungen“, Fotografien von Peter Zimolong, eine Ausstellung im DREWAG-Treff Dresden vom 12. März bis 21. Juni 2014
Digitale Fotos von Spiegelungen, soso. Wo doch heutzutage jeder Tragfernsprecher immer bereit ist, gestochen scharfe Schnappschüsse von jedweder Situation zu machen. Will man zu solchen Bildern wirklich „Kunst“ sagen?
Ja, man will. Weil man kann. Denn sehr viele fühlen sich berufen, doch nur wenige sind auserwählt.
Peter Zimolong scheint einer davon zu sein. Der 1973 geborene Dresdner Fotograf, der sich eher in der unbelebten Materie zu Hause fühlt, hat nach seiner beachtlichen „Urbanen Tektonik“ nun eine Sammlung von Spiegelungen ausgewählt. Das klingt zunächst unspektakulär und ist es auf den ersten Blick auch. Doch es lohnt sich, näher hinzuschauen.
…
http://www.livekritik.de/kultura-extra/kunst/feull/ausstellung_peterzimolong_spiegelungen.php
Furie im Schlachthaus
„Elektra“, tragische Oper von Richard Strauss, in einer Inszenierung von Barbara Frey und unter musikalischer Leitung von Christian Thielemann gesehen und gehört an der Semperoper Dresden am 31. Januar 2014
Mit Iphigenie hat alles angefangen.
Auch wenn der Name an diesem Abend nicht fällt und sich das Libretto von Hugo von Hofmannsthal konsequent dieser Tatsache verweigert, „Elektra“ und die Orestie allgemein sind nicht begreifbar ohne den Beginn des Trojanischen Krieges.
Agamemnon, dessen Totenkult die Tochter Elektra bis zur Selbstaufgabe betreibt und für dessen Ermordung sie ihre Mutter Klytämnestra bestraft sehen will, hatte damals für günstigen Wind ihre ältere Schwester Iphigenie geopfert und seine Frau als de facto Alleinerziehende zurückgelassen für mehr als zehn Jahre. Als er schließlich siegreich aus dem Felde zurückkehrt (übrigens mit der Trojerin Kassandra als Beute), muss er dies büßen und findet mit Hilfe des Strohwitwentrösters Aegisth ein blutiges Ende im eigenen Badezimmer. Der Stammhalter Orest wird daraufhin abgeschoben aufs Land, die Töchter Elektra und Chrysothemis verbleiben am Hofe, der nun unter neuer Leitung steht.
Aus solchem Stoff werden Psychothriller gemacht.
Straussens (und Hofmannthals) „Elektra“ steigt ein geschätztes Jahrzehnt später mit der Handlung ein. Die Schwestern werden wie Gefangene gehalten, doch während Chrysothemis sich den Willen zum Leben und zum Glück bewahrt hat, gefällt sich Elektra, die ihren geschlachteten Vater abgöttisch verehrt und sich als Vergeltungsgöttin inszeniert, in der Märtyrerinnenrolle. Keine leidet schöner als sie, aber ihre Wahrheit ist genauso relativ wie die Gerechtigkeit, Rache ist Blutlust.
Der verschollene Bruder Orest soll es richten, später, als die (fingierte) Kunde von seinem Tode kommt, will sie auch selbst zum Beil greifen. Aber Orest lebt, was man kurze Zeit später von seiner Mutter und deren Geliebtem nicht mehr sagen kann. Zuvor noch eine ergreifende Wiedererkennung zwischen Brüderlein und Schwesterlein.
Die Gewaltspirale hat sich am Ende ein Stück weitergedreht, was Elektra – ihrer selbstgesetzten Aufgabe entledigt – zusammenbrechen lässt.
Das Haus Agamemnon steht nun wieder unter neuer Leitung.
(Dass Orest wenig Freude an seiner neuen Würde haben wird, weiß man, doch die Oper endet an dieser Stelle.)
Man sollte es sich dennoch nicht zu leicht machen mit der Beurteilung des Stoffes. Dem Werk Verherrlichung von Gewalt und Rache zu unterstellen, greift zu kurz, dafür werden – trotz der scheinbar eindeutigen Parteinahme von Komponist und Librettist – die Charaktere und deren Gefangenheit in einem mörderischen Schicksal zu gut ausgeleuchtet. Vor allem die Dialoge zwischen den Schwestern und zwischen Mutter Klytämnestra und Tochter Elektra sind von großer psychologischer Tiefe.
Dennoch, ein Geschmäckle bleibt, wenn man diesen vor fast genau 105 Jahren an selber Stelle uraufgeführten Stoff aus heutiger Sicht betrachtet: Sicher ist es nicht üblich, mit Opern ähnlich zu verfahren wie mit Theaterstoffen, das Genre setzt da engere Grenzen. Aber denkbar wäre es für mich schon, zumindest mit theatralen Mitteln eine gewisse Distanzierung vom hier fast als „Happy End“ erscheinenden Muttermord und des Fanatismus allerorten zu erzeugen.
Gut, das ist die Meinung eines Laien. Das klassische Opernpublikum ist da sicher anderer Auffassung.
Bleiben wir bei den Fakten.
Und da gibt es – auch wenn es zur Beurteilung deutlich Berufenere gibt – von einer Staatskapelle zu berichten, die einen wunderbar stimmigen Klangteppich ausbreitete, ein Genuss vor dem Herrn (Thielemann). Eine mit Urgewalt und unglaublich schön singende Evelyn Herlitzius als Elektra ist zu erwähnen, der auch darstellerisch alles gelang. René Pape als Orest hat mich mit seinem kräftigen und klaren Bass begeistert, und Anne Schwanewilms als Chrysothemis stand sängerisch der Titelpartie in nichts nach. Alle anderen Gesangsrollen fand ich respektabel, wenn auch ohne die Glanzlichter der drei Erwähnten. Bühne und Kostüme waren unspektakulär, passend, aber ohne eigene Akzente zu setzen, fast schon etwas bieder.
Von Barbara Freys Regie blieb mir der hübsche Einfall mit dem Kinderpaar Elektra und Orest im Hintergrund in der Wiedererkennungsszene der beiden in Erinnerung, aber auch eine gewisse Statik der Handelnden in vielen Bildern. Unbedingt zu nennen ist das hervorragende Programmheft, unter anderem mit einer tiefsinnigen Stückanalyse der Regisseurin und der Dramaturgin Micaela v. Marcard, die auch eine lesenswerte geschichtliche Einordnung beisteuert.
(Ach, und meiner boulevardesken Neigung folgend: Prof. Udo Zimmermann bin ich auch wieder begegnet, wir sehen uns inzwischen so oft, dass man glauben könnte, wir wären verwandt.)
Ein viertelstündiger, jubelnder Beifall am Ende, mit ungezählten Bravo’s und zahlreichen Vorhängen. Wie man hört, war es die letzte Aufführung in dieser illustren Besetzung, ich darf mich in Summe glücklich schätzen, dabei gewesen zu sein.
Faust – Macht – Kopf
Unvollendete Gedanken zum Faust
Die wenigsten unter uns werden es wissen (nicht jeder kann ein Eisenbahner sein): „Kopf machen“ bedeutet, die Richtung völlig umzukehren oder zumindest deutlich zu ändern. Ein Zug macht Kopf, wenn er in einen „Sack“-Bahnhof hinein- und wieder hinausfährt. „Sack“ bezieht sich dabei nicht auf die physische Beschaffenheit der bahnhofstypischen Anlagen, sondern auf die Tatsache, dass es am Ende eines Sackes gewöhnlich nicht mehr weitergeht, solange jener intakt ist.
Nachdenken ist dabei erst einmal nicht gemeint.
A Der klassische Faust I als Kurzform in Zitaten und Assoziationen:
1. Verwirren, nicht befriedigen!
2. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
3. Die Kunst ist lang. Und kurz das Leben.
4. Dem Wurme gleiche ich und nicht den Göttern.
5. Ein verfrühter Abgang wird durch Glockengeläut verhindert
6. Botschaft hören, Glaube vermissen, Erde ihn wiederhabend
7. Zwei Seelen, ach, in meiner Brust, die eine will sich trennen
8. Ich bin ein Teil von jener Kraft …
9. Zu alt um nur zu spielen, zu jung um ohne Wunsch zu sein
10. Wenn wir uns drüben wiederfinden, sollst Du mir das Gleiche tun
11. „Augenblick, verweile doch“ … Dann wär’s vorbei
12. Blut ist ein besonderer Saft
13. Die Kraft ist schwach doch die Lust ist groß
14. Hexen – Einsdurcheins
15. Der Helena-Trunk
16. Arm und Geleit angetragen und abgelehnt
17. Verliebter Tor … Beginn des Abwegs
18. Was so ein Mann nicht alles denken kann
19. Ihre Ruh ist hin, ihr Herz ist schwer, … Und ach, sein Kuss!
20. Wie hasst Du? Es? Mit der Religion?
21. Duckt er da, duckt er sonst auch.
22. Fortgang selber denken.
23. Tod und Tod. Und Tod. Der Soldat als Hüter der Moral fällt.
24. (theoret.: Religion als Disziplinierung und Machtsicherung)
25. Walpurgisfatsche, Gretchenvision, Faust bereut ein bisschen.
26. Kerker. Grete ist schon auf dem nächsten Level, zu spät für die Rettung. Es graut ihr ohnehin vorm Heinrich.
27. Die Zweier-Karawane zieht weiter.
B Das meint?
(Man kann den Faust heutiger machen, aber sicher nicht besser. Nur, wenn man ihn nicht heutiger machen würde, wäre er deutlich schlechter.)
Faust macht also Kopf, nachdem er sich nen Kopf gemacht hat, dreht sein Leben um mit Hilfe von Mephisto.
Gretchen ist anfangs keine Gescheiterte. Aber sie wird durch Faust zu einer.
Mephisto ist dabei der hilfreiche Geist, der tut das aber nicht für lau. Faust darf nun nie glücklich werden, sonst ist seine Seele verloren
Und wenn schon. Wer braucht nach dem Tode noch seine Seele?
Faust und Mephisto sind natürlich dieselbe Person.
C Und jetzt?
Der Faust am Anfang ist heute vielleicht
• der erfolgreiche Geschäftsmann mit Selbstzweifeln und einem modischen Burnout, gelangweilt vom Wohlstand, auf der Suche nach dem Kick und nach dem Sinn
• der hochgelobte Schriftsteller, der doch weiß, dass seine Bücher nicht mehr sind als gequirlte Kacke, der den Literaturbetrieb hasst, aber das Einkommen daraus schätzt
• der Gentechniker, der weiß, dass er seine Züchtungen irgendwann nicht mehr beherrschen wird, aber diesen Gedanken im Forschungs- und Erfolgsrausch immer wieder verdrängt
• der Volkspartei-Politiker, der lange schon ahnt, dass seine einfachen Antworten nicht ausreichen, um die komplizierten Fragen zu beantworten, sich aber weiter in Macht und Anerkennung suhlt, weil er zu feige ist, die Wahrheit zu sagen
• der Professor, der routiniert seine Theorien verkündet, obwohl er schon lange nicht mehr daran glaubt, der gerne nochmal von vorn anfangen würde, aber zu viele Verpflichtungen hat
• … also im Prinzip jeder, der sich auf dem falschen Weg fühlt, sich aber nicht traut, die Richtung zu ändern
Mephisto?
Kann der Dealer sein, die Luxushure, der Schamane, das Delirium.
Er ist aber immer das Spiegelbild, die dunkle Seite des Faust.
Aber … gibt es Mephisto überhaupt?
Nein. Er ist nur ein Produkt der überreizten Phantasie von Faust, seine erdachte Legitimation zum Grenzübertritt. Eine Kopfgeburt im wahren Sinne, ein Homunkulus des Faust. Alles Böse, alles Dunkle ist doch in Faust schon drin, er braucht keinen Teufel, nur einen Anstoß, einen Katalysator, einen Vorwand. Und dann zieht er los, was kostet die Welt? Sie gehört doch sowieso schon mir. Das Glück ist auf der Seite des Tüchtigen.
Wo gehobelt wird, fallen Späne, wo verführt, Jungfrauen. Wo die Kraft des Meeres gebändigt werden soll, sind kleine Leute und ihr Häuschen fehl am Platze.
Mit uns zieht die neue Zeit … Es möge sich besser keiner in den Weg stellen.
…
Übrigens:
Gibt es Gott? Nicht den Arne aus dem Radio, sondern Gott?
Wenn es Gott gibt, muss es dann einen Teufel geben? Und wenn es keinen Gott gibt, kann es dann einen Teufel geben? (Auch in „Der Meister und Margherita“ wird das nicht endgültig geklärt.)
Und „Faust“ heute? Der Name ist meist härter als sein Träger.
Faust oder Fäustling? Oder auch Faustan? Das ist hier die Frage, Hamlet.
(Lustig, gerade eben, als ich das schreibe, sitzt das Gretchen aus der letzten „richtigen“ Faust-Inszenierung in Dresden am selben Tresen im Thalia.)
Aus Bähmen kommt die Mussick
Die Jindřich-Staidel-Combo im Blue Note Dresden, 22.12.2013
Jahreszeitlich angepasst marschiert man zu „Taratatam“ in den, nun ja, Saal. Das wird zünftig gespielt, auch wenn die Kapelle gewohnt unlustig guckt. Die Vertreter des Brudervolks im Süden tun hier nur ihre Pflicht, allerhöchstens. „Wer dansen mechte, lässt es bitte bleiben.“ Olomouc ist kurz vor dem Abschied des Center-Klaus nochmal auf Mugge, da gibt es klare Regeln. Aber haben Sie bitte Spaß!
Mehr als rammelvoll ist die „Bouda Modry Note“ heute, solch schöne Trainingsanzüge („aus Fläz“, wie wir später lernen werden) wie die Formation da vorne hat aber keiner an. Der Adjutant Prochazka berichtet näselnd-nölig aus dem reichhaltigen Leben des Jindřich Staidel, während ebenjener unbeteiligt durch die Spiegelbrille schaut. Offensichtlich versteht er kein Deutsch. Muss er auch nicht.
Der Autohändler Meth aus Olomouc hat eine Schwester namens Crystal, die hat Kekse gebacken … Und so nimmt das Unheil seinen Lauf. „Don’t cry for me, Česka Lipa“ heißt es, als Jindřich nach seiner Umschulung das Kaff wieder verlässt. Am Ende wissen wir, eigentlich muss es „Dräsdn-Neustadt“ heißen.
Wir hören Welthits in eher schlichten Arrangements, allesamt natürlich ursprünglich aus der Feder von Meister Staidel, der am liebsten im Liegen komponiert. Besonders vor der Pause blitzt das Können der vier auf der Bühne nur selten auf, sie sind vorerst nur ein Gesamtkunstwerk, aber die Stimmung kocht im Hostinec.
Wir lernen auch was: Bei Wolfskin fehlt generell das „e“ an der Jack, doch Manička stickt es gerne dazu, gegen Entgelt. Wenn man morgens im Löbtauer Schnittgerinne erwacht, ist die Gefahr einer temporären Demenz groß, doch die Kapelle hat eine mobile Apotheke dabei und bietet Oblaten dagegen feil. Die formschönen und praktischen Anzüge der Herren bestehen wie schon berichtet aus Fläz, was im Böhmerwald unter Tage abgebaut und von einem Schneider namens Das Adi zum Endprodukt verarbeitet wird.
Vor der Halbzeit noch ein Stück, wo dann alle mal zeigen, wo sie eigentlich herkommen: Aus Jazz-Virtuosien. Auch schön: In der Pause rauchen Ginstler und Bubblikum einträchtig eine Stange „Start“ vor der Tür des inzwischen leergeatmeten Jazz-Imbisses.
Dann nimmt die musikalische Klasse deutlich zu: E + U = XXL, um es mal so auszudrücken. Die Bandmitglieder Jindřich Staidel, Pro Haska, Manitschka Krausonova und Tatra Skota (bürgerliche Decknamen auf Anfrage) sind mitnichten nur Spaßvögel, sondern ausgewiesene (häh?, der Sezza) Könner auf ihren Instrumenten. Stellenweise ist es nun fast ein „normales“ Jazzkonzert.
Dennoch hat die Combo einen Bildungsauftrag, dem sie nachkommen muss. Wir lernen also weiter: Burnout ist ein Nachbardorf von Olomouc, und in Böhmen herrscht ein brutaler Winter, saukalt soll es sein. Soso. Da hat wohl der Tourismusverband ein Anliegen gehabt.
Von Böhmen aus betrachtet, haben die Deitschen nun eine goldene Plazenta als Verteidigungsministerin, man beobachtet die Lage offenbar aufmerksam. Statt Euro-Hack gibt es künftig Euro-Mett, meint man im Nachbarland.
Wie alle superreichen Künstler hat Jindřich Staidel eine Stiftung gegründet, die sich u. a. dem Kampf gegen „Gähtnicht“ verschrieben hat. Ziemlich erfolgreich sogar, an diesem Abend geht alles.
Insgesamt ist Teil Zwo deutlich jazziger, jetzt kommen auch die Puristen auf ihre Kosten, die, für die der Künstler keinen Humor haben darf. Falls sie nicht zuvor gegangen sind aus Protest gegen diese schrägen Blödeleien. Aber ich hab nachgezählt, es waren alle noch da nach der Pause.
Ein Zeckenbiss der Liebe für Betra, die nur Euro nimmt, nix Korun, was im Moment aber unklug erscheint. Die Melodie hat übrigens ein gewisser Karel aus Praha gestohlen, sie in den Westen verkauft und führt sich nun auf wie der liebe Gott.
Ein Tag im Leben des Jindřich Staidel, von ihm selbst auf Altböhmisch gesungen und von Prochazka liebevoll simultan übersetzt. Doch auch bei großen Männern passiert nicht immer was.
Ein Knedl-Hai kann geangelt werden im Schaufenster des Apothekers von Olomouc, Pan Tau fährt dort den Schneepflug und das letzte Rudel Polyluxe lebt in den Stadtwäldern und führte dort neulich „Titanic“ auf … Können Sie folgen? Man muss es erlebt haben, beschreiben ist schwer.
Dann sehen wir sogar einen tanzenden Meister Staidel in der vollen Lebensgröße seiner 155 cm, er öffnet nicht nur in der Heimat mit seiner Aura alle Portemonnaies. Manička Krausonova hat sich an der Sorbonne in Dampfbügeleisen promoviert und leitet jetzt die örtliche Musikschule sowie die Pfandflaschenannahme.
Tatra Skota stammt ursprünglich aus dem Baumarkt und ist hauptberuflich als Schredder tätig mit seinen Stöckchen, Pro Haska hatte eine schwere Kindheit mit vertauschter Mutter und bringt morgens um Neun die Unterschriftenmappe zu Herrn Staidel. Alles ganz normal also, Menschen wie Du und ich.
Zum Ende hin noch eine Hymne auf das Kofferradio an Bord, auch Abba hat alles dem Meister zu verdanken, und dann … „Oblatki, Oblada, Becherovka!“. Feierabend und zurück über die grüne Grenze. Fast drei Stunden erstklassiger Musik und genialen Schwachsinns in der Jazz-Arena „Blue Note“ liegen hinter uns.
Don’t cry for me, Dresden-Neustadt? Doch.
Ein perfekter Sonntagabend
Da sitzt einer – Heiko „Hesh“ Schramm, u.a. coloRadio-Macher – auf der kleinen Bühne vom Blue Note in Dresden-Neustadt.
Und singt. Und spielt. Auf elektrischen Gitarren. Irgendwo zwischen Tom Waits und Leonard Cohen.
Und erzählt. Über Literatur, amerikanische. Truman Capote und Norman Mailer, Ihr wisst schon. Und auch über Mrs. Rowlings ersten „Erwachsenen-Roman“.
Das Ganze fügt sich zu einem Gesamtkunstwerk.
Was will man mehr, an diesem ersten Dezembersonntagabend, von interessierten Stellen auch „erster Advent“ genannt?
Ein wundersamer Abend.
Familienaufstellung nach Kästner
Hamsterrad mit Granaten, waagerecht
„Marathon“ von Aharona Israel, ein Tanz-Theaterstück, Gastspiel im Rahmen der 17. Jüdischen Musik- und Theaterwoche am Societätstheater Dresden, gesehen am 25. Oktober 2013
Wenn man wie ich auf dem geistigen Schoß von Yassir Arafat aufgewachsen ist und das Pali-Tuch zur pubertären Grundausstattung gehörte, tut man sich erst einmal schwer, die israelische Gesellschaft zu begreifen. Ein Land der extremen Gegensätze, zwischen Orthodoxen und dem Strand von Tel Aviv, mehr und mehr von einem russischen Jungbrunnen aus Menschen gespeist und von den allgegenwärtigen Bomben und Raketen mühsam zusammengehalten? Vielleicht auch.
Ich weiß viel zu wenig über die „Palästina-Frage“, über Jerusalem oder die Golanhöhen, um mich hier eindeutig positionieren zu können. Aber über die Menschen in Israel, da weiß ich seit heute einiges mehr.
Aharona Israel, Choreographin und Performerin, inszeniert ihren „Marathon“ als ewigen Lauf im kleinen Kreis, ohne Pause, nur unterbrochen von Kommandos, Change! für den Richtungswechsel, Hora! für den Tanz, Schickse! angesichts eines unziemend daherkommenden Mädchens, Aufrecht! für die Haltung, Granate! für das, was allgegenwärtig ist.
Am Start: Ein junger Mann mit aus der Kindheit stammendem Scheidungstrauma, eine orthodox erzogene junge Frau, die dann doch lieber tanzt als zur Armee zu gehen und ein russischer Einwanderer mit abgöttisch geliebtem Sohn, der nicht russisch sprechen darf, weil seinen Vater das Heimweh plagt. Eine Avocado ist nun mal keine Kartoffel.
Am Anfang sind alle voller Disziplin und Aufopferungsbereitschaft in dieser Gesellschaft unter permanentem Druck, doch man merkt schnell, wie dicht am Wahnsinn das alles hier gebaut ist. Wir wandern, nein rennen durch den Psychosengarten. Das Mädchen will eine vorbildlich trauernde Schwester sein und schafft es doch nicht, der Junge beginnt nach dem Sinn des Ganzen zu fragen und lebt in seinen Alpträumen, dem Vater steht „njet“ in der Hand geschrieben. Kaputt das alles, am Ende sieht man es auch deutlich. Die Bewegungen werden langsamer, ersterben fast.
Dann gehen die Zuschauer, einer nach dem anderen, überlassen die Protagonisten ihrer Welt, die aus einem waagerechten Hamsterrad besteht, mit Granaten.
Das ist nicht nur großartig gespielt, das ist hervorragend getanzt und einen ergreifenden Text hat es außerdem. Die drei Darsteller – deren Namen das Programm leider nicht verrät – zeigen nicht nur sportliche Höchstleistungen, sie bringen uns die Israelis nahe, ganz nahe.
Ein phantastischer Abend.
Die Schuld der späten Geburt und die Schuld der Geburt überhaupt
„Ein Stück von Mutter und Vaterland“ von Bozena Keff, Regie Jan Klata, Gastspiel des Polski Teatr Wroclaw im Rahmen der 17. Jüdischen Musik- und Theaterwoche am Staatsschauspiel Dresden am 24. Oktober 2013
Haben Sie schon mal drüber nachgedacht, dass Sie mit Ihrer Geburt erst deutlich nach dem großen Krieg Schuld auf sich geladen haben, weil sie sich damit dem damals erlittenen Leid feige verweigerten?
Und dass Sie überhaupt mit Ihrer Geburt dem Leben Ihrer Mutter eine irreversible Wendung gaben, an deren Folgen sie noch heute laboriert? Nein? Dann wird es Zeit.
Es beginnt klatanesk, ein bildmächtiges, lautes Intro. Silhouetten im Halbdunkel auf der Bühne, nicht wirklich Menschen, die Schatten sprechen und singen im Chor, vor vier blechernen Ungeheuern von Schränken auf Rollen, die Bühnen in der Bühne bilden. Quälendes Licht, tödlich laute Musik. Das wird kein Milchkaffee-Theater, soviel ist klar.
Die Mutter erscheint Ripley (ja, dieser Ripley) als Alien, oder erscheint das Alien als Mutter? Von Anfang an ist es schwer, der Handlung – sofern vorhanden – zu folgen, die deutschen Übertitel helfen, hindern aber auch durch das Hin-und-her-springen-müssen der Augen. Gut, das kann man einer polnischen Inszenierung in Dresden kaum vorwerfen. Da muss man halt durch.
Es ist ein harter Stoff, nur selten aufgeweicht durch szenische Einfälle wie das Klapperschlangenballett. Klata verbraucht Darsteller und Zuschauer, eine Zumutung, im positiven Sinne.
Sechs Akteurinnen (einer davon im Prinzip männlich), mit blonden Mähnen und gedrehten Zöpfchen angetan, klischeegerecht, aber sonst ist da nicht viel klassisch. Sie springen ständig zwischen Mutter, Tochter und Vaterland.
Im Prinzip – wenn ich es recht verstanden habe – geht es um die zwei Grundthemen, die eingangs schon kurz beschrieben wurden. Man könnte auch sagen, es geht um Generationenkonflikte unter besonderen geschichtlichen Umständen, und um Selbstgerechtigkeit. Die einen sind ein für allemal geadelt durch das Überleben des Holocaust und vermissen den ihnen geschuldeten Respekt, den anderen geht das ständige Erzählen von früher langsam auf den Sack.
Oder, auf eine private Ebene gebracht: Die Mutter verlangt ewige Dankbarkeit für den Akt des Gebärens, für die Tochter ist es irgendwann auch mal gut damit.
Das klingt beides nicht nach Koalitionsvertrag am Ende.
Den vorwurfsvollen Sermon der Mutter, der immer wieder ausgewalzt wird in den Minibühnen, die dann ein (Plattenbau-) Wohnzimmer bilden, kennen sicher viele. Du kümmerst Dich nicht um mich, mein Leben ist Dir egal, und meine Krankheitsbilder erst recht. Demütig nehmen die Töchter die Vorwürfe entgegen, zu demütig, finde ich.
Doch man merkt, dass das eine besonders subtile Form der Machtausübung ist, ein Materpatriarchat. Die Kinder sind schuld, von Anfang an, und sollen ihre Schuld nun mit Zuwendung abtragen.
Nein, das ist nicht mütter-, schon gar nicht frauenfeindlich, die Autorin Bozena Keff ist über diesen Verdacht erhaben. Aber sie stellt interessante Fragen, ohne Antworten dazu zu liefern. Wie auch?
„Die Mutter aus dem Schrank“, um mal einen Dresden-Bezug herzustellen, erscheint immer wieder und nervt. Aber was bleibt ihr auch übrig?
Das Stück endet fast versöhnlich, mit einem schönen barocken Satzgesang, tolle Stimmen. „Der (nicht vorhandene) Vorhang zu, und alle Fragen offen“. Muss man halt selber nach-denken.
Ein Donnerhall an Applaus, gemischt mit Begeisterungsschreien im fast vollen Kleinen Haus. Völlig zu Recht.
Gott will uns alle freehlich sehn
Gestern (also am 19. Oktober) im Rahmen der Jüdischen Musik- und Theaterwoche gesehen:
http://www.kultura-extra.de/musik/feull/juewo2013_sharonbrauner.php
Und hier eine Hörprobe als Blog-Zugabe:
Dajdajdajdaj, dajdajdajdaj …
