Kategorie: Politik

Thälmannstraße 89/6: Es endet ordnungsgemäß

6.10., Draußen

Helmstedt ist bewegt, auch vom Pech der über Prag Geflohenen, an den großen Momenten in Leipzig und anderswo nicht mehr teilnehmen zu können. Die saßen im Aufnahmelager und zuhause wurde Geschichte geschrieben.
So geht es auch Markus, seit drei Wochen hängt er in Gießen fest, das sich in den wesentlichen Dingen kaum von der DDR unterscheidet. Immerhin bekommt er nach langem Schlangestehen seine Mutter an das Telefon. Und während er vor allem wissen will, was denn jetzt daheim los wäre, so viele Menschen auf der Straße, hat die Mutter andere Sorgen. Schließlich erzählt sie ihm trotz Verbots von seiner kommenden Vaterschaft.
Der geschockte Markus kann auch mit Johanna sprechen und sie stammelnd bitten, zu ihm zu kommen, doch es ist zu spät: Das Mädchen kann ihm den Weggang nicht verzeihen und wird mit Jens zusammenbleiben. Markus ist draußen, in allen Beziehungen.
Eine berührende Folge war das heute, trotz der vielen Tränen.

8.10., Der Direktor ist nackt

Die begonnenen Geschichten müssen zu Ende geführt werden, es ist die vorletzte Folge und das Thema „Wendehals“ ist noch nicht ausreichend behandelt. Doch zuvor zanken sich Bentwisch und Helmstedt mal wieder, diesmal, ob der Mauerfall der Höhepunkt der Wende war. Geschichtsbücher helfen da nur bedingt, es ist eher eine Ansichtssache.
Die Handlung springt derweil ein Stückchen, Direktor Rothe ist inzwischen nicht mehr rot, sondern voller Empörung aus der Partei ausgetreten. Die von ihm im September wegen politischer Unzuverlässigkeit beurlaubte Frau Wagner (ja, die Mutter von Markus, die Welt ist auch in Leipzig klein) soll wieder unterrichten dürfen, was sicher auch dem wendigen Ex-Genossen gut anstünde. Doch jene lässt ihn abblitzen, der Dialog zwischen den beiden ist ein hübsches Kabinettstückchen und bisher einer der Höhepunkte der Serie.
Das findet auch Helmstedt, und da ist es zu „Helmut“ bzw. „Jens“ nicht mehr weit. Nun wächst zusammen, …
Nach den anfänglichen Irritationen find ich es allmählich schade, dass morgen schon die letzte Folge kommt, passend zum entscheidenden Montag, dessen Bedeutung auch nur noch die Hälfte der Deutschen kennt, wie die Nachrichten wenig später vermelden.

9.10., Ein Happy-End und noch ein zweites

Nun kommts dicke. Showdown am 9. November in der Wohnung von Frau Wagner, deren Ausreiseantrag – die Mutter will zum Sohne – in Weltniveau-Tempo bewilligt wurde. Dem frischen Paar Johanna und Jens ist dies nicht wirklich recht, Omas waren schon damals zur Bewältigung des Lebens mit Kleinkind unverzichtbar. Aber ein Grund zum Sekt köpfen ist es trotzdem.
Da steht plötzlich der Grund der Ausreise vor der Tür, Markus, der seinerseits einen dringenden Grund zur Einreise hat, seine anstehende Vaterschaft. Johanna aber bleibt konsequent.
Doch ehe sich diese Konstellation zum Drama ausweiten kann, hat Schabowski seine berühmten Worte genuschelt, was in der Folge u.a. zu Nachtwanderungen und zu vielfachen „Waaahnsinn“-Rufen führte. Nun fließt wirklich Sekt bei Wagners, wenn auch nur über den Fußboden.
Ende offen, zumindest im Privaten? Im Prinzip ja, doch die Rahmenhandlung bietet die Auflösung: Jens Bentwisch ereilt ein Anruf von Johanna, ja, jener Johanna, Ehefrau seit fast 25 Jahren. Helmstedt kommen mal wieder die Tränen vor Rührung.

Tschüss, Johanna, tschüss Jens, tschüss alle anderen. Wir haben erst gefremdelt, aber uns dann doch angefreundet. Wäre spannend zu erfahren, wie ihr durch die Nachwende kommt, und wer weiß, vielleicht hört man sich ja mal wieder.

Thälmannstraße 89/5; Die Wende im Großen und im Kleinen

Thälmannstraße 89/5; Die Wende im Großen und im Kleinen

Montag, 29.09., Wenn der Vater ohne den Sohn …

Eingangs erfahren wir die Hintergründe von Helmstedts persönlicher Betroffenheit: Der Flurfunk sagt, wenn er diese Serie wieder vergurkt, wird er nach Görlitz versetzt. Andere wären froh, aber der Doktor weiß das nicht zu schätzen und lässt sich von Bentwisch trösten. Beide wirken auf mich immer mehr wie Holm und Jensen von der dänischen Kriminalpolizei, nur mit wechselnden Rollen.
In der Binnenhandlung stehen die Macher vor der schwierigen Aufgabe, das Einkesseln und die anschließende Zuführung der Demonstranten in die Markkleeberger Pferdeställe plausibel hörbar zu machen. Das gelingt nur mittelprächtig, die Verängstigung klingt glaubhaft, aber dann ist viel Pathos dabei, und die Polizisten wirken nur mäßig gefährlich.
Höhepunkt ist dann die Vater-Sohn-Begegnung, der Gen. Oberstleutnant wurde natürlich von dem besonderen Fang benachrichtigt (eine Personalienaufnahme wurde allerdings nicht erwähnt zuvor) und da Privat auch hier vor Katastrophe geht, soll Sohnemann mit heimkommen, zur Aussprache sicherlich. Doch jener lässt sich auch vom Lockangebot, seine Freundin Johanna (die jetzt offiziell so genannt wird) mit auf freien Fuß zu setzen nicht beeindrucken und bleibt im Kreise der Verhafteten.
Vater und Sohn versichern sich gegenseitig, dass dem anderen das leid tun werde, und mindestens einer wird Recht behalten.

Mittwoch, 1.10., In guter Hoffnung

Den West-Import Helmstedt plagt der Neid auf die historische Konstellation, wo man noch wirklich was hätte tun können, ganz im Gegensatz zu heute. Die Ebenen der Gegenwart sind offenbar mühseliger zu bezwingen als die Berge der Vergangenheit.
In den Pferdeställen von Markkleeberg windet sich Johanna indessen in Krämpfen, und die Angst der Wachmannschaft vor den Konsequenzen verschafft ihr schließlich einen Krankenhausbesuch. Die Soap wird damit kurzzeitig zur Arztserie, eine Göttin in Weiß tritt souverän der Staatsmacht entgegen und klärt die in dieser Beziehung offenbar unbewanderte Johanna über deren Schwangerschaft im vierten Monat auf. Es klingt nun doch sehr seifig.

Freitag, 3.10., Die kleine und die große Wende

Redakteur Helmstedt will es möglichst authentisch, Autor Bentwisch schwebt eher eine Wundergeschichte, ein großes Märchen vor.
Offenkundig setzt er sich durch, denn es geht feiertagsgerecht weihevoll weiter. Die Fürbitte in der Nikolaikirche von Markus Mutter hat großes Pathos, auch die folgende zugunsten der fehlgeleiteten Polizisten trägt viel Schmelz.
In der Geschichte ist inzwischen der 9. Oktober, jener Montag, an dem sich der weitere Fortgang der Geschichte entschied. Der ganz großen wie auch offenbar einer etwas kleineren: Johanna hilft ihrem verdutzten Freund Jens kurz und bündig das erwartete Kind über, was jenem kurz als ein neuerlicher Fall von unbefleckter Empfängnis vorkommt, ehe dann sehr weltlich der getürmte Markus als Vater benannt wird. Der Pragmatismus ist eine Meisterin aus Ostdeutschland.
Noch drei Folgen bis zum Finale, eine Art Happy-End zeichnet sich ab am Horizont, aber ganz ohne Verwicklungen wird auch die letzte Woche nicht bleiben, ist zu hoffen.

Egon Krenz hat die Wende erfunden

„1989: Jedem seine Geschichte“ ein MDR Figaro – Café in Kooperation mit der ZEIT und dem Staatsschauspiel Dresden am 28. September 2014

Wo ist man, wenn sich die Diskutanten Datumsangaben wie Stichworte zuwerfen und alle einschließlich des zuhörenden Saals auf Anhieb wissen, worum es geht? Richtig, in einer Debatte über das prägende Ereignis vor fünfundzwanzig Jahren, dessen heute gängige Bezeichnung „Wende“ auf Egon Krenz zurückgeht, wie der Schriftsteller Ingo Schulze (damals Dramaturg am Theater Altenburg) gleich zu Beginn anmerkte.
[Ich erinnere mich, dass Christa Wolf schon am 4. November (einem der oben erwähnten markanten Tage) dieses Wort öffentlich auseinandernahm und eine hübsche, aus der Seefahrt stammende Interpretation fand, sinngemäß: Der Kapitän befiehlt „Klar zur Wende“ und die Mannschaft duckt sich, weil gleich der Mastausleger über das Deck fegt. Auch die Anfügung „-Hals“ wurde von ihr in diesem Kontext erwähnt, was dem Siegeszug des praktisch-kurzen Begriffes „Wende“ keinen Abbruch tat. Und nun werden wir den nicht mehr los.]

Die anderen markanten Daten sind übrigens der 9. Oktober (ein bzw. DER Montag) und der 9. November, in welchem sich seitdem ein Großteil der Ambivalenz deutscher Geschichte abbildet. [Ich füge das nur an, weil unter den Lesern eventuell auch Menschen unter 25 Lebensjahren und/oder westdeutschen oder gar ausländischen Geblüts sein könnten. Man weiß ja nie. Bei allen anderen darf man diese Kenntnis wohl voraussetzen.]

Die anderen Diskussionsteilnehmerinnen waren Heide Schwochow, heute Drehbuchautorin, damals in der Kinderhörspielabteilung des DDR-Rundfunks – die berühmte Nalepastraße – und (auch formal) ausreisewillig sowie Evelyn Finger, die das Jahr 89 als Abiturientin in Halle erlebte, an der Saale, klar, und dennoch heute das elegant benamste Ressort „Glauben und Zweifeln“ der ZEIT leitet.
[Ein Ressort „Wissen“ gibt es übrigens auch, was allerdings etwa achtmal so viel Platz in der Wochenzeitung hat, es wird eben doch lieber gewusst als geglaubt oder gar gezweifelt.]

Moderiert wurde das sonntagnachmittägliche Radio-Café vom wie eh und je umschwärmten Thomas Bille.
[Den Begriff „Kanzelschwalben“ nutzte ich leider bereits in meinem letzten Bericht über ein ähnliches Ereignis und muss hier bedauerlicherweise auf ihn verzichten.]

Bei schönstem Spätsommerwetter war der Saal des Kleines Hauses immerhin halbvoll oder erschreckend halbleer, ganz wie man will. Auch dies ein Beleg dafür, dass alles relativ ist im Leben, auch der Blick auf den Herbst 89, der doch sehr von der eigenen Position abhängt, damals wie heute.
Die Abwesenden haben eine Diskussion verpasst, die – ohne nun gänzlich neue Erkenntnisse zu erzeugen – sich auf durchgängig sehr hohem Niveau mit der Geschichte der friedlichen Revolution und mehr noch mit dem heutigen Umgang mit dieser befasste. Ganz ohne Anekdoten kommt eine solche Debatte natürlich nicht aus, aber jene waren klug gewählt, ob es nun um die ungewöhnlich freundlichen DDR-Grenzer in Schmilka bei der Rückkehr aus dem Ungarn-Urlaub im September 89, um die Gelenkigkeit in der Halsgegend des Stabü-Lehrers [„Staatsbürgerkunde“, liebe oben erwähnte Randgruppe, eine Mischung aus Koranschule, Priesterseminar und Blinde-Kuh-Spiel, nur mit sozialistischem Inhalt] oder ganz im Gegenteil um die geistige Ungelenkigkeit einer überforderten Hannoveraner Lehrerin, die zu dieser Zeit auf ein eben ausgereistes Ost-Kind [nicht mit „ausgerissen“ zu verwechseln, das hatte alles seine Ordnung] mit erfahrungsbedingt hoher Politisierung traf, ging.
Jene Heide Schwochow, von der diese Geschichte stammte, begründete zuvor auch sehr einleuchtend, warum man als Familie – trotz der Möglichkeiten über Ungarn – lieber den eigenen Ausreiseantrag genehmigt bekommen wollte.
[„Besser durch den Vorderausgang schreiten als aus dem Klofenster klettern“ hat sie zwar nicht gesagt, aber so in etwa hab ich sie verstanden.]

Dass jene Bewilligung nun ausgerechnet am Vormittag des 9. November eintraf, führte an diesem Tage dann sicher gleich zweimal zu größeren Gefühlsausbrüchen, auch dies eine schöne Anekdote, welche noch besser wird, wenn man erfährt, dass Familie Schwochow (Mutter und Vater Rainer als Drehbuchautoren und Sohn Christian als Regisseur, ja, der vom „Turm“) kürzlich sozusagen als Ringschluss ein Fernsehspiel namens „Bornholmer Straße“ fertigte, das jene abendlichen Ereignisse am 9.11. vor 25 Jahren schildert und am 5. November in der ARD zu sehen sein wird, welche nun auch schon seit fast so lange nicht mehr mit „Außer Raum Dresden“ ausgesprochen werden kann.
Angesichts der im Rückblick absurden Situation am Grenzkontrollpunkt, wo die Entscheidung eines Einzigen, Oberstleutnant der Grenztruppen der DDR, angesichts einer diffusen Nachrichtenlage und mangelnder Order von oben den Schlagbaum anstelle der MPi zu heben, über den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmte, wird man dies als Komödie auf den Bildschirm bringen.

Es gab im Verlaufe des Gesprächs einige Merksätze zu notieren, wen wundert’s bei drei Größen der schreibenden Zunft. Ingo Schulze formulierte schön die untrennbare Bindung des eigenen Glücks an das Glück von allen in den besagten Monaten bis zum 18. März 1990, auch dies so ein Datum. Evelyn Finger nannte in der Rückschau die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der DDR an sich selbst und deren erlebte Wirklichkeit als das prägende Merkmal dieses Staates und Heide Schwochow verwies auf die Ambivalenz der (allermeisten) Menschen, für die ein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema nicht passen würde. Auch der Alltag in der DDR war nicht nur systemgeprägt, es wurde auch ohne Zutun der Partei geliebt und gelacht, geheult natürlich auch.

Thomas Bille fragte dann nach dem „Wenderoman“ und ob es so einen überhaupt gäbe bisher oder künftig geben könnte. Und obwohl da einige in Frage kämen, jeder ein bisschen, wurde dieser große Wurf so definiert, dass er aus dem Westen kommen müsse, ohne die dort sehr verbreitete „Westalgie“ natürlich, oder bereits in den Achtzigern im Osten geschrieben worden wäre, auch hier mit mehreren Kandidaten. An beidem ist sicher einiges dran, auch wenn der Begriff eher als Marketinginstrument auf die Buchmessen gehört. Wenn es jemandem gelänge, alle Aspekte dieses Weltenwandels in einem Roman abzubilden, hätten wir sicher einen zweiten Faust, aber ob der mit zwei Teilen auskäme, wage ich zu bezweifeln.

Interessant auch die einhellige Feststellung, dass sich die Debatte um die Umstände und Folgen des neunundachtziger Herbstes außerhalb der offiziellen Anlässe fast ausschließlich zwischen Ostdeutschen abspielen würde, erst in letzter Zeit sei z.B. in der gleichnamigen Wochenschrift eine Tendenz zu beobachten, dass man sich auch ohne biographischen Hintergrund mit diesem Jahrhundertereignis beschäftige. Erklärbar ist das sicher, schließlich unterschieden sich die Veränderungen in Ebersbach (Fils) zu Beginn der neunziger Jahre doch erheblich von jenen in Ebersbach (Sachs), und seitdem ist in beiden Partnerstädten nicht so sehr viel in dieser Beziehung passiert.
[Gut, das sächsische Ebersbach, das eigentlich in der Oberlausitz liegt, um das mal klarzustellen, hat sich inzwischen mit dem Nachbarflecken Neugersdorf per Bindestrich vereinigt, halb gezogen, halb gesunken, und strebt nun vielleicht den Titel „Ort mit dem längsten Namen“ an, der sicher die Reisebusse anlockt, aber sonst war wirklich nicht viel.]

Auch nicht neu (aber was überrascht nach 25 Jahren noch?), doch immer wieder neu beklagenswert ist der Fakt, dass mit dem Zusammenbruch des „linken Erlösungsversprechens“ namens real existierender Sozialismus der Gesellschaftsordnung hinter der Mauer ein potentielles Gegenmodell abhanden kam, das allein durch seine schlichte Existenz schon eine gewisse Wirkung hatte.
Wer will denn heute noch ernsthaft für ein anderes politisches System werben, jenseits von Marktkonformitäten, wenn einem postwendend das relativ frisch vergurkte Experiment im östlichen Europa um die Ohren gehauen werden kann? Ingo Schulze vor allem sind diese Betrachtungen zu danken, auch der Schwenk zum Einkaufsverhalten, mit dem man sich heute zumindest moralisch schuldig machen könne oder aber eben auch nicht.

Für das Thema Gerechtigkeitsdefizit, das immer noch zwischen den damaligen Widerständlern und den Mitläufern herrsche, weil jene meist bessere Startbedingungen in das neue System hatten, durch das Rückwirkungsverbot viele in Staatsnamen begangene Vergehen ungesühnt blieben und sich z.B. für die Opferrente außer den Betroffenen sich kaum jemand interessiere, blieb am Ende der anderthalb Stunden genauso wenig Zeit wie für eine Diskussion des beliebten Begriffs „Unrechtsstaat“. Allein diese hätte mit all ihren Facetten sicher noch einmal neunzig Minuten gebraucht, und ob es ein klares Ergebnis gegeben hätte, sei dahingestellt, eher wohl ein Unentschieden.

Mit diesem Radio-Café hat Figaro nicht nur einen anspruchsvoll-unterhaltsamen Nachmittag gestaltet, sondern auch den Auftakt zu „Eine Woche im Oktober – 25 Jahre friedliche Revolution“ des Staatsschauspiels Dresden gegeben. Ab dem 3.10. wird eine Themenwoche mit Theater, Performances, Lesungen, Konzerten und Diskussionen sowie gar einem eigenen abendlichen Radiokanal mit dem Jubiläum auseinandersetzen, hier gibt es Näheres dazu:
http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/spielplan/rahmenprogramm_eine_woche_im_oktober/beschreibung/

Es wird zu berichten sein.
Aber den Schlusspunkt dieses Textes darf Ingo Schulze setzen, der wie er erzählte seine Profession anlässlich einer chinesisch-amtlichen Nachfrage bei der dortigen Einreise so beschrieb: Er „schreibe – wie alle Schriftsteller – über Liebe und Tod vor wechselnden Hintergründen, und in seinem Falle nicht in Versform.“ Damit wäre zumindest das geklärt.

Thälmannstraße 89/4: Der Stoff, aus dem die Seife ist

Montag, 22.09., Helden zeugen

Das Ganze muss heroischer werden, findet Redakteur Helmstedt, ein sich sträubender Autor lässt seinen Jens schließlich in der FDJ-Versammlung Partei für die von Studienplatzverlust bedrohte Johanna ergreifen, was ihn um den Fackelzug in Berlin bringt. Direktor Rothe ist not amused über das Ausscheren seines bisherigen „Hundertzwanzigprozentigen“, das wird sicher auch dem Herrn Vater nicht lang verborgen bleiben.

Die Rahmenhandlung bietet aber weiterhin mehr, diesmal einen Anruf der Programmchefin und eine neue Direktive: „mehr Doku-Drama, keine Schmonzette“. Da auch schon eine Alternative bereitsteht, fünfzehn Interviews mit den üblichen Verdächtigen, lässt sich Helmstedt zu einem beachtlichen Klageruf mit Aufzählung der vermuteten Protagonisten hinreißen. (Wenn das mal nicht Arnold Vaatz erzürnt, liebes Figaro, zum einen allgemein ob der insubordinanten Klage, zum anderen, weil sein Name in den Top 15 der Wende nicht vorkommt.)

Im Figaro-eigenen Netz entspinnt sich inzwischen anhand der letzten Wochenzusammenfassung der Teichelmauke eine Debatte über den Realismus der Serie und die dafür gewählte Form. Eine Diskussion, die den zu unterstreichenden Satz „Nun sind wir bei FIGARO – Gott sei Dank – nicht die Siegelbewahrer der historischen Wahrheit“ enthält, sicher noch ausbaufähig und hier nachzulesen ist:
http://meinfigaro.de/inhalte/b549525a2ef2fe09

Was allerdings verblüfft beim Sichten der Figaro-Seite, ist die Möglichkeit, die kommenden beiden Beiträge schon vorzuhören.
Gut, das mindert mir einige Terminzwänge, entspricht aber so gar nicht den klassischen Gepflogenheiten. Aber der Inhalt der Folgen ist ja jetzt schon bis zum Ende nachlesbar (mit sehr schönen Bildern der Aufzeichnung übrigens), auch eine Art von „Glasnost“.

Mittwoch, 24.09., Bisschen Heftig

Diesmal wird starker Tobak geboten: Im Wendeherbst erlebt Markus auf eine Schwangere einprügelnde Polizisten und ist davon so schockiert, dass er sich auch von Johanna nicht von seinem Vorhaben abbringen lässt, umgehend das Land zu verlassen. In ihrer Verzweiflung ruft jene die unlängst erhaltene Nummer an …

Auch drumherum ist es nicht spaßig. Redakteur Helmstedt will ob der erlittenen Einnordung durch die Sendeleitung seine Sachen packen, er hätte doch andere Ideale von Pressefreiheit gehabt, als er 90 hier rüber kam. Erstaunlich, dass ihm das in 25 Jahren erstmals passiert sein soll. Autor Bentwisch spendet erfolgreich Trost und Helmstedt waltet wieder seines Amtes, sprich er verlangt eine Entschärfung der Prügelszene, das sei ja wohl nichts für das Frühprogramm.

Hm. Diesmal hat man Mühe, den Handlungen zu folgen, es geht doch etwas fix, das Formatproblem zeigt sich wieder.

Freitag, 26.09., Große Gefühle

Johanna wird vom Autor rehabilitiert, nein, sie hat nicht verpfiffen, sondern im letzten Moment aufgelegt. Des Redakteurs Weltbild ist vorerst gerettet. Überhaupt ist der erstaunlich emotional bei der Sache, ist doch gar nicht seine?

Derweil sitzt Johanna im Wendeherbst bei Markus Mutter in der Küche, der Verlust verbindet. Prompt klingelt das Telefon, der Getürmte meldet sich aus der Prager Botschaft, was Mutter und Freundin durchaus unterschiedlich aufnehmen. Letztere gibt ihm fernmündlich den Laufpass, eilt hernach reichlich erschüttert in den Hausflur und fällt dem verdutzten Jens in die Arme. Der darf den Tröster geben, es schmatzt vernehmlich, doch vor dem zwischenzeitlichen Happy-End wird diskret abjeblendt.

Redakteur und Autor sind gerührt von der Geschichte, es ist eine tränenreiche Folge. Und der folgende Musiktitel ist wieder fein ausgewählt, „bridge over troubled water“, natürlich gesungen von Johnny Cash und Fiona Apple, jetzt bin auch ich angefasst.

Reif für die Inseln

„Schöne neue Welt“ nach dem Roman von Aldous Huxley (Theaterfassung von Robert Koall) am Staatsschauspiel Dresden, Regie Roger Vontobel, Uraufführung am 12. September 2014


Was war dies nun?

Die Uraufführung eines Stücks Weltliteratur am Theater – schon das ist Grund zur Freude.
Die stimmige Übertragung dieses Textes auf die Bühne – man kann dabei gern von großer Werktreue sprechen.
Ein sinnliches Ereignis? Teils. Die Musik trug sehr zur Atmosphäre bei, das Bühnenbild bot manchmal Überraschendes, die Kostüme hatten ihre eigene Sprache, aber es fehlte die große Linie dahinter.
Die Interpretation eines immerhin achtzig Jahre alten Stoffes unter Verarbeitung der Weltgeschichte seitdem? Nein. Das bleibt folgenden Produktionen vorbehalten.

http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/urauffuehrung_schoeneneuewelt_staatsschauspieldresden.php

Thälmannstraße 89 – Balatonitis

Eine Radio-Soap (oder auch acoustic novel) in fünfzehn Teilen, fünf Wochen lang ab dem 8. September jeweils Mo / Mi / Fr, 8.40 Uhr und 17.40 Uhr, auch zum Nachhören auf
http://www.mdr.de/mdr-figaro/hoerspiel/thaelmannstrasse89/verteilseite3320.html

Ein vielversprechender Auftakt: Die Rahmenhandlung mit dem verantwortlichen und westgeborenen Redakteur Dr. Helmstedt (sic!) des „öffentlich-rechtlichen Qualitätsradios“ und dem für ein Wende-Hörspiel vorgesehenen Autor Jens Bentwisch (zur Wende gerade 18 und mittendrin in Leipzig) führt elegant ins Thema ein. Es soll eine authentische Geschichte von ´89 erzählt werden, dem skeptischen Autor wird beschieden: „Sehen Sie es als Chance!“

Dessen Erinnerungen versetzen ihn in ein Klassenzimmer der EOS „Nikolai Ostrowski“. Die neue Zwölfte beginnt das Schuljahr leicht dezimiert, vier Schüler und der Klassenlehrer fehlen, „Balatonitis“ vermutet man tuschelnd in der Klasse, als der Direktor Rothe auf eine krankheitsbedingte Abwesenheit verweist.
Damit wird allerdings auch ein Platz neben Johanna frei, den Jens – nach korrektem Lenin-Zitat – zart errötend einnehmen darf. So hat halt alles sein Gutes, die Angebetete rückt ihm zumindest physisch näher.

Ansonsten haben sie nicht viel gemeinsam, die Junge Gemeinde – Schwester und das Bonzensöhnchen, dessen Vater – wie später zu erfahren sein wird – als Oberstleutnant der Staatssicherheit einen sehr eigenen Blick auf die Geschehnisse hat. Doch wir sind ja noch ganz am Anfang der Geschichte.

Die Klasse diskutiert derweil – es ist nun mal grad dran im Lehrplan – Lenins Definition einer vorrevolutionären Situation (die einen können nicht mehr wie bisher und die anderen wollen nicht, man erinnert sich?), historisch natürlich, aktuelle Bezüge werden vom Lehrer wegdefiniert, es gibt schließlich keine Unterdrückung in der Deutschen Demokratischen.

Das Ganze weckt Interesse.
Figaro hat in diesem Segment schon einiges Hörenswerte produziert, und sich auf diese Weise mit dem allgegenwärtigen Thema „25 Jahre Wende“ zu beschäftigen, ist keine schlechte Idee.
Dass man auf der sendereigenen Web-Seite dann aber schon die Story im Groben nachlesen kann, dient zwar der Befriedigung der eigenen Neugier, nimmt dann aber doch einiges an Spannung. Dennoch, ich werde dranbleiben, auch weil ich „damals“ nur unwesentlich älter als die Protagonisten war. Da kann ich mitreden.

Fast das halbe Sachsen

Immerhin: Fast jeder zweite Mensch in Sachsen, der dazu berechtigt war, unterzog sich der Mühe, an einem August-Sonntag, dem letzten der Sommerferien, sich in eines der etwa 4.000 Wahllokale zu begeben und an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Beziehungsweise tat er das schon früher per Briefwahl, eine Form, die immer beliebter zu werden scheint (in Dresden tat dies ein knappes Sechstel aller Wahlberechtigten).
Wenn man noch die ungültigen (Listen-) Stimmen herausrechnet, wurde der neue sächsische Landtag von gerade mal 48 Prozent der Bevölkerung gewählt.

Am Ende entschieden dabei wenige hundert Stimmen über das Unterschreiten der Fünf-Prozent-Hürde durch die NPD und auch über deren (finanzielles) Schicksal. Den Ärger über die zeitweilige Rettung der Strukturen der Neo-Nazis hat sich der Freistaat knapp erspart, und auch deren Kosten.

Die CDU möge das nicht feiern: Ihr ist es zu verdanken, dass der Wahltermin an das Ende der Ferien fiel. Still und geräuschlos sollten Wahl und Wahlkampf ablaufen, dafür nahm man auch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung in Kauf, die tendenziell eher den kleinen Parteien nutzt.
Während ihr Lieblingskoalitionspartner jedoch auch diese Hilfestellung nicht nutzen konnte und die AfD sich letztlich in ganz anderen Regionen bewegte, hätten die Christdemokraten sich nun fast den Titel „Steigbügelhalter der NPD“ verdient, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen.

Die FDP, deren Vorsitzender Zastrow sich am Wahlabend ratlos zeigte, was man noch mehr hätte unternehmen können, scheiterte letztlich deutlich, auch wenn man sich noch so deutlich vom Bund und „von Berlin“ abgrenzte, die Marketing-Maschine in den letzten Wochen auf Hochtouren lief und das FDP-geführte Wirtschafts- und Verkehrsministerium zuletzt die Förderbescheide öffentlichkeitswirksam im gefühlten Stundentakt ausreichte und noch jeden neu gebauten Papierkorb feierlich einweihte. Da wurde ein totes Pferd geritten, um in der Sprache der Werber zu bleiben.
Man darf gespannt sein, ob in den nächsten fünf Jahren ein Wiederaufbau gelingt und vor allem in welche Richtung er geht. Auch die kommunalpolitische Basis ist deutlich schmaler geworden, und die AfD steht sicher bereit, die Insolvenzmasse zu übernehmen.

Erfahrung mit Insolvenzen hat sie in Sachsen ja, auch wenn diese Anmerkung nicht ganz fair ist. Wer zehn Prozent holt, der muss schon ernst genommen werden, selbst wenn er inhaltlich kaum greifbar ist und eher vom diffusen Unbehagen des Wahlvolks lebt. Der zweite Einzug in ein Parlament nach dem der EU ist sehr ärgerlich, war aber zu befürchten, und er wird sicher auch nicht der letzte bleiben. Dennoch, in welche Dschungel man als Rechtspopulist geraten kann, lässt sich aktuell an Ronald Schill betrachten, die AfD wäre nicht die erste Shooting-Star-Partei, die sich im politischen Alltag schnell entzaubert.
Die Tatsache, dass die Sitze rechts der CDU seit heute verdoppelt haben, ist jedoch eindeutig die schlechteste Nachricht des Abends.

Überhaupt, die CDU: Die hat vor allem die Weisheit berücksichtigt, dass man, wenn man nichts mache, dann auch nichts Falsches täte, und ist mit dem Landesvati-Image von Herrn Tillich gut gefahren. Dennoch schmolzen auch deren Wählerstimmen, vor allem in absoluten Zahlen, langfristig weist der Trend stetig nach unten. Da wird man sich etwas einfallen lassen müssen in fünf Jahren, das über die Ball-Halten-Taktik hinausgeht.

Aber erstmal kann man sich den neuen Koalitionspartner aussuchen. Es dürfte in der CDU einige geben, die nicht die Natter Dulig am Regierungsbusen nähren wollen, der seiner SPD einen Zuwachs von über zwei Prozent bescherte, was in Sachsen immerhin ein Viertel des bisherigen Ergebnisses bedeutet. Man kommt dort aus einem tiefen Keller, aber es ist zu erwarten, dass ein Minister Dulig in fünf Jahren nochmal deutlich zulegen könnte.
Die Grünen hingegen sind in dieser Beziehung weniger gefährlich, aber inhaltlich deutlich sperriger. Nach einem Wahlergebnis, das man auch beim besten Willen nicht als Erfolg bezeichnen kann, vom Wiedereinzug ins Parlament vielleicht abgesehen, der auch nicht ganz sicher war, werden sie vsich wohl kaum der Zerreißprobe aussetzen wollen, die eine Koalition mit der in Sachsen besonders konservativen CDU bedeuten würde.
Aber nun wird erstmal verhandelt.

„Außen vor“, wie der Wessi sagt, bleibt dabei die Linke. Trotz eines stabilen Ergebnisses von knapp 20 Prozent fehlt ihr anders als in Thüringen dank der Schwäche der potentiellen Partner eine Machtoption. So stellte man sich schon kurz nach der Wahl weiter als DIE Opposition in Sachsen dar und richtet sich auch für die nächsten fünf Jahre in dieser Rolle ein, die zumindest keine unpopulären Entscheidungen erfordert.
Die Piraten bewegen sich inzwischen auf dem Niveau der Tierschutzpartei, ihre großen Zeiten sind wohl endgültig vorbei. Freie Wähler können in Sachsen weiterhin nicht landen, und auch alle anderen Parteien spielen keine Rolle.

Wenn man – natürlich rein theoretisch – die AfD als eine Kreuzung aus FDP und NPD begreift, hat sich in Sachsen so gut wie nichts geändert an diesem Abend. Nur der Juniorpartner der CDU wird ein neuer werden.

„Und wer entschuldigt sich dafür?“

„Ein Exempel, Mutmaßungen über die sächsische Demokratie“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, Regie: Jan Gehler, gesehen am 27. Juni 2014 im Staatsschauspiel Dresden

Die Frage nach der Verantwortlichkeit, die der Hauptakteur A. am Ende, nachdem er seinen Prozess dann doch irgendwie erfolgreich überstanden hat, den Mitspielern stellt, vermag niemand zu beantworten. Freundin und Kind weg, Job verloren, seelisch zerrüttet, aber …. So richtig daran schuld ist keiner. Alle haben nur ihre Pflicht getan, im Durchschnitt, die einen mehr, die anderen weniger.

Lutz Hübner und Sarah Nemitz rekonstruieren anhand eines fiktiven Falls die Geschehnisse des Februar 2011 in Dresden, als anlässlich des alljährlichen Naziaufmarsches die Gewalt auf allen Seiten eskalierte, und deren rechtliche Aufarbeitung.

Hübner und Nemitz gebührt in vielerlei Hinsicht Dank. Nicht nur, dass sie ein sehr aktuelles politisches Thema aufgreifen, es gelingt ihnen auch, die Komplexität des Stoffes zu reduzieren und dennoch nicht zu sehr zu vereinfachen, von wenigen verzichtbaren Klamauk-Elementen abgesehen. Man sieht keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern eine sehr genaue Beschreibung einer Situation, in die (fast) jeder geraten kann. Das Stück liefert keine vorgefertigten Antworten, aber es stellt die richtigen Fragen.

Der komplette Text auf Kultura-Extra:
http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/urauffuehrung_einexempel_staatsschauspieldresden.php

Da hat er alle Zeit der Welt

Jetzt hat es also begonnen, ES, worauf die Welt seit vier Jahren gewartet hat, wenn man dem medialen Getöse der letzten Wochen glauben darf: Die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014TM. Das „TM“ steht dabei weder für Transfermarkt noch für Transzendentale Meditation, sondern für eine unregistrierte Handelsmarke, der Vorstufe zu einem eingetragenen Warenzeichen. Diese hat zwar (zumindest in Deutschland) noch keine rechtlichen Konsequenzen – das heißt, ich könnte meinen Blog jetzt auch so nennen, ohne mit Herrn Blatter in Konflikt zu geraten – weist aber darauf hin, dass es dabei doch um etwas mehr geht als nur um Fußball.

Nein, das hier wird keine Abhandlung zu den sozialen und wirtschaftlichen Kollateralschäden dieser WM in Brasilien, keine Kampfschrift wider eines der letzten totalitären Systeme dieser Welt namens FIFA, auch keine Enthüllung zu den dubiosen Umständen der Vergabe der Austragung an Katar nebst den unmenschlichen Zuständen auf den Baustellen dort. Das alles ist schon gut recherchiert irgendwo nachzulesen, und doch wird es in den nächsten vier Wochen nur wenige interessieren. König Fußball ist an der Macht, und der teilt diese nicht mit anderen. Absolute Monarchie nennt man das wohl.

Wobei das so ja auch nicht stimmt. Einige Damen und Herren im politischen Betrieb behalten sicher kühlen Kopf und die Fäden in der Hand. Und so darf man gespannt sein, welche heiklen Vorlagen auf den Tagesordnungen diverser Parlamente in den nächsten Wochen erscheinen und welche Verordnungen im großen Schatten des Fußballs in Kraft gesetzt werden.
Immerhin, bei einem hat sich das Volk, der wahre Herrscher, schon im Vorfeld durchgesetzt: Public Viewing zählt jetzt als Sportveranstaltung, was dessen Durchführung auch nach Mitternacht erlaubt, unter deutlich gelockerten Bedingungen für den nächtlichen Lärmschutz. Man muss das nicht verdammen und sich als Spaßbremse betätigen; wenn das öffentliche Interesse daran derart groß ist, wie es scheint, ist eine Regierung klug beraten, hier eine (befristete) Sonderregelung zu schaffen. Jeder Widerstand wäre ohnehin von einer medialen Sturmfront unter Führung der BILD hinweggeblasen worden.

Überhaupt scheint die BILD einer der ersten Gewinner dieser Weltmeisterschaft zu sein. Ihre Sonderausgabe zur WM, die in einer Auflage von 42 Millionen kostenlos und unaufgefordert unter das Volk gebracht wurde, steckte auch in meinem Briefkasten. Das wird sich unter dem Strich sicher gelohnt haben, auch wenn ich leider nicht erzählen kann, was drinstand. Mein Bio-Eimer bedurfte dringend der Leerung, und das ganze große Blatt ging leider für die Entsorgung des Inhalts, der gründlichen Reinigung des Gefäßes und einer vorsorglichen Auspolsterung desselben drauf. Da ich wunschgemäß sonst nie Werbung bekomme, war ich für diese Steilvorlage zur Erhöhung der häuslichen Ordnung und Sauberkeit durchaus dankbar.

Doch es gibt noch weitere potentielle Gewinner, die gar nicht mitspielen. Mein Konsum („Konnsumm“ gesprochen, liebe West-Leser, nicht „Konsuhm“) surft auch auf dieser Welle und will mir Fähnchen und einen Autospiegel-Überzieher in den Nationalfarben verkaufen, auch Gummi-Bälle sind zu haben. Am Tschibo-Regal gibt es zudem Shorts und (ungelogen!) „Zehen-Teiler“ (vulgo als Flip-Flops bekannt) in dieser leider nicht sehr kleidsamen Farbkombination.
Nun unterläuft zwar auch mir gelegentlich ein Spontankauf, doch in diesem Falle wog ich den Nutzen der Erwerbung vorher ab: Es würde die deutsche Sache wohl kaum voranbringen, wenn ich mir fortan ein Fähnlein irgendwohin binden würde, und um die Nationalflagge unter den Füßen zu haben und mit jedem Schritt buchstäblich draufzutreten, hab ich zu viel Respekt vor staatlichen Symbolen.

Ohnehin glaube ich – und da müssen wir alle jetzt sehr tapfer sein – dass das ganze Fahnenschwenken und die tollen Sprechchöre vor der deutschen Großleinwand im fernen Brasilien gar nicht zu sehen resp. zu hören sind. Schweini und wie die alle heißen werden das gar nicht mitbekommen, wenn sich das deutsche Fanvolk am Brandenburger Tor, auf den Elbwiesen und anderswo zur La Ola erhebt. Doch sie werden sicher professionell genug sein, auch ohne diese Anfeuerung engagiert ihrem Beruf nachzugehen.
Aber immerhin das Fernsehen wird dankbar sein für diese Bilder, aus der Heimat für die Heimat, und da es ja meist an Anhängern der gegnerischen Mannschaft mangeln wird, spielt sich die Euphorie in größter Eintracht ab, fast wie bei einem Gottesdienst.

Was aber tun, wenn man nicht diesem Glauben angehört?
Eine seit Jahrzehnten bei Fußballreportern beliebte Wendung, wenn einer mutterseelenallein vor dem Tore steht, ist: „Da hat er alle Zeit der Welt!“ Oftmals folgt dieser Beschreibung dann ein Ausruf der Enttäuschung, wenn jener Eine dann die Zeit nicht sorgsam nutzte, sondern den Ball spontan irgendwo hingeballert hat und eben nicht „reinmachte“ (auch das eine beliebte Wendung). Das soll mir nicht passieren.

Mein Turnierplan ist nämlich fast fertig:
In der Gruppenphase werde ich zunächst mal analog und digital aufräumen. Ich denke, dass ich mich damit für die nächste Runde qualifizieren kann, und sei es mit drei Unentschieden.
Dann denke ich nur noch von Spiel zu Spiel, egal, ob die Gegner aus dem Bereich Theater, Literatur, Kino oder gar dem selbstbetriebenen Sport kommen. Ein ganz harter Brocken wird im Halbfinale auf mich warten, mit einem Arbeitspaket, das ich extra für diese Tage aufgehoben habe.
Und dank meiner gefürchteten Turnierqualitäten werde ich es dann auch in das Finale schaffen, an dem ich – mir zur Belohnung – in der VIP-Lounge der Schankwirtschaft meines Vertrauens teilnehmen werde. So marschier ich durch bis zum Titel.

Ich muss zum Ende kommen, mehr als neunzig Minuten hab ich mir nicht gegeben für dieses Eröffnungsspiel, und die sind eben rum. Brasilien habe gewonnen, höre ich, neben der FIFA, der BILD, dem Einzelhandel und der Gastronomie. Und neben mir.

Etwas hat sich in Gang gesetzt

„…, und nichts kann es mehr aufhalten“, um einen Slogan des Deutschen Theaters Berlin, das mit seinem Jungen Theater hier ebenfalls vertreten sein wird, zu zitieren. Das erste deutsch-europäische Bürgerbühnenfestival hat am 17. Mai 2014 in Dresden begonnen, und zumindest in den nächsten sieben Tagen wird es den Rhythmus dieser Stadt maßgeblich bestimmen.

Sonnabendnachmittag, kurz vor 17 Uhr, es wuselt und quirlt derart vor und im Foyer des Kleinen Hauses, dass man eine erste Ahnung davon bekommt, welch logistischer Aufwand hinter diesem Festival steckt. …

Es dauert, ehe das Völkchen sich im Saal eingefunden hat, doch viertel sechs (für die Gäste: Viertel nach Fünf) geht es dann endlich los: Ein Chor aus siebzig Akteurinnen und Akteuren der Dresdner Bürgerbühne, in seiner Besetzung repräsentativ für die volle Breite der Spielenden, eröffnet mit einem Lied über dieselbe das Festival, gewohnt begeisterungsfähig und selbstironisch. „Party und Partizipation“ heißt das Motto, und man wagt auch den Blick in die Zukunft, wenn die Bürgerbühne erst zehn Jahre alt sein wird, steht bestimmt auch die erste Welttournee an. …

(Die gesehenen Stücke: „Die Klasse“ vom jungen theater basel und „Die letzten Zeugen“ vom Burgtheater Wien)

Der ganze Text:
http://www.livekritik.de/kultura-extra/theater/spezial/buergerbuehnenfestival2014_dererstetag.php