Kategorie: Betrachtungen
Ehebruch und Kuckuckskind
Der wahre Kern der Weihnachtsgeschichte
Nicht nur zufällig, sondern auch ganz ohne Absicht wurde ich neulich mal wieder mit der Geschichte von Josef und Maria und „ihrem“ Kind konfrontiert. Nicht schlecht ausgedacht, der Autor hatte zweifellos Talent. In unserem Zeitalter, das später sicher mal nach Markus Söder benannt werden wird, sind jedoch einige Richtigstellungen unerlässlich.
Mit dem heute erreichten Stand der Wissenschaften kann man nämlich mit großer Sicherheit ausschließen, dass die Empfängnis der Maria gänzlich vegan, also fleischlos zustande kam. Auch war die Gentechnik damals weder erfunden noch erlaubt, intravenös scheidet damit auch aus.
Herr Gott (oder auch das Gott, wenn es beliebt) musste also die Sache selbst in die, nun ja, Hand nehmen und auf den Spuren des großen Kollegen Zeus wandeln.
In welcher Form er sich wohl der tugendhaften Gemahlin von Josef genähert hat? Vielleicht als Weihrauch? Und gab es damals schon „Kirche von hinten“? Egal.
Ich gönne jedem sein Späßle, aber es sei doch darauf hingewiesen, dass für diese Verfehlung heute ein einfacher Pfarrer seine Planstelle verliert. Ab einem gewissen Dienstrang wird der Ehebruch allerdings rückwirkend in eine Segnung umgewandelt.
Überhaupt, die Ehe. Wer denkt denn heute noch an den armen Josef? Welche Seelenqualen musste der erleiden mit seinen Hörnern? Was wohl die Kumpels in der Kneipe gesagt haben? Dass das Balg nicht seins war, musste ja irgendwann zu sehen sein.
Josef ist für mich der eigentliche Held der Geschichte und auch der Ahnherr aller Männergruppen.
Auch wegen der Erziehung des Kuckuckskinds. Was kann schlimmer sein, als wenn das pubertierende Wesen bei der traditionellen Tracht Prügel „du bist gar nicht mein Papa“ brüllt? Unschön für alle Beteiligten.
Wie oft derdiedas Gott wohl seinen Sohn gesehen hat? Die Rechtslage war ja damals eher unübersichtlich. Ging ersiees mit ihm in den Zoo? Oder hat die Arche Noah für Klein-Jesus bauen lassen? Manche Sonntags-Väter übertreiben ja gerne ein bisschen.
Und wie war das mit dem Unterhalt? Ganz unvermögend dürfte Gott ja nicht gewesen sein, ich hoffe, er ist seinen Pflichten auch nachgekommen.
Hatte Jesus eigentlich Geschwister? Wohl nicht. Gott hatte sicher anderes im Sinn inzwischen, und Josef war bestimmt der Appetit vergangen. Vielleicht hat er sich auch ganz seinen Kumpels zugewandt, hier schweigt die Bibel sich wie üblich aus.
Also ziemlich zerrüttete Verhältnisse, in denen der kleine Jesus da aufwuchs. Dass er später auf die schiefe Bahn geriet, eine Sekte gründete und die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdete, muss uns nun nicht mehr wundern.
Kunst am öffentlichen Verkehr – legitimes Recht oder illegale Inbesitznahme?
Einige subjektive Betrachtungen, inspiriert von einem mailwechsel
Alles begann mit einem Hinweis auf der Plattform cynal.de:
Conceptual Vandalism
03.12.2012 14:57
“ Eine ganz kriminelle Ausstellung“
Mitte der 1980er schwappte das US-amerikanische Phänomen U-Bahn Wagen zu besprühen nach Europa über. Da es in wenigen Städten großflächige Metrosystem gab, konzentrierte man sich auf andere Nahverkehrsmittel . S-Bahnen und Regionalzüge schienen das perfekte Pendant zu sein, um die amerikanischen Vorbilder zu imitieren. Die Writing Ideologie “Schreibe deinen Namen so oft wie nur möglich auf Züge” wurde dabei übernommen.
Seit 2000 sind neue Tendenzen zu entdecken. Das simple Namedropping wurde einer Gruppe Sprüher zu langweilig. Sie entwickelten neue Strategien auf Zügen zu malen. Bis 2009 war es eine kleine Gruppe an Zugkünstlern, die sich vom klassischen Writing auf Zügen getrennt haben. Seitdem scheinen, durch den Einfluss des Internets, immer mehr Writer das “Züge Verkunsten” als ernsthafte Strategie zu begreifen.
Conceptual Vandalism fasst eine Gruppe Zugmaler zusammen die bereits vor 2009 im non-writing Kontext konzeptuell auf Zügen arbeiteten.
Werke der Ausstellung
Die Originalkunstwerke werden in Deutschland immer binnen kürzester Zeit zerstört. Die Fotografie ist das am weitesten verbreitete Medium zur Dokumentation der Werke.
Deshalb zeigt die Ausstellung vor allem dokumentarische Fotografie. Ergänzt wird der Inhalt durch Skizzen, Objekte, Videos und Internetinhalte.
Künstler
An der Ausstellung beteiligen sich Künstler, die nicht öffentlich in Erscheinung treten. Die Künstler agieren ausschließlich im Untergrund. Zugmalerei ist bis heute illegal und wird strafrechtlich verfolgt.
Kurator: Jens Besser
Der Verfasser fühlte sich berufen, seine Meinung als Kommentar dazuzugeben:
„Züge verkunsten“, so kann man das auch nennen.
Unabhängig vom künstlerischen Wert der Hervorbringungen und von der Diskussion, ob man ohne weiteres anderer Leute / Firmen Eigentum als Grundfläche für seine Arbeiten nehmen sollte: Ich schau gerne aus dem Fenster in der S-Bahn. In der Straßenbahn ist das ja inzwischen meist durch Werbung verklebt.
Was ich wirklich schick fände, wär mal eine farbenfrohe Aufhellung der inzwischen unzähligen Stadtgeländewagen, aber privates Eigentum scheint höher zu stehen als quasi-öffentliches. Schade.“
Der Kurator Jens Besser antwortete prompt und ausführlich. Es entspann sich eine Diskussion per mail, die kurzzeitig und teilweise auf dem blog teichelmauke.me dokumentiert wurde, dort aber wegen einiger Missverständnisse nicht mehr zu finden ist.
Davon angeregt, entstand aber der folgende Text, der nicht den Anspruch haben soll, ein „Urteil“ zu fällen, aber dank der vorausgegangenen Debatte etwas gelassener mit dem Thema umgeht.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass wir alle in (rechtlich) sehr geregelten Verhältnissen leben. Für jeden Lebensbereich gibt es unzählige Gesetze, Richtlinien und Vorschriften, und wenn doch mal eine Lücke auftaucht, hilft meist das Bürgerliche Gesetzbuch.
In diesem nimmt das Eigentum einen prominenten Platz ein. Auch durch die Verfassung ist es geschützt, obgleich dort auch die Wendung „Eigentum verpflichtet“ zu finden ist.
Wenn also jemand (A) hergeht, das Eigentum eines anderen (B) mit was auch immer zu versehen, ohne dass ihm dessen Einwilligung vorliegt, ist dies in unserer Gesellschaft Unrecht, und B kann erwarten, dass deren Vollzugsorgane gegen A aktiv werden, um B zu seinem Recht zu verhelfen. So weit, so theoretisch.
Schwieriger scheint die (mentale) Lage zu sein, wenn es sich bei B um ein Unternehmen im Besitz des Staates (also von uns allen) handelt und bei A um einen ambitionierten Künstler, der seinen Werken damit öffentliche Aufmerksamkeit bescheren will, auch, um Nachdenken zu provozieren und für Aufklärung zu sorgen (oder zumindest das, was er dafür hält). A beruft sich dabei auf die Kunstfreiheit und die positiven Reaktionen, die er gelegentlich erfährt.
„Juristisch“ ändert das natürlich nichts, aber darum soll es hier nicht gehen. Ich will ein wenig über die etwaige moralische Rechtfertigung oder mögliche Alternativen nachdenken.
Einen „Notstand“ zu definieren, bei welchem die Gesetze nicht mehr gelten, dürfte selbst dem glühendsten Verfechter dieser Kunstform schwer fallen. Unzweifelhaft ist Kunst dringend notwendig, aber aus der Verhinderung einer sehr kleinen Sparte davon erwächst noch kein Recht zum Regelbruch.
Auch die Krokodilstränen, die wegen der gewöhnlich schnellen Zerstörung dieser Schöpfungen vergossen werden, können mich nicht rühren. Jeder Sprüher weiß das vorher, und jedes infrage kommende Werk mit dem Titel „Kunst“ zu schmücken und ihm damit den Status einer heiligen Kuh zu verschaffen, scheitert an der fehlenden Ausstattung der Fahrzeugwerkstätten mit künstlerischem Fachpersonal.
Hier sei auch auf „Nipple Jesus“ verwiesen, ein Stück von Nick Hornby, das derzeit am Schauspielhaus läuft. Hier ist die Zerstörung (und deren Dokumentation) eines Bildes das eigentliche Kunstwerk, was sich aber sicher nicht 1:1 übertragen lässt.
Berechtigterweise kann man nun einwenden, dass „legal“ diese Kunst so gut wie unmöglich sei, da Unternehmen wie B im Allgemeinen nicht von Leuten geleitet werden, die für ihre Kunstsinnigkeit bekannt sind. Aber auch das reicht als Argument bei weitem nicht aus, die von B meist so genannte „Sachbeschädigung“ zu vollziehen.
Interessanter ist aber die Frage nach einem „öffentlichen Interesse“. Ist es für die Gesellschaft wichtig, solche Kunstformen zu fördern, auch wenn diese sich bisher meist illegaler Methoden bedienen? Hier fällt mir ein „Ja“ nicht schwer, auch wenn die Meinungen über den Grad des Interesses der Öffentlichkeit zwischen Jens Besser und mir deutlich auseinandergehen.
Nur, wie? Natürlich gibt es auch hier Behörden und Institutionen, die sich dafür zuständig fühlen müssten, wir haben ja sogar auch seit mehr als zehn Jahren einen Bundeskultur- äh, Beauftragten. Nur ist es sicher illusorisch zu glauben, dass beispielsweise das Dresdner Kulturamt die Sprayflaschen kaufen würde, mit denen dann nachts die S-Bahn verkunstet wird.
Die Lösung kann ja nur sein, dass diese Institutionen behilflich sind, diese Kunstform in die Legalität zu überführen, indem sie vermitteln, fördern und organisieren. Dass dies ein dickes Brett ist, was zu bohren wäre, weiß ich selbst.
(Ich habe allerdings den leisen Verdacht, ohne ihn mangels Szenekenntnis belegen zu können, dass für einige Akteure dann der Reiz des Nervenkitzels entfiele und sie ihre gewohnte Arbeitsweise fortsetzen würden. Aber das ist nur eine Behauptung.)
Dies hätte übrigens einen weiteren Vorteil: Die Arbeiten würden zuvor kuratiert werden. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, muss man sich ja doch oft viel Schrott ansehen, auch handwerklich betrachtet (ok, das ist subjektiv).
Das ist nämlich meiner Meinung nach neben der Unrechtmäßigkeit der zweite große Mangel an der aktuellen Situation: Jeder, der sich traut und eine Sprühflache halten kann, verschafft sich ein Podium, egal, ob er eine anspruchslose Sammlung von Tags produziert oder ein ambitioniertes Bild. Ich hatte mich im mailwechsel mit dem Kurator auch schon über die Arroganz jener ereifert, denen das Zuglayout zu langweilig sei und die es deshalb nach eigenem Duktus aufhübschen wollten.
Nicht, dass ich glaube, das oben Geschilderte wäre illusorisch. „Irgendwann“ kann ein solcher Zustand eintreten, Jens Besser erwähnte auch einige entsprechende Aktivitäten. Der Zeitraum bis dahin dürfte allerdings ein großer sein. Also was tun, bis es soweit ist?
Meiner Meinung nach gibt es keine dringende Notwendigkeit, auf Fahrzeuge zu sprühen (die Experten werden vielleicht widersprechen). Die Werke wirken ebenso auf bewegungslosen Flächen, auch wenn sie dort vielleicht nicht dieselbe Reichweite erzielen. Und es gibt überall genug Ruinen, denen eine Gestaltung gut täte (auch dies ist an sich nicht rechtmäßig, aber deutlich unproblematischer).
Nur wird diese meine Meinung die Protagonisten der Szene nicht sonderlich interessieren, es wird also weitergehen mit dem Sprayen, wobei zu hoffen ist, dass parallel eine „legale Szene“ heranwächst, die sich dann – auch dank der zu erwartenden qualitativen Überlegenheit – irgendwann durchsetzen wird.
Dass diese sich dann natürlich aus dem vormals illegalen Agieren herleitet und dort ihre Wurzeln hat, ist unbestritten. Und im Umkehrschluss würde sich daraus auch eine gewisse Legitimation der wilden Sprayerei ergeben, originellerweise aber eben erst in dem Moment, wo genug gesellschaftliche Akzeptanz vorhanden ist. Ich denke, dass es da viele Parallelen zu anderen Entwicklungen gibt, nur leider meist mit dem Unterschied, dass sich die Vorreiter nicht illegaler Methoden bedienten resp. bedienen mussten.
Abschließend: Beim Mailwechsel mit Jens Besser habe ich auf diesem Felde vieles dazugelernt, ich sehe jetzt einiges differenzierter. Zum Konsens sind wir aber nicht gelangt, wie auch.
Ein Zitat von ihm: „Sprüher sehen ihre Werke eben als Kunst und nicht als Vandalismus.“ Ja, gern, aber auch die Kunst heiligt nicht alle Mittel.
Ich wünsche mir sehr, dass es mehr Kunst im öffentlichen Raum gibt, auch auf Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs. Ich denke aber, dass das noch ein langer Weg ist, und ich glaube nicht, dass das eigenmächtige Besprühen von Zügen uns da wesentlich voranbringt. Es verhärtet eher die Fronten. Hier ist Vermittlung gefragt, und vielleicht auch mal eine Art Waffenstillstand.
„Schön Feierabnd!“
Generell bin ich neustadtinduzierten Festivitäten gegenüber aufgeschlossen, aber es klappte leider nie bisher. Aber heute.
Seit Oktober gibt es dienstags die Feierabend-Party im Bärenzwinger, die winterliche Ersatzdroge zur Saloppe. Hab nur Gutes gehört bisher.
Ach, der Bärenzwinger. Zwiefache Wehmut umfasst mich, als ich rechtzeitig vor Neun, also kostenlos, das ehrwürdige Gemäuer betrete. In der großen Tonne hab ich oft den Gundermann gehört, bevor die Evangelisten den Club rausgeworfen haben, wofür sie in der Hölle schmoren werden. An der Garderobe musste der Letzte den Mädels immer Sekt spendieren, das ist mir auch ein paar Mal gelungen.
Der zweite Grund der Wehmut ist übrigens rein privat.
Nette Mädels gibt es immer noch, hinterm Tresen. Und die Eibauer Brauerei hat den Laden fest im Griff, sogar Zwickel gibt es vom Fass. Gut so.
Noch ein Lob: Die Wiener werden mit warmem Toast serviert. Wer das für selbstverständlich hält, kauft selten welche.
Der Laden füllt sich nur langsam, es schneit ja auch seit Tagen. Die Musik ist angemessen, sogar alte Tocotronic-Kracher kommen zur Aufführung. Einziger Mangel aus meiner Sicht: Alles sehr herrenlastig bisher.
Auf dem unvermeidlichen Großbildschirm flimmern Fotos vergangener Partys. Scheint richtig was losgewesen zu sein. Ach, ich war ewig nicht hier. Warum eigentlich?
Den Vorteil der Ersparnis von 5 Eu Eintritt (Studis 3) bezahle ich mit etwas Langeweile. Bilder von fröhlich-trunkenen Menschen sind auch nur eine gewisse Zeit unterhaltsam, zumal ich kein Schwein kenne, weder auf den Fotos noch im Saal. Auch die Musik wird anstrengend, Karat wollte ich eigentlich nie wieder hören. Ich warte, das was passiert.
Ein schönes Paar betritt den Raum und unmittelbar danach die Tanzfläche. Respekt, bei mir haben die vielen Tanzstunden leider gar nicht angeschlagen.
Die Musik findet mit „Teil einer Jugendbewegung“ zu alter Stärke zurück, scheucht aber leider das Paar von der Fläche. Tja. Ist leider nicht wirklich tanzbar, aber schööön.
Der DJ korrigiert seinen Fehler schnell.
El Norberto, der Partymeister, ärgert sich ein bisschen über die Weicheier beiderlei Geschlechts, die der harmlose Schnee vom Kommen abhält. Beim letzten Mal wären 120 Menschen dagewesen, versichert er glaubhaft. Zum Trost gibt’s Johannisbeerschnaps aufs Haus, von dem ich unverzüglich betrunken werde.
Qualm on the dancefloor? Feurio?! Nein, nur Depeche Mode – Beweihräucherung. Alle, die sich berufen fühlen, stürmen das Parkett, allein an Menschen fehlts im Revier, um den Faust auch hier unterzubringen (nächste Vorstellung übrigens am 17.12.).
Unmerklich fast füllt sich der Laden doch ein wenig. Die, die da sind, haben Spaß, so soll es sein. Für die anderen kann ich das nicht beurteilen. Am Bildschirm jetzt Impressionen von Echtermeyers legendären Straßenbahnpartys, hübsch anzusehen.
Wir Werktätigen wissen, was um halb Elf ist: Da werden wir müde. Bleiben aber trotzdem noch.
Und es lohnt sich: Eine Dame ist ihrer Kluft nach offenbar grad vom Hengst oder auch Wallach gestiegen, Prinz Charles wäre begeistert ob des knappen Dress. Die einschlägigen Scherze müssen leider unterbleiben, dieser Blog ist und bleibt jugendfrei.
„Boots are made for walking“, naja, geben wir dem Laden noch eine Bierlänge.
Dieselbige später hat sich die Lage nicht geändert: gute Stimmung, meist gute Musik, gutes Ambiente, gute Bar. Fünfzig Leute mehr, und die Sache wär perfekt. (Da hätten übrigens nur die Hälfte derer kommen müssen, die sich per Facebook angemeldet hatten, aber so ist das nunmal.)
Der Volkskorrespondent tritt den halbwegs geordneten Rückzug an, mit dem festen Entschluss, bei fairen Randbedingungen wiederzukommen. Die Feierabend-Party hat es verdient. Nächste Gelegenheit schon am 18.12., und dann am 8. und 22. Jänner, falls die Welt zuvor nicht abgeschaltet wird.
Die Verpieschung
(erstmals veröffentlicht in der „BRN ToGo“ 2012)
„Angst ist Pieschen“, wie der Tagesbefehl Nr. 2 im letzten Jahr so trefflich feststellte. Ja, zweifelsohne. Pieschen ist aber noch viel mehr, z. B. Stadtflucht, Gottlosigkeit, Hafenfest und … Hundescheiße.
In den letzten Jahren trennte uns hier in der Neustadt gottlob nicht nur das Hechtviertel vom Quartier mit der gefühlt höchsten Hundehaufendichte der Welt. Undurchdringlich wie die Berliner Mauer schützte es uns vor Zuwanderung und Bettelei.
Doch es scheint eine sog. Wende eingetreten zu sein, die Indizien sprechen eine klare Sprache. Begonnen hat es mit der Ansiedlung obskurer Kneipen, die man inhaltlich eher in der Vorstadt Richtung Leipzig verortet hätte. Diese bevölkerten sich schnell mit jenen, die die Pieschener Hymne „Kommt die Neustadt nicht zu mir, dann geh ich halt zu ihr“ allzu wörtlich genommen hatten.
Das wäre alles noch verkraftbar gewesen, ist die hiesige Population doch vom allwochenendlichen Einfall der Speckgürtel-Landeier hinreichend abgehärtet. Doch viele blieben und brachten ihre seltsamen Sitten und Bräuche sowie ihre Köter mit.
Und wie nun inzwischen auch in Köln der Muezzin zum Gebet ruft, zieht jetzt ein (mehr oder weniger) zarter Duft von Hundescheiße durch die Neustadt.
Das sei zunächst nur einmal festgestellt. Es mag Menschen geben, die sich in diesen Umständen wohlfühlen, und wir wollen hier auch niemanden diskriminieren (wenngleich die sprachliche Parallelität von Exkremente und diskriminieren beachtlich ist). Doch was soll nun werden, wenn eines der letzten Alleinstellungsmerkmale der Neustadt verloren geht und nur noch die höchste Kinderwagendichte (sh. auch Tagesbefehl Nr. 2) sowie die Europarekorde in Dönerläden, Shisha-Lounges und Friseuren übrig bleiben? Das Viertel wird ein Stadtteil von vielen, rutscht gar in Richtung Pieschen ab.
Dann ist Schluss mit lustig. Dann wird Ordnung gemacht. Ein Auszug aus dem geheimen Maßnahmenkatalog der Stadtplanung beweist es:
- Die Alaunstraße wird endlich wegen ihrer Umleitungsfunktion für die Königsbrücker auf eine verkehrsgerechte Vierstreifigkeit gebracht. Durch den notwendigen Abriss der linken Häuserzeile verbleibt sogar noch Platz für einen Fußweg.
- Die Scheune wird geschlossen, entkernt und als Turnhalle wiedereröffnet. Der gewonnene Platz im Neubau wird zur Anlage zweier weiterer Parkdecks genutzt. Dieses Gebäude ist zwar nun nicht mehr direkt eine Turnhalle, aber trotzdem schön, wenn man der FDP glauben darf.
- Die BRN wird nach Cristiana verkauft (BRN To Go berichtete) und das Geld für Wichtigeres eingesetzt. Ersatzweise findet nun das „Große Ganz-Spät-Frühlingsfest der Neustadt“ statt, unter der Schirmherrschaft der Damen Helmina und Diletta. Versehentlich wird es im ersten Jahr auf dem Theaterplatz organisiert und verbleibt in der Folge aus traditionellen Gründen da.
- Die Prießnitz wird angestaut und im Mündungsbereich mit einer Schleuse versehen. Nun hat die Neustadt auch einen Hafen, der sich unter Inanspruchnahme kleinerer Flächen zwischen Sebnitzer und Bischofsweg erstreckt. Der Hafenkommandant zieht ins ehem. Krasnewski-Museum, d. h. in die obere Etage und bekommt ein Dienstmotorboot. Die frühere Prießnitzstraße darf sich nun stolz „Gewässer III. Ordnung“ nennen.
- Das dringend benötigte innerviertelische Center wird ins Dreieck gebaut, das Louisen- und Görlitzer Straße bilden. Den betroffenen Händlern und Gastronomen werden Ausweichstandorte im Elbepark 3. Bauabschnitt angeboten. Oder in Pieschen.
- Um dem Viertel wieder etwas Prägendes zu verschaffen, zieht das Friedhofsamt in das ohnehin nicht mehr notwendige Stadtteilhaus ein.
- Zur Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Dresden wird das Elsa-Fenske-Heim in die Neustadt gelegt. Dazu werden die an der Rothenburger / Louisenstraße ansässigen Schulen geräumt. Da man nun die Turnhalle in der Scheune auch nicht mehr braucht, wird diese erneut geschlossen und als Mini-Center wiedereröffnet.
Damit dieser grausame Plan nicht Wirklichkeit wird, seid wachsam, Bürger, Bürgerinnen! Geht auf unsere Mitbürger zu und erklärt ihnen den Gebrauch der praktischen Beutel!
Bedenkt: Mit einem kleinen Haufen fängt es an, und bald ist alles im Arsch.
Rundum Wohlfühlen bei facebook: Bloß nichts Negatives! Bloß keinen verärgern!
I like it, ein Dutzend Male am Tag …
Jedes “Like” ein neues Zeichen an die Welt: Ja, ich bin noch da, spiel noch mit, habe eine (positive) Meinung. Ich „leike“ (im Folgenden bleibe ich bei dieser Variante), also bin ich, bin existent und wahrnehmbar.
Außerdem gibt es eine Erwartungshaltung. Bei manchen meiner facebook-Kumpel (über das Wort „Freund“ ist schon genug gelästert worden) habe ich den Eindruck, sie sind beleidigt, wenn ich auf einen ihrer Beiträge mal nicht systemkonform reagiere. Führen die Abhak-Listen? Oder gibt es inzwischen ein Tool bei facebook (gegen Zuzahlung natürlich), das das Abhaken übernimmt und Statusberichte sendet? „Teichelmauke hat drei deiner Posts gelesen, aber noch nicht geleikt“? Da hab ich wohl was verpasst.
Ich gebe zu, dass mir manchmal auch Sachen gefielen, die ich dann nicht geleikt habe. Vielleicht, weil ich den Autor generell nicht so leiken kann, vielleicht auch aus Neid, dass das nicht mir eingefallen war. Manchmal hab ich es auch schlicht vergessen.
Ja, auch den umgekehrten Fall hat es gegeben, meist weil ich der Autorin eine gewisse Leikheit entgegenbrachte, die sich eher weniger auf ihre belletristische Originalität bezog. So ein Leikchen in Ehren kann niemand verwehren …
Ob es je etwas nutzte, vermag ich nicht zu beurteilen. Auch hier gibt es kein ceteris paribus.
Lustig find ich jene Seiten, die mit dem Erreichen einer bestimmten Anzahl von Leiks eine Aussage verbinden, die dann zur Botschaft wird. Tausend Leiker können nicht irren? Oh doch.
Aber zumindest schaden solche Aktionen nicht und tragen auch nur ganz geringfügig zur Klimaerwärmung bei.
Leik und Leid liegen manchmal dicht beieinander. Was uns nachts noch leiklich schien, verursacht am Morgen danach dann doch Schmerzen. Da hilft nur, rückgängig machen und hoffen, dass es noch keiner gesehen hat.
Das Leik als Waffe des kleinen Users? Neinnein, dafür sein ist eher langweilig, das hatten wir früher in der Dadaer zur Genüge. Und der Umweg über das Leiken eines kritisches Postings auf der Seite der, sagen wir mal Kreissparkasse Pirna-Sebnitz scheitert meist an den Administratorrechten selbiger.
Wenn doch mal einer „Hau den Lukas“ schreibt und tausend Tapfere mitleiken, wird vielleicht der BND aktiv (falls es da Internet gibt), aber Minister Lukas hat das nicht mal in der Presseschau. Ein lauer Furz in einer Sommernacht …
Dies führt aber zur entscheidenden Frage: Warum gibt es eigentlich kein „Dislike“?
Weil das nicht dem Geschäftsmodell von facebook entspricht. Konfrontation ist zwar kurzzeitig unterhaltsam, vor allem für die Mitlesenden, führt dann aber doch zu negativen Gefühlen, kein gutes Umfeld für eine Werbebotschaft. Das muss man mit einem Button nicht noch erleichtern, die kritischen Texte werden ja zum Glück meist nur überflogen und schnell erlahmt auch die Aufmerksamkeit. Katzenbilder und Allerwelts-Sinnsprüche sind da gefälliger, irgendeiner leikt immer und schnell ist ein Dutzend beisammen fürs gute Gefühl.
Wat lernt uns dat? Nichts Wesentliches. Ich werde hier nicht zum Leikboykott aufrufen, ich kenne meine Grenzen. Es ist was es ist, sagt nicht nur die Liebe.
Und wir haben wahrlich andere Sorgen.
In diesem Sinne: Leik mei feier.
Vaterlandsliebe …
Unlängst aus dem Touri-Geplapper an der Fähre herausgehört: „… mehr Angst als Vaterlandsliebe …“.
Ja, sicherlich. Ist auch nicht schwer.
Aber ein schönes Wort, diese „Vaterlandsliebe“. Bringt einen auf Gedanken.
Zunächst einmal würde ich das aus meiner Perspektive dem homosexuellen Spektrum zuordnen. An sich kein Problem, ich wollt es nur mal gesagt haben.
Gibt es dann auch eine Vaterlands-Jugendliebe? Und muss man nach dem ersten Mal gleich heiraten, weil sonst die großen Brüder böse sind?
Wie ist das überhaupt mit dem Körperlichen? In meinem Verständnis – gut, rein subjektiv – gehört das ja doch irgendwie dazu? Ob nun dreimal täglich oder jeweils am Hochzeitstag, bleibt der Neigung und der körperlichen Verfassung überlassen, aber ganz ohne? Schwierig, um diese schöne neudeutsche Vokabel auch hier unterzubringen.
Wie äußert sich Vaterlandsliebe? Gedichte schreiben, ok. Und sonst?
Kann ein Mann mehrere Vaterländer gleichzeitig lieben? (Bei mir wärs neben dem Königreich Böhmen dann noch die Bunte Republik, aber das nur nebenbei.)
Und die Frauen? Stabile Zweierbeziehung? Vaterfigur fällt mir da ein, oder besser Vaterlandsfigurliebe. Oder Vaterfigurlandsliebe? Obgleich, allein wegen der Figur liebt man doch nicht?
Apropos, kann ein Vaterland auch fremd gehen? Und wenn ja, auf welchem Mutterboden?
Gibt es auch Dreiecksbeziehungen? Führt das zu diplomatischen Verwicklungen? Wird der Botschafter einbestellt? Wozu? Zur Vaterlandsliebe?
Wozu führt unglückliche Vaterlandsliebe? Zum Wahnsinn, wie sonst auch? Oder nur zur Staatenlosigkeit?
Und, ganz wichtig: Gibt es freie Vaterlandsliebe? Ist Europa so was Ähnliches? Und warum ist Arthur Schnitzler dann ein Schweizer?
Für die, die bis hier durchgehalten haben:
Vaterlandsliebesspiel. Vaterlandsliebesvorspiel. Mir fällt da nur die teutsche Nationalmannschaft (m/w) ein. Erst singen, dann, nun ja, spielen.
Kann man Vaterlandsliebe erzwingen? Von welcher Seite aus?
Hm.
Ich glaub, ich hab in Stabü nicht aufgepasst.
War das jetzt schon Sex?
Sieben Toren sind der Faust
Die Geschichte einer Theaterproduktion der Bürgerbühne Dresden haben wir in „Wir armen Toren“ nachverfolgen können, ganz nett sicher, aber …
Wovon handelt das Stück eigentlich?
Gar nicht so leicht zu sagen.
Vom Faust? Sicher. Von Gretchen? Auch ein bisschen. Von der bösen Midlife-Crisis? Ja, auch. Aber nicht nur.
Es geht um „Männerbiographien“, wie einer so schön sagt, ganz verschiedene, die ein Bruch (oder auch mehrere) verbindet, aber sonst erstmal nicht viel.
Das Stück lebt von der Potenz (und der erlebbaren Hilflosigkeit) seiner Protagonisten, sieben Lebenslinien werden auf der Faust-Geschichte verprobt, meistens passt es, manchmal nicht. Es ist – stellenweise – dieselbe Story in sieben Variationen, jeder ist Faust und ist es auch nicht, die „Hunde-Monologe“ zum Einstieg machen das deutlich.
Ein assoziationsreiches Bühnenbild, sieben Felder, Kabinen, Zellen, Boxen, Rückzugsräume … davor ein schmaler Steg und fünf Meter Abstand zum Publikum. Den wird es brauchen.
Regie und Dramaturgie übertreffen sich mit Einfällen. Die drei Erzengel und den Herrgott selbst spielt einer allein, auch im Himmel ist das Personal knapp. Davor noch als Einstieg die Monologe, die dem Stück den Namen gaben: Sechs Lebensläufe im Duktus der Studierstube, einer darf dazwischen das Original aufsagen.
Man wird also eingeführt mit Berichten aus dem krisengeplagten Mittelleben, die gesamte Bandbreite dessen, was man heute so haben kann, kommt zutage. Was haben die Sieben mit Faust zu tun? Sehr viel, jeder für sich.
Überhaupt, Sieben. Die mythische Bedeutung der Zahl ist nicht zu unterschätzen, nur die Drei gibt vielleicht noch mehr her. In sechs plus einem Tag soll die Welt erschaffen worden sein (der Ruhetag gehört unbedingt dazu), sieben Todsünden sind bisher bekannt, sieben Freunde müsst ihr sein (zumindest im Handball), die sieben Schwaben hatten immerhin ein gemeinsames Ziel, von den Glorreichen Sieben waren am Ende zwar nur wenige übrig, aber sie haben gewonnen. Die sieben Geißlein wurden von der Klugheit des jüngsten gerettet. Die Älteren unter uns werden sich noch an Herrn Carrells „verflichste Sieben“ erinnern. „Sieben auf einen Streich“ darf natürlich auch nicht fehlen. Und wie würde „Schneewittchen und die fünf Zwerge“ klingen?
Aber was passiert nun weiter im Stück? Die aus der Hexenküche neu gewonnene Jugendlichkeit und Energie kanalisiert sich in halbstarker Brünstigkeit, Sinnsuche und Unternehmertum.
Das Gretchen, das später erscheint, ist am Anfang eine Verheißung und am Ende ein Störfaktor. Keiner scheint ihr gewachsen, nur der Goethe-Freak bezwingt sie mit seinen Versen. Aber als es ernst zu werden scheint, kneift der Depp und klammert sich an die literarische Vorlage.
Gretchen wäre hier eher respektvoll Margarete zu nennen. „Das Heute-Gretchen und die sieben Fäuste“ ist vielleicht als Titel zu direkt, aber träfe es schon irgendwie. Und wie weiland die verstoßene Königstochter hat sie die Meute im Griff, bis … ja, bis einer sich mit der originalen Geschichte vom weltlichen Ende des Gretchens in ihr Herz schleicht. Dann ist es vorbei mit der kühlen Souveränität, das Weib Grete schlüpft am Ende gar in Helenas Identität, doch vergebens: Faust IV. (in der Reihenfolge des Auftritts, eigentlich ja Heinrich IV., aber das passt so gar nicht) fühlt sich überfordert vom direkten Begehren, er hat es eher mit der Theorie.
Bis dahin ist aber noch viel geschehen: Zunächst beklagen die Fäuste wortreich und lautstark ihr schweres Schicksal, ein Pudel assistiert dabei. Jener verwandelt sich flugs in den aus dem Prolog bekannten Mephisto und verleitet figilant den Faust zum Glücksspiel. Während Quadflieg und Gründgens in der Projektion stumm große Kunst bescheren, stammeln die Protagonisten auf der Bühne deren Texte aus dem Kopfhörer nach. Interessant, sag ich mal.
Da Faust konsequent die Existenz eines Jenseits verleugnet (zu seinem Glück hat Goethe nicht schon ein paar Jahrhunderte früher gelebt), dünkt ihm sein Einsatz gering. Also was soll‘s, wetten wir halt.
Nun muss Mephisto aber liefern. Im Gegensatz zu heutigen potentiellen Lieferanten tut er’s auch, nach einer kraftvollen Hexenküchenshow (Kochen ist ja eh im Trend) stehen 7 Jung-Fäuste da, offensichtlich mitten in der Pubertät.
Man sieht es bei der Gretchen-Erscheinung, erst per Video, dann – Auftritt aus der Menge – real: Eine große Bandbreite zwischen Verschüchterung und Macho-Gehabe tut sich auf. Letzterer bereut es, eine Polka kann auch weh tun. Mit Minnesang ist der Dame auch nicht beizukommen, sie stellt insistierend die Frage, der sie den Namen gab und duldet kein Ausweichen. Die anderen Fäuste verpissen sich, als auch die dank Brieftasche dicke Hose des Dritten sie nicht beeindruckt.
Nur der Feingeist bleibt übrig. Scheinbar wird auch er zerhackt, doch dann – wundersame Wendung – rührt er die Amazone mit dem Nachspiel von Gretchens Ende. Aber … kaum scheint er zu gewinnen, meldet sich der kleine Mann im Hinterkopf. No woman no cry …. Also Rückzug, kein Happy Ende.
Nach notgedrungen etwas ruckelndem Übergang zwei anrührende Beichten und ein Gefühlsausbruch aller Fäuste.
Mephisto zaubert im Teil Zwei unverdrossen weiter. Wenig später schwimmen alle im Geld. Aber sind die Scheine auch was wert? Man muss nur fest dran glauben. „Im Hintergrund Mephisto lacht, weil die Gier immer alles nur noch schlimmer macht.“
DER Faust – der Goethe-Kenner hatte wie vermeldet die Konkurrenten aus dem Feld geschlagen – sucht weiter Helena und findet Gretchen wieder. So war das nicht gedacht. Wieder kein Happy-End.
Finale Eins:
Die Auflösung der Wette zwischen Faust und Mephisto. Die Deutsche Bank gewinnt. Die Deutsche Bank gewinnt immer.
Finale Zwei:
Jeder der Faust-Kandidaten wettet noch einmal. Werden sie jetzt gewinnen? Meine Prognose ist 3:4.
Das Stück sollte man sicher nicht klassisch nennen, trotz der erhabenen Vorlage und vieler Zitate ist es modern angelegt. Ein dünner roter faustischer Faden zieht sich hindurch, die durchgängige Handlung der Vorlagen blitzt nur gelegentlich auf, es sind eher aneinandergereihte Szenen, mal nach, mal ohne, mal fast gegen Goethe. Der Wiedererkennungsfaktor des Faust ist manchmal gering, auch Deutschlehrer werden nicht jede Episode einordnen können. Aber darauf kommt es auch nicht an.
„Ich armer Tor“ verhält sich zur deutschen Nationaldichtung wie ein heutiger Nachfahre des verehrten Herrn von Goethe zu ebenjenem: Man sieht vielleicht noch die Verwandtschaft, nur behaupten muss sich der Urururenkel heute selbst, mit seinen eigenen Möglichkeiten.
Und das tut das Stück, denke ich. Dennoch. Deshalb. Sowohl. Als auch.
Bis zum Jahreswechsel noch fünf Mal im Theater Ihres Vertrauens.
Wir armen, reichen Toren
Innenansichten einer Theaterproduktion
Vorbemerkung:
Trotz seines Erfolgs hat sich das Konzept „Bürgerbühne“ sicher noch nicht weltweit rumgesprochen, deshalb eine kurze Erklärung. Die Grundidee des Staatsschauspiels Dresden ist, eine professionelle Infrastruktur (Regie, Dramaturgie, Bühne, Technik usw.) projektbezogen für Laiendarsteller zur Verfügung zu stellen und damit Stücke zu inszenieren oder zu entwickeln. Das läuft jetzt erfolgreich in der vierten Saison, es ist (für mich) immer wieder erstaunlich, welch Kreativität und Ausdrucksstärke auch beim „normalen“ Menschen zu Tage gefördert werden kann.
„Ich armer Tor“ ist eine aktuelle Produktion der Bürgerbühne (Premiere am 09.11.12), von derem Entstehungsprozess hier berichtet werden soll.
Rückblende:
Hochsommer 2012, 45 Männer drängeln sich im Foyer Mitte des Kleinen Hauses. Bisher gibt es nur die Idee, auf Basis der Faust-Tragödie (ja, kleiner hammer’s nicht) ein Stück über midlife-Krisen zu machen sowie den Wagemut der Macher. Und offenbar ein großes Interesse der Zielgruppe.
Zu den angesetzten Auswahl-Workshops kommen fast alle. Der Wettbewerb ist hart und heftig, man muss sein Innerstes preisgeben, sonst hat man keine Chance. Ohne einen Seelen-Strip geht es nicht.
Der Trost: „Wir suchen Typen, nicht die Besten.“ Dennoch bin ich dabei.
Das erste Beschnuppern untereinander ist privat, einer hat die gute Idee eines gemeinsamen Video-Abends. Es gibt – Überraschung – Gründgens Faust aus den fünfziger Jahren.
Dann die erste Probe: Locker werden, locker bleiben. Eine große Mannschaft von Profis steht uns gegenüber. Das ist schon mal beeindruckend. Und allein das Bühnenbild von Bernhard würde das Mitspielen lohnen.
Erste Überraschung: Disziplin und Pünktlichkeit sind wichtige Tugenden am Theater. Darüber wacht die Regieassistentin Nane, deren Strenge so gar nicht zu ihrer lieblichen Erscheinung passen will. Zum Glück darf und muss sie das Gretchen geben, so lernen wir auch andere Seiten von ihr kennen.
Es folgt: Viel ausprobieren, Extreme spielen, alles rauslassen, szenische Versuche, biographische Schnipsel aus unseren Interviews. Noch weiß keiner, was daraus wird.
Dann erste Szenenfragmente, viel Spaß dabei. Das könnte passen, das auch, und das eher nicht.
Noch etwas Erstes: Der doppelte Kurzauftritt bei der Saison-Eröffnungsfeier, „Die Faust-Show“, danach geiles Gefühl, ej, wir haben es drauf!
Geprobt wird nun gefühlt täglich, all night long.
Kurz darauf ist auch noch das ZDF bei der Probe, wenn auch nur mit dem Sonntagvormittag-Programm (ich frag mich ja, wer da guckt). Einer ist der Star, aber alle anderen sind auch im Bild. Schöner Bericht. Noch mehr Flow.
Dann doch die erste Durststrecke. Ewig dasselbe proben, auch wenn man die Szene Scheiße findet. Und dann wird die gestrichen. Die Freude ist zwiespältig, schade um die Mühe.
Ganz langsam zeichnet sich ein Stück ab. Aber es ist noch sooo lang … Der Dramaturg Hajo kommt und kürzt und streicht. Aber immer noch fast zwei Stunden.
Die Szenen verdichten sich, nicht nur zeitlich. Noch einige Rollentausche. Es scheint jetzt zu passen.
Der erste komplette Durchlauf bleibt aber unbefriedigend. Es längt, es hakt überall. Miese Stimmung, in der Garderobe später hat keiner gute Laune. Miriam, die Regisseurin, tröstet, aber wir spüren auch ihre Anspannung.
Foto-Shooting im Casino, so komm ich da auch mal rein. Theater bildet.
Jetzt auch noch ein eigenes Kamerateam, das uns begleitet bis zur Premiere. Egal, wir machen hier unser Ding.
„AMA 1“, Theatersprech, „Alles mit Allem“ heißt das. Im internen Publikum der Intendant. Man merkt es an der Nervosität der Beteiligten. Nur wir Laien nehmen das nicht so wichtig.
Es läuft gut, viel besser als zuvor. Alle stolz. Der Intendant ist zufrieden, lässt er bestellen.
Auswertung: Erst im KH Mitte, dann noch lange in der Kantine. „War schon viel Schönes dabei“ … Im Ernst, alle sind gut drauf, ein Meilenstein ist geschafft. Und wir haben noch viel Zeit …
Aber es beginnen die Mühen der Ebene. Der sichtbare Fortschritt wird kleiner, nun geht es an den Feinschliff, das nervt manchmal. Man hört es auch am Ton.
Die „AMA 2“: Pleiten, Pech und Pannen. Einer fällt von der Leiter, ein anderer stolpert gleich über zwei Mitspieler. Der rechte Schwung ist auch nicht drin.
Die Auswertung dauert diesmal lange, Kantine fällt aus. Jaja, wir wissen, woran es lag. Und jetzt sind die größten Änderungen auch durch, versichert die Dramaturgie.
Wie lautet nochmal der (vorläufige) Schlusssatz des ersten Finales? „Wer’s glaubt, wird selig.“
Dann ist es auf einmal nur noch eine Woche bis zur Premiere.
Die Technik klemmt noch, nicht nur die der Darsteller, sondern auch jene, die von den großen Pulten aus gesteuert wird. Jan, der Musikus, feilt an den Einsätzen. Die Proben sind mühsam, gehen ins Detail. Die Leichtigkeit und Großzügigkeit der ersten Wochen ist dahin. Unter drei Wiederholungen bleibt keine Szene. Aber man sieht endlich mal, was die anderen so machen, während man in seiner Box hockt. Das tut gut und spornt an.
Es ist x-6, Sonnabend, „erste Hauptprobe“, davor noch ein technischer Durchlauf. Ersterer holpert, aber die Hauptprobe läuft fast optimal. Zur Belohnung gibt es einen freien Abend mit teambildenden Maßnahmen.
Der Sonntag ist probenfrei. Seltsames Gefühl, man wähnt sich nutzlos, keine, die einem sagt, was zu tun ist. Zum Glück geht auch dieser vorbei.
Die letzten fünf Tage verbringen wir de facto in Quarantäne. Vier Stunden Probe vormittags, fünf nachmittags. Da kann ich auch arbeiten gehen.
Wir fühlen uns wie die Nationalmannschaft vor dem Finale, mindestens. Nur das Mannschaftshotel fehlt, die Presse, Waldi und vor allem das Defilee der Spielerfrauen.
Kann man noch intensiver proben? Ja, man kann. Und man kann auch Tage vor der Premiere noch wesentliche Teile ändern. Oder streichen.
Die öffentliche Probe an (x-3) wird zwiespältig empfunden. Die Protagonisten sind größtenteils unzufrieden, hadern mit ihren Fehlern. Aber die Resonanz ist gut, das Publikum – ob nun vom Fach oder nicht – scheint zufrieden.
Am nächsten Morgen fallen nochmal einige Szenen aus dem Stück. Nicht alle sind begeistert. Und auch die Auffassungen in der künstlerischen Leitung sind nicht immer konform. Egal, ab jetzt entscheidet nur die Regisseurin. Wir proben die Änderungen bis zum Erbrechen.
Am Abend der vorletzte Durchlauf. Neuer Bahnrekord. Aber nicht schlecht. Das Stück ist spielbar, das Gefühl haben inzwischen alle. Und für die Tausend Details gibt es ja noch achtundvierzig Stunden.
Der letzte richtige Probentag. Die Liste von Miriam ist erstaunlich lang. Aber plausibel. Da müssen wir wohl nochmal ran.
Am Abend die Generalprobe. Ab 18 Uhr lungern alle in der Kantine und machen sich gegenseitig nervös. Dann aber ein nettes gemeinsames Aufwärmen, kann losgehen.
Am Ende strahlt Miriam. Zu Recht. Es lief – fast – alles bestens, fast schon zu gut. Hoffentlich können wir das Niveau halten.
Zum Abschluss die große Kantinenrunde, es werden immer mehr. Kaum zu glauben, aber selbst an einer recht kleinen Produktion sind über zwanzig Menschen beteiligt.
Der Tag der Premiere ist ruhig. Jeder soll für sich Kraft sammeln. Ab 18 Uhr sehn wir uns in der Kantine.
Noch zwei Stunden bis zum Startschuss, dann rollt die Kugel. Dann ist jeder allein in seiner Box.
Luise Millerowa wird im Pathos ertränkt
Gastspiel des „Prijut Komedianta“ St. Petersburg mit Schillers „Kabale und Liebe“ am 3.11.12 im Kleinen Haus Dresden (im Rahmen der „St. Petersburger Theaterspielzeit“)
Silence is sexy, das geniale Werk der Neubauten begleitet uns das ganze Stück über. Nur am Anfang ist offen, welche Stille gemeint ist.
Maximalbestuhlung im Saal, schwere Parfums und funkelnde Klunkern füllen diesen. Das Gastspiel ist fast ein Heimspiel, warum auch nicht?
Die Szenerie ist in ein Wohn-Tonstudio verlegt, Musiker Miller ist der Inhaber, gestraft mit seiner alt gewordenen Rockerbraut, gesegnet mit dem schönen Töchterlein Luise, auf das neben dem blassen Vorstandsassistenten Wurm auch der Oligarchensohn Ferdinand mehr als nur ein Auge geworfen haben. Nur letzterem gelingt die Eroberung des schönen Fräuleins, was dem Wurm aus den verschiedensten Gründen missfällt. Des (Firmen-) Präsidenten Walters Sohn wird im Hochzeits- und Machtpoker gebraucht.
Diese Translation in die Gegenwart scheint schlüssig, bezieht sich aber leider fast nur auf Bühne und Kostüm. Der durchgängig hohe Ton von Schiller passt einfach nicht mehr zum gewählten Ambiente, auch wenn er um einige zeitgerechte Sätze ergänzt wird. Zumindest mich begleitete das ganze Stück über ein gewisses Unbehagen ob dieser Differenz. Zumal auch noch einige unmotivierte Klamaukszenen dazu kamen, die dann gänzlich für Verwirrung sorgten.
Das Bühnenbild ist an sich eine gute Idee, nicht nur die Scheibe zwischen Studio und Aufnahmeraum gibt viel her. In letzterem findet die Hälfte aller Szenen statt, er ist auch Chefbüro, Managerfechthalle und Schlafgemach der Lady Milford. Nur … er ist weit im Hintergrund und von den vorderen Außenplätzen schlicht nicht einsehbar. Auch die Stimmen sind gedämpft, was allerdings bei den Über- oder besser Seitentiteln keine Rolle spielt. Jene, um auch das zu vermerken, schienen mir ein wenig lieblos erstellt, neben ärgerlichen Rechtschreibfehlern überforderte das Tempo der Einblendungen manchmal den Zuschauer. Auch das Timing war nicht immer glücklich.
Mal was Positives: Die Idee der absichtlich fehlgeleiteten SMS. Welche Scherereien damit verbunden sind, wussten sicher einige im Saal.
Die allgemein bekannte Handlung soll hier nicht nacherzählt werden, nur einige Anmerkungen: Lady Milford (wirklich reizend: Marina Iwanowa) war etwas eindimensional darzustellen, die Geschichte vom armen gefallenen Mädchen kaum glaubhaft. Eine Verführung mit dem Nerv-Klassiker „Je t’aime“ ist sicher nicht das Niveau der Lady, und die sich wie Kaugummi ziehende Szene mit Luise, in welcher die Milford zum Schönenreinengutenwahren bekehrt wird, empfand ich als Bestrafung. Des Zuschauers.
Generell gilt: Solange die Schauspieler (ob nun „Verdient“ oder nicht) in ihren Rollenklischees blieben, konnte man folgen. Sinneswandlungen oder Erkenntnisse nahm man (ich) ihnen aber kaum ab.
Eine Ausnahme vielleicht Ilja Del, dessen Ferdinand in seiner kalten Wut Größe gewann (die er dann aber wieder mit viel Pathos am Ende abzutragen hatte). Polina Tolstun (Luise) fand ich sehr gut in den Anfangsszenen, je dramatischer es wurde, desto mehr flüchtete sie jedoch in Stereotype.
Die Musik bediente sich aus dem reichen Repertoire der Rockklassiker, na gut, nicht überraschend, aber auch nicht störend. Und „Where did you sleep last night“ von Nirvana passt natürlich wie die Faust aufs Auge.
Das Ende ist schnell erzählt: Einige bewegende Bilder, aber auch oft Langeweile in den endlosen Dialogen, vereinzelt auch fast schon Fremdschämen ob der hölzernen Szenen. Die Cola-Vergiftung der Hauptakteure beendet gnädig das Spektakel.
Silence is sexy, yeah. But to much „Pathos“ is very unsexy, daragije Druhsja!
Noch zwanzig Jahr zu arbeiten …
„Die Firma dankt“, UA von Lutz Hübner, in der Regie von Susanne Lietzow gesehen am 22. April 2012 im Staatsschauspiel Dresden
Eine Parabel zwischen alter und neuer Arbeitswelt, sie handelt vom verlorenen Wert von Verdiensten, vom Neu-Erkämpfen-Müssen seiner Position, vom Spielen nach unbekannten Regeln, von den Schmerz-Grenzen erhaltener Demütigungen. Lutz Hübner lässt einen Mittvierziger die „Neuaufstellung“ seiner Firma durchleben und durchleiden. Am Ende muss jener erkennen, dass für ihn kein Platz mehr da ist, den er ohne Selbstaufgabe ausfüllen könnte.
Adam Krusenstern muss warten. Warten im Gästehaus seiner frisch übernommenen Firma, die ihn zu diesem Wochenende einbestellte. Ihn, den letzten verbliebenen Abteilungsleiter, alle anderen wurden vom neuen Management schon entsorgt. Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet, Rauswurf, Degradierung oder Beförderung.
Auch die ersten Begegnungen machen ihn nicht klüger. Hier scheinen alle keine Nachnamen zu haben. Kein Zeitplan, keine Tagesordnung, so ein Chaos hat Adam in 20 Jahren Betriebszugehörigkeit noch nicht erlebt. Die Assistentin umschwirrt ihn (oder überwacht sie ihn?), die beißlustige Personaltrainerin gibt abwechselnd den guten und den bösen Bullen, der neue Personalchef bleibt ganz allgemein in seinen Sprechblasen. Alle sind irgendwie unter Spannung. Nur der mutmaßliche Praktikant ist überlocker, Krusenbergs Ratschläge zu Umgangsformen belustigen ihn. Hier prallen Welten aufeinander.
Krusenberg spürt, dass etwas von ihm erwartet wird. Er beruft ein Meeting ein, aber es wird ein Desaster. Schon am Gestühl scheiternd, verhungert er bei seinem Schaulaufen vor einem desinteressierten Kreis. Demütigung durch Ignoranz. Das Auftauchen des jungen Schnösels, den alle wer weiß warum anhimmeln, lässt die Besprechung endgültig platzen. Die Teilnehmer widmen sich wichtigeren Dingen.
Nur der selbstgewisse Schnösel bleibt, versaut erst Adams Anzug und dann endgültig dessen Laune mit seinen Thesen von der modernen Wirtschaft. Erfahrung und Kompetenz sind unwichtig, die Systeme organisieren sich selbst, Produktperfektion ist irrelevant, man muss den Kaufvorgang verkaufen. Krusenstern versinkt im riesigen Sofa und taucht als Marionette wieder auf. Alles ist offensichtlich Scharlatanerie, aber diese kommt an. Doch was sollen facebook-Produkte in einem Stahlwerk? Hat er in seinen 20 Arbeitsjahren wirklich alles falsch gemacht? Ist er verdorben für die schöne neue Firmenwelt?
Die anderen sind inzwischen in Feierlaune. Der vermeintliche Praktikant Sandor ist ein umworbener Shooting-Star der New Economy, der endlich zugesagt hat, den Laden zu übernehmen. Der Aktienkurs steigt.
Die Nutzwertanalyse des frischgebackenen Chefs geht allerdings zu Krusensterns Ungunsten aus. Adam macht den üblichen Deal, Abfindung gegen geräuschlosen Abgang, besser er wird mit ihm gemacht. Mangels Personalakte muss zu seiner Verabschiedung aus seinem Dossier vorgelesen werden. Was man so alles anhäuft in zwanzig Jahren … die wissen wirklich alles.
Es ist Sandors erste selbstverursachte Kündigung, das will er sich aus der Nähe ansehen. Sein strafverschärfendes Mitgefühl und seine These, Krusenberg sei ein Oldtimer, zwar unpraktisch und kaum verwendbar im Alltag, aber sehr faszinierend, lässt jenen die Contenance verlieren. Er hat noch zwanzig Jahre zu arbeiten!
Die folgende Prügelei bleibt einseitig. Sandors geschmeidige Virtualität hat der physisch-archaischen Gewalt aus der Old Economy nichts entgegenzusetzen. Sieg durch K.O. in der ersten Runde.
Dies führte nun eigentlich zum berechtigten fristlosen Rauswurf des Übeltäters, allein Sandor fühlt sich als Warhol-Wiedergänger und erkennt eine prägende Szene aus dessem Leben: Das Valerie-Attentat. So einen könnte er doch gut brauchen? Er trifft eine Management-Entscheidung.
Die Runde ist irritiert, dass Krusenstern nun wieder im Rennen ist. Offenbar verstehen auch sie die Regeln nicht ganz. Aber nach welchen Regeln würfeln die Affen? Der Personalchef hängt seinen Golfpullover in den neuen Wind, die Trainerin nimmt erneut seine Daten auf. War ja alles schon gelöscht.
Mitten im Gespräch entspringt ihr eine flammende Rede über Würde und Selbstachtung. Sie ahnt, dass die Probleme des Krusenstern bald auch die ihren sein werden.
Adam entwickelt seine Strategie zur Würdebewahrung, reicht die innere Kündigung ein und geht auf Sabotagemission am Betriebsklima. Auch übt er schon mal Fiesigkeit am schwächsten Glied der Kette, alles natürlich präzise abgehört von Sandors Spielzeugen. Dennoch will der ihn haben, für die Skeptiker-Rolle ist er die Idealbesetzung.
Schlussszene. Während Sandor von der Old-School-Vorstellung des Krusensternschen Meetings schwärmt und dieses am nächsten Tag mit seinem neuen Team als Retro-Kapitalismus zelebrieren will und die Personaltrainerin plötzlich nicht mehr gebraucht wird („Danke, wir melden uns“), verschwindet der Personalchef vollumfänglich in Krusensterns Gesäß.
Davon unangenehm aufgestoßen, steht Adam die ganze Absurdität der Situation plötzlich klar vor Augen. Was ist die Ermordung eines Mannes gegen dessen Weiterbeschäftigung? Er geht ab, ob er den Personalchef vorher noch ausscheidet, ist nicht zu erkennen. Den Dank, Firma, begehr ich nicht.
Game over.
Wie kommen Menschen mit den immer schnelleren Veränderungen in der Arbeitswelt zurecht? Wie agieren Menschen in Systemen, die sie nicht mehr verstehen? Wie reagieren Menschen auf die Tatsache, dass man sie als nicht mehr brauchbar einschätzt? Wie fühlen Menschen, die heute noch Vollstrecker und morgen schon Aussortierter sind? Wie gehen Menschen mit Macht um?
Alle diese Fragen werden angerissen in Hübners Stück, logisch, dass sie nicht komplett beantwortet werden können. Aber er bereichert damit eine Diskussion über mindestens zwei Zukunftsthemen, nämlich der von Personalchefs gerne so genannten „Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer“ (welche inzwischen bei Mitte Vierzig beginnen) und ganz nebenbei auch zur Relevanz von virtuellen Werten in der Ökonomie. Die Gegenpole Sandor und Krusenstern (alle anderen Figuren sind nur Mittel zum Zweck) repräsentieren die alte und die neue Welt, wobei das Neue nicht unbedingt gut sein muss, nur weil es das Neue ist. Irgendeiner muss den Jungen auch erklären, dass ein Geldschein nicht größer wird, wenn man mit der bekannten I-Geste zwei Finger auf ihm spreizt.
Ich habe zahlreiche nachdenkliche Gesichter nach draußen gehen sehen, unter den meisten waren Krawatten befestigt. Der nächste Tag wird ein Montag sein, da wird Vielen Vieles bekannt vorkommen.
Nach „Frau Müller muss weg“, jener Cash-Cow des Staatsschauspiels, wo es sehr präzise um den vergleichsweise beschränkten Bereich der Schullaufbahnwahl der lieben Kleinen ging, dreht Lutz Hübner jetzt ein größeres Rad, ist dabei aber ebenso genau in den Beobachtungen und hellsichtig in den Prophezeiungen. Man sollte das Stück (auch) auf Aktionärsversammlungen spielen.
Last but not least wie immer die Schauspieler:
Julia Keiling und Annedore Bauer als Gäste standen in den großen Pumps von Ina Piontek und vor allem Christine Hoppe, die die Premiere bestritten hatten. Frau Hoppe (auf deren baldige Wiederkehr sicher neben mir sehr viele hoffen) hatte ihre Personaltrainerin weiter nach vorne in der Wahrnehmung gebracht, Frau Bauer spielte zurückhaltender. Letzteres hilft sicher der Konzentration auf die beiden Antipoden, auch wenn die Ella in ihrer Ahnung, dass auch sie bald zu den Krusensterns gehören wird, eine sehr interessante Figur ist.
Thomas Eisen ist sehr präzise besetzt, eine Rolle wie für ihn gemacht, der er ohne Abstriche gerecht wird.
Christian Clauß in seiner ersten größeren Arbeit (noch als Student begonnen) sehr sehr authentisch, mit jeder Faser das verwöhnte Jüngelchen, dessen Spielzeug immer größer wird, dem man wegen seines wachen Interesses und seiner Begeisterungsfähigkeit aber nicht wirklich böse sein kann.
Der Krusenstern ist eine Figur, bei der man vorsichtig sein muss: Zu viele können da aus eigenem Erleben mitreden. Philipp Lux nimmt sich der Aufgabe in äußerst sensibler Weise an, er zeigt keine Karikatur, keinen Revoluzzer, auch kein Opfer, sondern einen Menschen, der die Welt um sich herum nicht mehr versteht und deshalb zweifelt, ob er noch dazu gehört. Bravo.
Ich las mit Freude, dass das Stück auch in dieser Saison auf dem Spielplan stehen wird. Also noch viel Zeit, um meiner Empfehlung zu folgen: Unbedingt ansehen!
