Kategorie: Alltag
Heute vor fünfundsiebzig Jahren begann die Zerstörung Dresdens
Der neunte November 2013
Johannes Lohmeyer, mit dem ich selten einer Meinung bin, hat heute diesen Satz verwendet. Egal, ob dies schon einmal jemand so sagte, für diese Äußerung gebührt ihm uneingeschränkter Respekt.
Man muss sicher niemandem erklären, was es mit diesem Datum auf sich hat. Spätestens die frisch geputzten und mit Blumen und Kerzen geschmückten Stolpersteine stoßen auch den Letzten mit der Nase darauf, dass heute vor 75 Jahren in einem Land mitten in Europa Menschen ihre Mitmenschen überfielen, beraubten, erschlugen und ihre Gotteshäuser anzündeten. Gemeinhin wird dafür der verharmlosende Begriff „Kristallnacht“ verwendet, manche geben ihm mit dem Zusatz „Reichs-„ gar noch einen amtlichen Anstrich.
Aber man muss das Pogrom nennen, genauso wie die vielen ähnlichen Untaten in den Jahrhunderten zuvor, in Deutschland und anderswo. Oder auch den Beginn des Holocaust.
Es ist kein Trost, dass nicht nur das deutsche Volk in Abständen dem Verlangen folgt, einen Teil der Bevölkerung zu massakrieren. Man kann Verbrechen nicht miteinander aufrechnen. Und wenn auch in Polen, Ungarn und anderswo solche Gräuel vorkamen, dann ist das eine Schande für diese Völker. Wir Deutsche haben uns mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.
Und da haben wir einiges zu „bieten“. Nicht nur einen perfekt organisierten Überfall auf eine Volksgruppe einschließlich eines Stillhaltebefehls an die Feuerwehren (nur in Halberstadt hatte man die Synagoge nicht angezündet, aus Angst um die umstehenden Fachwerkhäuser), sondern in der Folge auch den weltweit ersten industriellen Massenmord. Der Tod wurde zum Meister aus Deutschland, zum Diplom-Ingenieur des Menschenentsorgungswesens.
Mich erfüllt tiefe Scham, nicht nur für die Generation meiner Großeltern, auch (fremd) für alle, die heute nichts dabei finden, das alles zu relativieren und den berühmten Schlussstrich ziehen wollen. Mord verjährt nicht, auch nicht Massenmord unter staatlicher Legitimation.
Ja, heute vor fünfundsiebzig Jahren begann die Zerstörung von Dresden, am Hasenberg.
Fidel Zastrow, der Heilige Holger des Lohndumpings
Unbestritten: Es wird sich einiges ändern durch den Mindestlohn.
Obskure Geschäftsmodelle werden zusammenbrechen, eine Marktbereinigung wird stattfinden. Ist das schlimm?
Nein. Das ist notwendig. Wir leben in Mitteleuropa, nicht in einem sog. „Lohnparadies“. Wenn man hier nicht von seiner Arbeit leben kann, wo dann?
Und, das bitte nicht zu vergessen: Vierzig Jahre Arbeit zum heute angepeilten Mindestlohn führen noch nicht einmal zur Mindestrente. Worüber diskutieren wir hier eigentlich?
Ich glaube, es geht schlicht um Menschenwürde. Ein stolzes Wort. Taucht das irgendwo auf, in einem Parteiprogramm rechts der „Mitte“?
Herr Zastrow hat sich entschieden, für den Status quo zu kämpfen. Solchen Entscheidungen gebührt gewöhnlich Respekt, die sich gegen den Mainstream richten, weil man es besser zu wissen glaubt.
Aber hier wird ihn ein beginnender gesellschaftlicher Konsens überrollen, und mit Pizza-Dienst-Betreibern und Low-Budget-Services aller Art allein wird auch die sächsische FDP die nächsten Wahlen kaum überstehen.
Aber das ist völlig in Ordnung so, denn dann wird auch der autosuggestive Selbstbetrug der Sachsen-FDP auffliegen, dass man mit Klientelpolitik a la Zastrow die Partei im Parlament gehalten hätte.
Und dies ist ja nun wiederum gut so.
Tausend grobe Schnitzer sind nicht genug.
Schneeberg zum Zweiten.
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der beste Nazi im ganzen Land?“ So wird sich Apfel sicher seit Jahren vor dem Einbau-Schlafzimmerschrank drehen, wenn er sich morgens in den C&A-Anzug zwängt. „Natürlich Ihr, mein Führer“, wird der Spiegel vermutlich beflissen antworten.
Aber seit einigen Wochen bekommt Apfel, wenn er sich den obersten Hemdknopf zuwürgt, noch Folgendes zu hören: „Aber dort, hinter den sieben Schneebergen, gibt es einen Hartung, der ist noch tausendmal nazionaler als Sie.“ Man weiß, wie die Geschichte weiter geht.
Da sind sie also wieder lichtelgelaufen, die Kameraden, für’s Vaterland und gegen die Flüchtlinge, mit maximal tausenddreihundert Leuten, die sich auch schnell wieder verliefen. Einen Erfolg kann man das nicht nennen, zumal die Beteiligten sehr eindeutig gewissen Kreisen und/oder einem unteren IQ-Bereich zuordenbar waren. Und da musste dann auch eine NPD-Landtagsabgeordnete als Volkes Stimme herhalten (ein grober Schnitzer des MDR-Fernsehens), denn an richtigen Menschen mangelte es im Revier.
Schneeberg ist nicht das braune Nest, wie von einigen erhofft und von vielen befürchtet. Dennoch wird die NPD hier eine Wahlkampfzentrale errichten und weiter lichteln, was bleibt denen auch übrig? Andere Kernthemen wie Autowaschen am Sonntag und volkstümliche Autokennzeichen hat ja schon die sächsische FDP besetzt.
Und vom Hartung wird man noch viel hören. Wer mit 24 Jahren schon so ein Demagoge ist, der taugt auch zum Reichsjugendführer.
Aber eine große Gruppe von friedlichen Gegendemonstranten macht Hoffnung, dass sich der braune Qualm bald wieder verzieht und den Blick freigibt auf die Aufgaben, die wir (unter anderem) haben: Für ein menschenwürdiges Dasein der Flüchtlinge zu sorgen, die aus den verschiedensten Gründen hier stranden. Das ist unser Land der Welt schuldig, nicht erst, aber besonders seit dem zweiten Weltkrieg.
Die Sache mit Isabella
Nun ist es soweit:
Nach unendlich langer Zeit habe ich fertig damit. Mein erstes Buch.Na gut, kein „richtiges“, ein eBook. Aber immerhin.
Hier: https://www.xinxii.com/die-sache-mit-isabella-p-347919.html
Und hier ein Auszug:
Die Sache mit Isabella
Not sorry
Cranberries
Keep on looking through the window again, …
You told me lies, and I sighed, and I sighed, and I sighed.
‚Cause you lied, lied, and I cried, yes I cried, yes, I cry, I cry, I cry again.
I swore I’d never feel like this again,
But you’re so selfish,
You don’t see what you’re doing to me,
I keep on looking through the window again.
No I’m not sorry if I do detest you.
Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, geben uns Halt im Leben. Manchmal. Und wenn sie dann weg sind, fällt man ins Bodenlose.
Epilog vorweg
Diese eine erschrockene Geste, mit der sie hilflos ihr Gesicht zu verbergen suchte, als Diego sie am Dienstag danach zufällig nachmittags auf der Straße an der Hand eines Vollbarts sah, wird ihm immer in Erinnerung bleiben. Und das ist gut so. Genau das bleibt sein Bild von Isabella.
Vielleicht ließe sich das Drama vom ersten Juli-Wochenende noch halbwegs mit einer extrem eskalierenden Dreieckssituation erklären: Die Protagonistin kann sich nicht entscheiden zwischen dem, den sie zu lieben glaubt (und der sie mit Stoff versorgt) und dem, von dem sie weiß, dass er gut für sie wäre, vielleicht der Einzige, der sie rausholen könnte aus ihrem (bisher geheim gehaltenen) Sumpf.
Jenem passiert dann ein Kurzschluss, er steigert sich in seine Helferrolle hinein, entdeckt das ganze (?) Elend. Sie flüchtet in die Psychiatrie, er geht zur Polizei und zeigt den Konkurrenten an. Sie schlägt zurück, mit dem einzigen Mittel, das ihr bleibt.
Am Ende sind beide Verlierer, bei Shakespeare wären sie tot. Vom Dritten weiß man es noch nicht.
Nur, wie passt das zum Händchen-Halten mit einem Vierten am Dienstag Nachmittag? Broterwerb? Am Abend zuvor kennengelernt wegen Nachtasyl? Großer Bruder? Ist die Geschichte doch eine ganz andere? Wir werden sehen. Vielleicht.
Isabella Silbernagel hieß nicht immer so.
Sie hatte Diego zwar eine nette Story von ihrer jüdischen Abstimmung erzählt, aber in Wahrheit war sie eine geborene Sorge [der traurige Wortwitz fließt dem Erzähler nur schwer aus den Fingern]. Ihre Kindheit schien nicht glücklich gewesen zu sein, ihr Fixpunkt war die Oma, wenn man ihren Erzählungen trauen durfte. Ihren schönen Nachnamen hatte sie aus erster Ehe behalten, ebenso wie einen fast erwachsenen Sohn, der bei seinem Vater lebte. Dann gab es auch noch einen zweiten Sohn, woher auch immer, inzwischen ebenfalls weit entfernt von ihr.
All das fand Diego erst am Sonntag heraus, beim Sichten der seit Monaten ungeöffneten Post in ihrer alten Wohnung, zu der er den Schlüssel von ihr dann doch bekommen hatte. Und er begriff dort noch viel mehr.
Immerhin ihre Tochter Mia, der Diego gerne ein guter Ersatzvater gewesen wäre, lebte bei ihr. Und hier war – bis zu einem gewissen Punkt – auch alles stimmig, Diego sah keinen Grund, an ihr zu zweifeln. Und plante ein Leben mit Isabella.
Kapitel 1, ab August 2010
„Ich beobachte das Leben, und manchmal nehme ich daran teil.“
In diesen Tagen nach jenem tragischen Wochenende, als der Schock bei Diego langsam nachließ, dachte er oft daran, wie alles angefangen hatte.
Diego war fast vier Jahrzehnte verhaltensunauffällig gewesen.
Dann warf ihn eine traurig endende Liebe aus den lange gewohnten Bahnen, er landete schließlich in der hier so genannten Republik. Und begann eine neue Existenz, die im Wesentlichen aus der mehr oder weniger erfolgreichen Suche nach einer neuen Partnerin fürs Leben oder zumindest für eine Woche bestand.
Hierbei lernte er viel, vor allem über sich, machte schöne und traurige Erfahrungen. Vor allem Frida und Tausendschön prägten sein erstes Jahr, beide verlor er aber wegen seiner Unstetigkeit. Vielleicht hatte es auch einfach nicht für mehr gereicht.
Zu Beginn dieser Erzählung war er gerade wieder frisch verliebt in Brigitta, die er auf recht seltsame Art kennengelernt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Trotz der seit nun schon vierzehn Tagen andauernden aufregenden Verbindung mit Brigitta streunte Diego nachts über die Inseln der Republik. Ohne wirkliche Absichten, bisschen den Marktwert testen vielleicht. Und die Zeit des Urlaubs vertreiben bis zur nächsten Begegnung mit ihr.
Es kam wie es kommen musste. Isabella hatte ihm gewunken mit den Äugelein, und Diego war geschmeichelt über das Interesse einer so schönen Frau. Ein kurzer Plausch, ein paar Tänze, ein vorsichtiger Kußversuch (eher erfolglos). Dann entschwand sie in die Nacht.
Er war überrascht von der sms am nächsten Mittag, fing aber sogleich Feuer.
Isabella(12/8):
Eigentlich ungewöhnlich, für jemand der offensichtlich arbeitend ist, solange beim Älternabend auszuharren… 😉 Gruss Isabella
Diego (12/8):
Naja, das trau ich mir auch nur im urlaub. Du warst aber auch ungewöhnlich an diesem ort: du bist doch eher der dienstags-saloppe-typ, oder? Gruß, Diego
Isabella(12/8):
Nein nicht ganz… eher die gelegentlich zu Electro tanzende Showboxx Typin, falls man das so nennen kann… 😉
Diego (12/8):
Tatsächlich? Da lag ich ja richtig daneben. In der box war ich noch nie, aber egal, bin ja tolerant. Und sonst so?
(ich sitz übrigens heute nachmittag in der republik rum, falls du das mit dem kaffee ernst meintest, könnte man das gleich erledigen)
Isabella(12/8):
‚Erledigen‘? Ich brauch heute noch ein wenig Ruhe, das ist mit fast vierzig so und irgendwann auch nicht mehr von der Hand zu weisen… wie wäre es mit morgen?
Diego (12/8)
Huch, schon wieder daneben. Ich hätte dich dem studentenvolk zugeordnet, wenn ich mal so plump komplimentieren darf. Aber auch das ist akzeptabel (vor allem, wenn man selbst ähnlich drauf ist).
Morgen ist es ein wenig schwierig, aber da ich samstag für ein paar tage wegfahr, würd ich die chance gern nutzen. Geht um vier bei dir? Irgendwo hier?
Isabella(12/8):
War ja auch ziemlich dunkel da drin, so dass graue Haare und Falten außen vor blieben… morgen dann… um vier, das müsste ich schaffen. Wo treffen wir uns?
Diego (12/8):
Wenn das wetter gut ist, am selben orte wie heute nacht? Da sitzt man auch tagsüber ganz nett. Ansonsten irgendein cafe, ich trink gerne schokolade. Wir können uns ja trotzdem hier treffen.
Und falls dein ruhebedürfnis doch nicht so groß ist: gerne auch heute noch spontan. Wär für mich entspannter als morgen, ich hab da nur eine gute stunde. Aber es geht auch.
Bis dann, Diego
Isabella(12/8):
Ich wohne nicht in der Neustadt, deswegen etwas ungünstig mit dem spontan sein. Wir machen das morgen einfach so, indem wir uns vor der Insel treffen… Gruss Isabella
Diego (12/8):
Na gut. Dann ruh dich mal schön aus. Bis morgen, ich freu mich. D
Frauen haben keine Jahresringe, immer schwer zu schätzen, ob knapp volljährig oder schon eine Weile auf dem Markt. Im Falle von Isabella war das ohnehin egal: Sie erschien in einem atemberaubenden Kleid, ihre braunen Kulleraugen harmonierten sehr schön mit ihren langen Haaren und ihrer sonnengebräunten Haut, und die Figur erst … Diego hatte Mühe, sein Begehren halbwegs zivilisiert zu zeigen.
Diego (13/8):
Hm … War offenbar so beeindruckt, dass ich auf dem heimweg gleich einen blechschaden fabriziert habe. Aber war nicht so schlimm.
Danke für die schöne stunde.
Isabella(13/8):
Oh, das tut mir aber leid! Ich fand es auch sehr angenehm… 🙂 entspannten Abend Dir noch, Isabella
Problembär, der er war, musste er natürlich sofort Grundsätzliches klären.
Diego (14/8):
Entschuldige die späte störung, die du ja hoffentlich erst morgens bekommen wirst. Ich sitz noch im note und denk über dich nach. Ich bin sehr begeistert von dir, soviele gemeinsamkeiten … Leider habe ich ein talent, menschen am ende unglücklich zu machen mit meinem unsteten leben. Ich leide jedesmal mit und will das nicht mehr.
Ich seh dich sehr gern wieder, aber … Sei vorsichtig. Ich kann mich manchmal selbst nicht leiden, aber auch nicht raus aus meiner haut.
Trotzdem freu ich mich sehr auf dienstag abend. Diego
Isabella(14/8):
Man kann niemand unglücklich machen, der es eh schon vorher war – ich bin es nicht! In diesem Sinne bis Dienstag…
Diego (14/8):
Das ist aber ein schwieriges gleichnis … Da haben wir ja was zu reden am dienstag. Freu mich sehr drauf. D
PS: dein kleid heute war wirklich hinreißend.
Die ersten Irritationen kamen prompt. Geschah ihm recht.
Isabella(14/8):
Danke! Ich hoffe, dass Du eine Frau findest, für diese und kommende Nächte – im Blue Note, nicht ungewöhnlich – wenn, mir auch ganz Recht… 🙂
Diego (14/8):
Das note hat zwar diesen ruf, aber das stimmt nur bedingt.
An sowas hab ich auch kein interesse (mehr). Bin da ein bißchen übersättigt.
Wo bist du grad? Irgendwie hab ich das gefühl, wir könnten heute nacht noch schön an der elbe sitzen und auf das viele wasser schauen.
Isabella(14/8):
Ich liege in meinem Bett, da, wo ich hin gehöre und da bin ich auch gern mal allein…
Diego (14/8):
Ja, war ja nur so eine idee .. Bin wirklich sehr begeistert von dir, hab aber die sorge, was falschzumachen. Schlaf dann mal, mir bleiben die bilder von heute u. d. vorfreude auf dienstag. Das ist ja immerhin was.
Nochmal PS: du hast mich wirklich erwischt mit dem kleid. Hat mir echt den atem genommen.
Verdiente Belohnung für seine Euphorie war ein Abend einige Tage später. Heiße Küsse, wenn auch noch ohne Höhepunkt(e). Dasselbe am nächsten Abend, an dem er sich wirklich wie ein Idiot fühlte. Diego saß mit ihr abends am Fluss, alles war schön, an sich. Aber irgendwie fand er nicht ins Spiel, wie die Fußballfraktion sagen würde. Immer diese Ur-Angst, zurückgewiesen zu werden, das kannte er schon seit der Pubertät. Diego stand sich halt gerne selber im Weg. Traute sich auch kaum, den Arm um sie zu legen, geschweige sie zu küssen. Brachte sie dann irgendwann frustriert nach Hause, nannte sich einen Vollidioten.
Es gibt solche Tage. Zu viele, wie er fand. Aber es wurde verziehen.
Isabella(19/8):
Ich hab Dir noch mal kurz ne Mail geschickt, falls Du noch nicht schläfst, oder noch unterwegs sein solltest… 😉
Diego (19/8):
Danke für sms und mail, das hat mich getröstet. Ich kam mir heute ziemlich tollpatschig vor, war nicht so mein tag. Freu mich aufs nächste mal!
Isabella(19/8):
Ich fand das sehr authentisch und vor allem wichtig: entspannt. 🙂
Diego (19/8):
Naja, gut wenn es so wirkte. Und gut, dass du es so siehst. Schlaf schön, ich merke jetzt auch die lange nacht.
Dann der Abend, an dem sie ihn erhörte.
…
Ab sofort online.
Schneeberg, Ort der Vielfalt
Eine Stadt kämpft um ihren Ruf
„Schneeberg, Ort der Vielfalt“. Doch, das steht da wirklich am Rathaus. Das Leben schreibt die besten Pointen.
Das Schild dürfte schon länger hängen, die Bundesregierung hat manchmal lustige Kampagnen auf Lager. Wer hätte wohl damals beim Anschrauben gedacht, dass das mal eine solche Bedeutung erlangen könnte?
Wer die Vorgeschichte nicht kennt:
Die freistaatlich-sächsische Verwaltung hatte vor einiger Zeit, als es Probleme zwischen verschiedenen Nationalitäten im „Auffanglager“ Chemnitz gab, die an sich gar nicht falsche Idee, den tschetschenischen Teil der Asylbewerber (etwa 500 Menschen, zwei Drittel davon Frauen und Kinder) in die 15.000-Einwohner-Stadt Schneeberg im Erzgebirge zu verlegen, wo es nach dem Rückzug der Bundeswehr mit der Jägerkaserne mehr als genug geeignete Infrastruktur gibt (wen man die bundesdeutsche Art der Unterbringung als sinnvoll ansieht). Nur hielt man es in seiner Borniertheit offenbar nicht für notwendig, Bevölkerung und Verwaltung vor Ort ausreichend und rechtzeitig darüber zu informieren und darf sich nun ein gerüttelt Maß Mitschuld an der zwischenzeitlichen Eskalation geben lassen.
Die Nazis (ich weigere mich, „Neo“ davorzusetzen, ich wüsste nicht, was an denen neu sein sollte) sind gerade in Sachsen dankbar für solche Steilvorlagen. Nächstes Jahr ist Landtagswahl.
Und so kam es am 19. Oktober zu einem von der NPD angemeldeten „Lichtellauf“ mit Fackeln gegen das Asylbewerberheim, wo neben den üblichen Verdächtigen auch ein erschreckend großer Teil der Schneeberger Bevölkerung zu sehen war. „Wir sind das Volk“ soll man auch gebrüllt haben, womit der Bogen vom Reichsparteitag über die DDR-Gründung bis zu deren Auflösung geschlagen werden konnte. Der deutsche Michel ist halt überall dabei.
Zum Glück gibt es in Schneeberg auch noch reichlich Gerechte, und nachdem bereits am Montag danach ein Friedensgebet initiiert wurde, fand am vorgestrigen Sonnabend ein Familienfest in Schneeberg statt, das die Flüchtlinge einbezog und insgesamt von etwa 1.000 Menschen besucht wurde, in etwa so viele, wie auch zum Fackelmarsch gekommen waren.
Und am heutigen (28.10.) Montag dann das zweite Friedensgebet, gefolgt von einer Kundgebung. Es ergab sich günstig für mich, eine ausgefallene Aufführung und ein Diensttermin in der richtigen Richtung versetzten mich in die Lage, mir selbst ein Bild zu machen.
Ich bin nun sehr angerührt von der Ernsthaftigkeit und der Herzensgüte, die heute abend allerorten zu spüren war.
Schon das ökumenische Friedensgebet mit einer geschliffenen Predigt, die sich auf Matthäus bezog („was du dem geringsten meiner Brüder tust“ …) und den klugen Fürbitten war eine bewegende Veranstaltung, die dann noch mit einer Kundgebung vor dem Rathaus gekrönt wurde.
Auch wenn der Vertreter der neuen Initiative „Schneeberg für Menschlichkeit“ sich ein wenig verrannte in seinem Eifer, der Bürgermeister (Frieder Stimpel von der CDU, das geht also auch) strahlte im Anschluss Weisheit aus, nicht mehr und nicht weniger. Und Monika Lazar, grüne MdB aus Leipzig, wies zum Ende noch nach, dass die Schneeberger nicht die Einzigen sind, die von den Nazis instrumentalisiert werden sollen.
Morgen wird es also in Schneeberg die längst überfällige Informationsveranstaltung der Landesbehörden geben, hoffentlich ohne Störungen, und dann? Die Hälfte der Flüchtlinge, so ist zu hören, sei klammheimlich schon wieder nach anderswo verbracht worden. Man könnte glauben, die zuständige Behörde sei NPD-unterwandert, so wie sie denen die Erfolge organisiert.
Und für den Sonnabend ist nun wieder ein „Lichtellauf“ angemeldet.
Man wird sehr genau hinschauen müssen, wer dort marschiert. Dass die sächsische NPD durchaus ein internes Mobilisierungspotential hat, ist bekannt, und sicher sind da auch einige Volksdarsteller darunter.
Aber, was werden die Schneeberger tun?
Wieder mit Kind und Kegel mitlaufen? Aus Angst um …, ja worum? Um den eigenen Partner, die Bodenschätze, die klare Erzgebirgsluft, den Parkplatz, die Südfrüchte bei Netto?
Wer in Schneeberg wohnt und in den letzten Tagen nicht begriffen hat, dass er von den Nazis als nützlicher Idiot gebraucht wird, dem ist nicht mehr zu helfen. Der macht dann nicht gemeinsame Sache mit Volksverhetzern, sondern er (oder auch sie) gehört dazu.
Man sollte es niemandem vorwerfen, beim ersten Mal mitgelatscht zu sein, zumal wenn die Hintergründe einem nicht erklärt wurden. Gott liebt die reuigen Sünder. Aber nochmal: Jetzt ist die Situation eine andere. Niemand kann sagen, ersiees hätte es nicht gewusst.
Schneeberg wird am Wochenende eine wichtige Weiche stellen. Ich hoffe, das ist auch allen bewusst hier. Wenn man einmal den Ruf als „Nazi-Nest“ weg hat, wird man den nur sehr schwer wieder los. Dann bleiben die Busse weg, und das berühmte Lichter-Fest kann man in sehr kleinem Kreis feiern. Die Lichter gehen dann langsam aus, es gibt ein Berggeschrey der anderen Art, und wer ist schuld? Klar, die Ausländer.
Der Bürgermeister hat dann auch noch gesagt, jetzt gehe es erst einmal darum, den Kindern in der Kaserne Spielzeug zu besorgen, für die wäre es nämlich am schwersten im Moment.
OK, irgendwo wird es hier sicher einen Laden geben. Den find ich morgen früh. Denn vom Artikel schreiben allein wird die Welt ja auch nicht besser.
Hamsterrad mit Granaten, waagerecht
„Marathon“ von Aharona Israel, ein Tanz-Theaterstück, Gastspiel im Rahmen der 17. Jüdischen Musik- und Theaterwoche am Societätstheater Dresden, gesehen am 25. Oktober 2013
Wenn man wie ich auf dem geistigen Schoß von Yassir Arafat aufgewachsen ist und das Pali-Tuch zur pubertären Grundausstattung gehörte, tut man sich erst einmal schwer, die israelische Gesellschaft zu begreifen. Ein Land der extremen Gegensätze, zwischen Orthodoxen und dem Strand von Tel Aviv, mehr und mehr von einem russischen Jungbrunnen aus Menschen gespeist und von den allgegenwärtigen Bomben und Raketen mühsam zusammengehalten? Vielleicht auch.
Ich weiß viel zu wenig über die „Palästina-Frage“, über Jerusalem oder die Golanhöhen, um mich hier eindeutig positionieren zu können. Aber über die Menschen in Israel, da weiß ich seit heute einiges mehr.
Aharona Israel, Choreographin und Performerin, inszeniert ihren „Marathon“ als ewigen Lauf im kleinen Kreis, ohne Pause, nur unterbrochen von Kommandos, Change! für den Richtungswechsel, Hora! für den Tanz, Schickse! angesichts eines unziemend daherkommenden Mädchens, Aufrecht! für die Haltung, Granate! für das, was allgegenwärtig ist.
Am Start: Ein junger Mann mit aus der Kindheit stammendem Scheidungstrauma, eine orthodox erzogene junge Frau, die dann doch lieber tanzt als zur Armee zu gehen und ein russischer Einwanderer mit abgöttisch geliebtem Sohn, der nicht russisch sprechen darf, weil seinen Vater das Heimweh plagt. Eine Avocado ist nun mal keine Kartoffel.
Am Anfang sind alle voller Disziplin und Aufopferungsbereitschaft in dieser Gesellschaft unter permanentem Druck, doch man merkt schnell, wie dicht am Wahnsinn das alles hier gebaut ist. Wir wandern, nein rennen durch den Psychosengarten. Das Mädchen will eine vorbildlich trauernde Schwester sein und schafft es doch nicht, der Junge beginnt nach dem Sinn des Ganzen zu fragen und lebt in seinen Alpträumen, dem Vater steht „njet“ in der Hand geschrieben. Kaputt das alles, am Ende sieht man es auch deutlich. Die Bewegungen werden langsamer, ersterben fast.
Dann gehen die Zuschauer, einer nach dem anderen, überlassen die Protagonisten ihrer Welt, die aus einem waagerechten Hamsterrad besteht, mit Granaten.
Das ist nicht nur großartig gespielt, das ist hervorragend getanzt und einen ergreifenden Text hat es außerdem. Die drei Darsteller – deren Namen das Programm leider nicht verrät – zeigen nicht nur sportliche Höchstleistungen, sie bringen uns die Israelis nahe, ganz nahe.
Ein phantastischer Abend.
Der Kot Napoleon
„Du bist tot!“
Als Kinder haben wir das gerufen, wenn wir Krieg gespielt haben. Manchmal fiel der andere dann wirklich um, manchmal war er auch der Meinung, er sei schneller gewesen beim Ziehen. Dann musste das geklärt werden. Bis einer heulte.
Beim „Re-Ennactment“ dürfte dieses Problem nicht auftreten, die Sache ist streng durchchoreographiert. Erwachsene Menschen (allermeist Männer) kleiden sich in die Waffentracht einer vergangenen Zeit und geben lebend Bilder.
Ich hoffe, dass sie drunter etwas Moderneres tragen, aus dem Sanitätsfachhandel, falls doch mal was abgeht dabei, vor Angst oder vor Lust. Wäre doch schade um die teure Uniform.
Der Mensch kriegt ja vieles fertig, früher ließ er seinesgleichen gegen Löwen kämpfen wegen dem Unterhaltungswert, verbrannte seinesgleichen auf Scheiterhaufen, wenn rote Haare grad mal nicht in Mode waren, rottet(e) seinesgleichen auch stammweise aus, wenn die auf Land herumlungerten, das einem höheren Zwecke bestimmt war.
In diesem Kontext fallen ein paar Deppen, die die Schlachten vergangener Tage folkloristisch und keimfrei nachschlagen, kaum ins Gewicht.
Dem Bauernjungen aus einem der vielen sächsischen Friedersdorf damals, der auf dem Feld der Ehre verreckte, dürfte relativ egal gewesen sein, für wen er das tat (historisch gesehen – was gerne vergessen wird – für Napoleon). Trotzdem kann man es ihm posthum nochmal spielerisch erklären, es fallen doch auch sonst so viele Säcke Reis um.
Aber man kann das Spektakel natürlich auch mit „heutigen“ Maßstäben messen, moralischen, mein ich. Und da stellt sich mir schon die Frage, welch Geistes Kind die Leute sind, die bekunden, „hier nur einfache Soldaten zu sein“ und damit die Aussage zu Sinn und Zweck des Ganzen verweigern.
Ist der Mensch dann doch ein Lemming? Fühlt er sich in einer Herde am wohlsten, wo man selber nicht mehr denken muss? Ist das der Ur-Trieb von uns allen?
Dann wäre das Modell aber ausbaufähig. Warum nicht mal das Ertrinken vor Lampedusa nachstellen, Markkleeberg hat doch jetzt schöne Seen? Oder das Schlachten einer Herde Rindviecher, bei Tönnies in Weißenfels? Auch die amerikanisch-mexikanische Grenze bietet schöne Schauplätze, vielleicht gibt es ja noch einige Mauerreste zum Bespielen.
Und die vielen schönen Jubiläen der nächsten Jahre, 75 Jahre Stalingrad, 100 Jahre Verdun, auch der Genozid an den Armeniern oder der in Deutsch-Südwestafrika bedarf einer reenactischen Aufarbeitung. Guido Knopp hilft bestimmt gerne.
Man sollte hier aber keine Verbotsdebatte führen. Zwar ist Kriegsverherrlichung eine Straftat, aber der Verein wird so clever sein, sich nicht dabei erwischen zu lassen. Und das sind doch alles unbescholtene Bürger, die haben eben einfach zu viel Zeit. Und zu wenig Hirn.
Auch wenn der historische Kontext nur halbwegs korrekt ist: Ich wünschte, es würde Nacht oder die Preußen kommen. Mit echten Kanonen.
Schrecklichschön / Schön schrecklich
„Kellerkinder extended – Morbide Moritaten“, eine Produktion des Emsemble La Vie, (dann doch) Premiere im Projekttheater Dresden, 12. Oktober 2013
Es wird viel gelitten auf der Bühne – oder auch geleidet – gestöhnt, geheult, getrotzt, gebösartigt, selbst gebrochen, vulgo gekotzt.
Im Saale eher weniger: Dort ist man spätestens nach der zweiten Ballade hin und weg. Am Ende werden die vier da vorne förmlich gezwungen zur zweiten Zugabe. Geschieht ihnen recht.
Eine delikate Sammlung, ein Potpourri „von großer Oper bis dreckigem Punk“, mit Kleinoden der Unterhaltungskunst der letzten Jahrhunderte. Bekanntlich gibt es keine Sterne in Athen, und eine schwere Kindheit kann auch den Start in ein erfülltes Berufsleben bedeuten. Aus einem gebrochenen Zentralorgan werden dann auch mal zwei, die Kraft der zwei Herzen, wie es in der Werbung im ZDF heißen soll.
Paul Voigt und Benjamin Rietz sind das Orchester, das nicht nur den Rahmen bildet, sondern auch selbst zum Frohsinn beiträgt, hollodihi, hollodihi, du wolltest dir doch bloß den Abend vertreiben.
Christin Wehner wischt sich öfter tapfer die Tränen aus dem Gesicht und singt, nein spielt dann Unglaubliches. Selbst wenn sie nach dem Willen der Ärzte durch ein Monster ums Leben gebracht wird, ist das ein schöner Tod. Und wenn Mr. Paul McCartney das gehört hätte, würden die bunten Blätter bald was zu berichten haben.
Ihr Partner / Peiniger / Retter René Rothe ist ein Held in Jogginghosen, der schönste Mann in ganz Prohlis-Nord. Und ein Charmebolzen dazu. Der Beruf des Regisseurs mag ein ehrbarer sein, aber … „diese Mann geherrt auf Biehne“!
Der Berichterstatter kam zur unverdienten Ehre einer Premiere, die eigentliche fiel krankheitsbedingt aus am Vortage. Manchmal hat man eben auch Glück.
Morgen nochmal, am 13. Oktober 2013, 20.00 Uhr, Projekttheater, Louisenstraße 47, 01099 Dresden. Neustadt!
Das ist keine Empfehlung, das ist ein Befehl.
Und dann nie wieder? Kann, will ich mir nicht vorstellen.
PS: Ab jetzt auch in der seriösen Presse zu lesen:
http://www.kultura-extra.de/theater/feull/performance_kellerkinder_ensemblelavier.php
Stellt Euch nicht so an.
Die aktuelle Debatte, wer wohl mit wem koalieren könne, aber nicht dürfe, erinnert mich sehr an die Lebenswirklichkeit von Mittvierzigern bei der Partnersuche.
Ja, man kommt alleine schon gut zurecht, man hat sich arrangiert, und die in den letzten Jahren gesammelten Anhängsel und Psychosen verhalten sich auch meist friedlich. Aber so ganz allein ist es auch doof, man prüft halt gelegentlich doch mal die Optionen.
Gut, die Zeit der Schmetterlinge ist vorbei, es wird wohl eher eine Vernunftsentscheidung werden. Und da ist ja soviel zu bedenken …
Klar, den Mittzwanziger mit dem Waschbrettbauch und der Leistungsfähigkeit gegen unendlich wird man nicht mehr kriegen auf Dauer, in realistischen Momenten sieht man das auch ein. Doch was bleibt da noch?
Die potentiellen Partner haben auch alle ihre Macken, ihren Bierbauch, ihren Anhang und manchmal sogar eine eigene Meinung. Doch nun kommt es darauf an, Gemeinsamkeiten auszuloten, ohne sich selbst aufzugeben. In der Politik nennt man das wohl Koalitionsverhandlungen.
Zunächst muss man sich klar darüber werden, was man selber eigentlich will und was gar nicht. OK, der Partner sollte die Kinder nicht schlagen, weder die eigenen noch die seinen. Und er sollte bitte auch keinen SUV fahren. Er sollte möglichst regelmäßig Geld verdienen, ok, Künstler geht auch, wenn das anderweitig kompensiert wird.
Der Tagesablauf sollte schon irgendwie zusammenpassen. Wenn sie gerne gegen Vier nach Hause kommt und er um Sechs aufstehen muss, sind das nicht die besten Voraussetzungen für eine Art Familienleben.
Wofür man das bißchen Geld ausgibt, was übrigbleibt, sollte auch vorher diskutiert werden. „All you can anything“ in Antalya oder doch eher Ferien auf dem Bio-Bauernhof?
Natürlich muss man auch über Treue reden, körperliche und geistige. Doch da gibt es so viele Modelle …
Und dann bleibt immer noch Platz für wirklich wichtigen Fragen, ob der Klodeckel oben bleibt oder runter muss und ob nur auf dem Balkon geraucht werden darf oder gar nicht.
Da gibt es so viel zu besprechen. Aber man kann natürlich auch sagen, der hat einen Anzug an, das geht gar nicht. Oder: Die hat Löcher in den (zugegebenermaßen schicken) Strumpfhosen, was soll denn die Verwandtschaft sagen. Das ist einfach. Dann bleibt man halt alleine.
Und besonders schwierig wird es, wenn einer der potentiellen Partner einen Schwererziehbaren mit einbringt, der eigentlich erwachsen sein sollte, aber dann doch irgendwie geistig in der Pubertät hängengeblieben ist.
Und natürlich kann man, wenn man sich auf diese Diskussion dann doch einlässt, am Ende immer noch resümieren, nee, es war ein Flirt, mehr nicht. Dann geht das Leben auch irgendwie weiter. Ging ja vorher auch.
Aber man muss es doch wenigstens versucht haben, Peggy Sue?
PS: Die Kinder würden – simpel wie sie sind – sicher sagen: Versucht es doch einfach.
Das verlegene Lächeln der Minderheit
„100 Prozent Dresden“, eine Produktion von Rimini-Protokoll am Staatsschauspiel Dresden am 14. September 2013 (Premiere)
Man kennt sich im Saal, heute noch mehr als sonst. Einhundert Dresdner werden auf der Bühne stehen, die haben ihren Anhang mitgebracht, und in unserem Dorf kennt ohnehin jeder jede über drei Ecken. Wir sind also ganz unter uns.
Am Anfang fränkelt es mächtig, die Chefin des statistischen Landesamtes erklärt die Regeln. Sie macht das sehr souverän, ein paar schöne Spitzen hat sie dabei, insgesamt ist das aber viel zu lang gehalten.
Es wurden also per „Kettenreaktion“ (jede bestimmt ihren Nächsten) Menschen ausgewählt, die Dresden repräsentieren sollen. Dann der Einzelauftritt, jeder hat ein paar Worte zu sich zu sagen, das zieht sich über fast eine halbe Stunde, ist mal witzig, mal albern, auch mal ziemlich peinlich. Im Selbstmarketing ist nicht jeder bewandert, „von Beruf Verschiedenes“ bleibt bei mir hängen, auch die Tupperware-Dealerin und die Vielzahl der Rentner. Eine gute Idee ist es, den fehlenden alten Klotzscher Mann mit einem Schauspielstudenten zu besetzen, 68, NPD, Modelleisenbahn im Keller, einige Leichen vielleicht auch.
Dann die Fragen, von je einer aus der Mitte gestellt, die Gruppe der 100 gibt dazu lebende Bilder. Optisch ist das nett, schön beleuchtet und abgefilmt, aber … irrelevant. Dresden in Zahlen halt. Und, liebes Rimini-Protokoll, fragt bitte mal bei der Bürgerbühne, wie man Laien-Akteure auf der Bühne vor sich selber schützt. Oder geht Euch der Effekt über alles?
Hängen bleibt bei mir der Ausländeranteil in Dresden: Gefährliche fünf Prozent. Ich erkenne, dass wir kurz vor der Überfremdung stehen und stimme insofern dem Klotzscher Wittwer zu.
Manchmal blitzen bei den einzelnen Fragen Geschichten auf, versinken aber sofort wieder in der Beliebigkeit. Das mit dem Tagesablauf ist hübsch, aber austauschbar. Der Herr Dozent muss nachts raus zum Pullern, aha. Dennoch gehört die Szene zu den Besseren des Stücks.
Wenn Relevanz aufkommt, dann hat das mit Sozialem und Persönlichem zu tun. Es gehört Mut dazu, sich als „Hartzer“ zu bekennen, die Ex-Drogenabhängige erntet einen verdienten und herzlichen Beifall, als sie von ihrem Ausstieg erzählt, und auch, sich nicht zu den Heteros zu stellen, ist schwieriger als man glauben mag. Doch diese Momente bleiben leider Ausnahmen.
Eine Frage geht dann auch noch schief, und die Kriegsdefinition von Rimini-Protokoll ist offenbar dergestalt, dass Deutschland dabei sein muss, sonst gilt das nicht als Krieg. „Ich hab die Frage nicht verstanden“, mein Lieblingssatz des Abends.
Anonym tut dem Inhalt gut, clever gelöst mit Dunkelheit und Taschenlampen. Fast alle haben schon mal geklaut. Ja. Ich auch. Ich hätte mir aber auch noch ein paar andere Fragen vorstellen können.
Dann spielen die Bagels, was sicher auch einen Grund hat. Aber sie machen das gut.
Ich ertappe mich dabei, immer öfter auf die Uhr zu sehn. Jetzt ist „Open Mic“, jeder darf fragen, was sie will, selbst das Publikum. Kurzbeschreibung: albern, belanglos, peinlich, doof.
Dann ein Liegestützwettkampf auf der Bühne, hossa, man muss das Muskelpaket also nicht nur rechts haben, sondern auch links.
Geht es noch schlimmer? Ja. Mann darf den Hintern ins Publikum halten. Aufhören!!!
Ein Rettungsversuch mit der Visualisierung von Randgruppen, na gut, das ist sehenswert. Dann ist Schluss, ein tosender Applaus, Dresden feiert mal wieder sich selbst.
Für die 100 auf der Bühne mag das eine tolle Erfahrung gewesen sein, für einige vielleicht auch eine gute Therapie. Für die Freunde und Bekannten davor sicher ein Höhepunkt, den Lieben mal auf der großen Bühne zu sehn.
Für Rimini-Protokoll ist es die finanziell erfolgreiche, routinierte Umsetzung eines bewährten Geschäftsmodells (Start war 2008 in Berlin, seitdem tingelt man durch die Welt, Dresden ist die 15. Station), da bemüht man sich offenbar nicht mal auf die Bühne zur Premiere.
Das Ganze funktioniert theatertechnisch (ich schreibe hier bewusst nicht „künstlerisch“) aber nur, weil da oben so viele sind, die da unten noch so viele mehr kennen. Das reicht für vier gut gefüllte Vorstellungen.
Für den gewöhnlichen Zuschauer ist es ein belangloser Abend.
