Kategorie: Kultur
Das Schweigen des Lamms macht Angst
Neuerdings öfter mal in seriösem Rahmen.
http://www.kultura-extra.de/theater/feull/besprechung_yvonne_ght.php
Die Wahrheit ist hart, Mann!
Schrecklichschön / Schön schrecklich
„Kellerkinder extended – Morbide Moritaten“, eine Produktion des Emsemble La Vie, (dann doch) Premiere im Projekttheater Dresden, 12. Oktober 2013
Es wird viel gelitten auf der Bühne – oder auch geleidet – gestöhnt, geheult, getrotzt, gebösartigt, selbst gebrochen, vulgo gekotzt.
Im Saale eher weniger: Dort ist man spätestens nach der zweiten Ballade hin und weg. Am Ende werden die vier da vorne förmlich gezwungen zur zweiten Zugabe. Geschieht ihnen recht.
Eine delikate Sammlung, ein Potpourri „von großer Oper bis dreckigem Punk“, mit Kleinoden der Unterhaltungskunst der letzten Jahrhunderte. Bekanntlich gibt es keine Sterne in Athen, und eine schwere Kindheit kann auch den Start in ein erfülltes Berufsleben bedeuten. Aus einem gebrochenen Zentralorgan werden dann auch mal zwei, die Kraft der zwei Herzen, wie es in der Werbung im ZDF heißen soll.
Paul Voigt und Benjamin Rietz sind das Orchester, das nicht nur den Rahmen bildet, sondern auch selbst zum Frohsinn beiträgt, hollodihi, hollodihi, du wolltest dir doch bloß den Abend vertreiben.
Christin Wehner wischt sich öfter tapfer die Tränen aus dem Gesicht und singt, nein spielt dann Unglaubliches. Selbst wenn sie nach dem Willen der Ärzte durch ein Monster ums Leben gebracht wird, ist das ein schöner Tod. Und wenn Mr. Paul McCartney das gehört hätte, würden die bunten Blätter bald was zu berichten haben.
Ihr Partner / Peiniger / Retter René Rothe ist ein Held in Jogginghosen, der schönste Mann in ganz Prohlis-Nord. Und ein Charmebolzen dazu. Der Beruf des Regisseurs mag ein ehrbarer sein, aber … „diese Mann geherrt auf Biehne“!
Der Berichterstatter kam zur unverdienten Ehre einer Premiere, die eigentliche fiel krankheitsbedingt aus am Vortage. Manchmal hat man eben auch Glück.
Morgen nochmal, am 13. Oktober 2013, 20.00 Uhr, Projekttheater, Louisenstraße 47, 01099 Dresden. Neustadt!
Das ist keine Empfehlung, das ist ein Befehl.
Und dann nie wieder? Kann, will ich mir nicht vorstellen.
PS: Ab jetzt auch in der seriösen Presse zu lesen:
http://www.kultura-extra.de/theater/feull/performance_kellerkinder_ensemblelavier.php
Die Nacht der heruntergelassenen Hosen
„Lulu“ von Frank Wedekind, Regie Nuran David Calis, (Zweit-) Premiere am Schauspiel Leipzig, 11. Oktober 2013
Hier hebt sich ein Vorhang! Schon ewig hab ich das nicht mehr gesehn.
Er gibt den Blick frei auf eine von Sichtbeton umgebene Bühne (Irina Schicketanz), in der Mitte eine Art Vitrine, vielleicht auch ein Terrarium, in welchem eine Frauengestalt unbeweglich verharrt. Im Hintergrund kleine Fensterchen, wie man sie – wenn man das kennt – aus Etablissements kennt, in jedem ein Gesicht. Eine Kamera steht auch noch herum. So weit, so interessant.
Und es beginnt bedeutungsschwer mit einem Chorus. Auftritt Maler Schwarz (Tilo Krügel), mit Whiskey und Aschenbecher, klar, man ascht hier nicht auf die Bühne. In den Kabinen im Hintergrund beginnt man zu wichsen. Passiert doch noch gar nichts?
Der Auftragsmaler leidet Tantalusqualen bei seinem Modell, nachvollziehbar. Es trägt allerdings zum Verständnis der Handlung deutlich bei, wenn man das Stück kennt. Mal wieder eher fürs Feuilleton als fürs Publikum …?
Und sie bewegt sich doch. Lulu verlässt ihr Gehäuse, etwa zeitgleich betritt ein erdnussfressender Dr. Schön, der Maitre de Plaisir, die Bühne. Die Vitrine für die Dame ist eine lustige Idee, nur die Tanzstange fehlt mir. Und warum hat die so ein Gummidings aus dem diskreten Versandhandel unterm kurzen Kleid? Darf man in Leipzig nicht mehr nackt sein?
Lulu aka Mignon aka Nelly hat eine schöne Stimme und ein ideales Fernsehgesicht. Eine Weile verweilt die Kamera auch dort, bevor sie sich südlicher orientiert und das heute Wesentliche fokussiert. Das Ganze ist übrigens schön gemacht, rechts das Original, links die Projektion, die allerdings zwei Zehntel Sekunden nachhängt. Das sind so Feinheiten …
Die Handlung ist wirr, es wird auch wenig gespielt. Dr. Goll (Matthias Hummitzsch) als amtierender Gemahl der Lulu wird hinten abgemurkst, von Schwarz offenbar, im Fahrstuhl. Derer vier säumen die Bühne, auch das ein schöner Einfall.
Dann ein Dialog des Schwarz mit dem Abbild der Lulu, sieht sich gut an (Video Kai Schadeberg). Jene hat bis dato vor allem die Aufgabe, hinreißend auszuschauen, was ihr vollends gelingt.
Des Malers Irrsinn versteht man nicht recht, die Darstellung bleibt blass. Das Terrarium wird geflutet, nun ein Planschbecken mit warmem Licht drumrum. Er kommt in Sockenhaltern, ein kurzes Idyll mit Kindfrau.
Doch der Nächste (Michael Pempelforth) bitte, er sieht aus wie Lindner von der FDP, soll aber ihr (vorgeblicher) Stiefvater sein, unglücklich besetzt, sag ich mal. Er erteilt Kosmetikberatung, ist überzogen rührselig, übersteuert.
Wieder taucht Dr. Schön (meist hervorzuheben: Hartmut Neuber) auf. Auch hier fallen bald die Hosen, eine Nummer im Stehen, zum Dank gibt es Whiskey auf den Schwanz. Die Sache nimmt ein wenig Fahrt auf, trotz der Skurrilitäten lässt sich das gut ansehen. Auch der Maler wird besser.
Zum Dank muss er ins Gras beißen, nach der Kamerabeichte, viel Blut im Fahrstuhl. Doch was muss sich Dr. Schön da am Gemächt fummeln? Ornö … Es ist doch auch so ein starkes Bild.
Sein Sohn Alwa (Sebastian Tessenow ebenfalls gut) versucht die Spuren zu beseitigen, mit Wasser aus dem Planschpool. Lulu zieht sich derweil die Lippen nach für die nächste Runde.
Das schöne Spiel, das Schöne-Spiel, zum Vierten. Wer will nochmal, wer hat noch nicht? Sohnemann erntet erst einen Tritt in die Eier, erhält dann aber doch eine Dienstleistung. Ein Schwanz hängt aus der Wand.
Auch hier Hosenfall, auch hier Sockenhalter. Das Stück verliert an Tempo und Qualität.
Dann Spaß im Glas mit Dr. Schöne. Sockenhalters (klar!) Obsessionen, Hassliebe, lieber Hass, Engel links, Teufel rechts. Aber ein schwacher Monolog von Lulu, und warum Schöne alle Souveränität fahren lässt und fortan im Sadomasostyle an der Krawatte herumgeführt wird, kann man bestenfalls erahnen, aber man sieht es nicht. Aus dramaturgischen Gründen hängen dann zwei Schwänze aus der Wand. Fast folgerichtig knallt die erste Tür im Parkett.
Schön und Lulu sind nun geheiratet, warum und wer wen auch immer. Jemand in kurzen Hosen kommt, es gibt einen reich bebilderten Beitrag zur Missbrauchsdebatte. Hm. Dann ist ein großes Kriechen auf der Bühne, Schön hat auf einmal Lulus Pistole im Mund und gräbt sich im Schritt. Ach. Nur selten blitzen große Szenen auf, das Meiste vergisst man in dieser Phase schnell.
Irgendwie scheint er dann doch zu Tode gekommen zu sein.
Auftritt von Sparkassenmännern. Sie legen ab, Lulu ist in neuem Fummel. Es wirkt wie Mittagstisch im Swinger-Club, ist halt lediglich eine Dame dabei. Nachher acht Kerle im Glas, das ist lustig und sehenswert. Und draußen viel Arbeit für Lulu an sieben Geräten. Ein schönes Bild, wenn man das mag.
Am Ende ist sie wieder und nur noch Objekt, erst Edel-, dann nur noch Nutte, ein trauriger Klampfer läutet den letzten Akt ein.
Jungfrau-Aktien werden ausgegeben, doch es bleibt undurchsichtig, was das heißen soll. Ein Porno-Filmchen wird gedreht, schräg, Lulus Verfall wird sichtbar. Und nochmal von hinten, mit Tekkno.
Die Horde gebraucht sie, verbraucht sie. Benutzung, Abnutzung, ja, wir haben es begriffen, ein Bild weniger hätte es auch getan. Und immer wieder der Griff in die eigene Hose, da haben einige wohl zu viele schlechte Filme gesehen.
Dennoch, die letzten Minuten reißen einiges raus. Lulu rettet sich vorerst in ihre Vitrine, doch ihr Blut fließt schon. Noch einige kleine Kunstwerke in bewegten Bildern, the Ripper kommt wie ein Erlöser. Nach zwei Stunden fährt der Vorhang lärmend herunter.
Den Schlussapplaus nehmen die Schauspieler in alten Bademänteln entgegen.
Wedekinds Hauptwerk ist ohnehin unkaputtbar, und Calis fügt eine Variante hinzu, die man mögen kann, aber nicht muss. Großartige Szenen wechseln sich mit großer Langeweile ab, Berührendes mit (viel) Bemühtem. Runa Pernoda Schaefer in der Titelrolle glänzt außerhalb der Monologe, wenn sie da noch den richtigen Ton trifft, kann das eine große Rolle werden. Das ganze Ensemble respektabel, aber – halten zu Gnaden – im Schnitt doch einen halben Ton unter der Dresdner Garde.
Das Programmheft übrigens (auch angesichts der 3 Euro, die man dafür haben wollte), sehr übersichtlich, rein gar nichts zu den Schauspielern. Das wünsch ich mir besser.
Man sollte vielleicht noch wissen, dass es sich um eine Second Hand – Premiere handelt: Enrico Lübbe hat sie aus Chemnitz mitgebracht, dort debütierte die Aufführung am 8. Juni diesen Jahres. Das ist legitim, nur könnte man das vielleicht etwas deutlicher kenntlich machen.
Das Gesamturteil? Ein klares Unentschieden.
Die Theatervölkerschlacht zu Leipzig
Ein Ferndiagnose
Da hat es also einen geräuschvollen Intendantenwechsel gegeben in der alten Kaufmannsstadt: Der Alte hat nicht mehr wollen sollen, der Neue wurde sehr rumpelig ins Amt gehoben.
So weit so schlecht, das kommt schon mal vor. Aber was da nun abgeht … man kann sich im beschaulich-barocken Dresden (das hiesige Theater nehm ich ausdrücklich aus von dieser Zueignung) nur wundern.
Da rüsten die verbliebenen harten Männer zum Sturm auf die Bastei von Lübbe, kaum das diese errichtet ist. Da wird gegen einen frischen Intendanten geholzt, dass es nur so kracht. Da kartätschen die Verteidiger aus allen Rohren und kippen Kübel voll Stinkendem über die Angreifer.
Ich halte mich inhaltlich erstmal raus. Weder habe ich sonderlich viel von Herrn Hartmanns Centraltheater gesehen (das, was ich sah, war aber sehr anregend), noch kenne ich Herrn Lübbes frühere Arbeit in Chemnitz und die aktuellen Leipziger Inszenierungen. Letztere wirklich „noch“, das ganze Getös macht schon neugierig.
Aber zum Stil erlaube ich mir einige Anmerkungen:
Nachtkritik.de ist ohnehin nicht für pfleglichen Umgang miteinander bekannt, doch diese Debatte toppt alles. Positiv ausgedrückt: Das Theatervolk ist bewegt und gibt dieser Bewegung auch Ausdruck. Nur … muss es unbedingt auf diese Art sein?
Es ist selbstverständlich legitim, sein „Bravo – ganz ohne Einschränkungen“ zur Emilia zu posten, ebenso wie ein „größte Katastrophe, der ich je beiwohnen durfte“. Aber dann geht es ans Eingemachte: Der Kritiker kann gar nicht objektiv sein (welcher ist das schon?), er gehörte ja zur Findungskommission, deren Empfehlung man nicht folgte (was schon ein seltsamer Vorgang ist). Und die Gegenseite dreht das Argument natürlich um. Und es wird reichlich nachgetreten, das schöne Wort „Theaterkampf“ erblickt das Licht der Kommentare. Peinlich, das Ganze.
Aus meiner wirklich neutralen leipzigfernen Sicht:
Selbst der Kritiker ist ein Mensch und damit fehlbar. Ihm Böswilligkeit zu unterstellen, weil er Haare in der neuen Suppe findet, ist albern und entspringt einem seltsamen Lagerdenken.
Vielleicht sollte das Schauspiel Leipzig künftig die Besucher in Fanblocks sortieren? Hartmann-Ultras ganz links (von der Bühne aus gesehen), Lübbe-Jünger so weit entfernt wie es geht. Und dazwischen der kleine Block von Leuten, die einfach nur Theater sehen wollen, um sich damit auseinanderzusetzen und ja, gottverdammtnochmal, sich auch mal unterhalten lassen wollen.
Trotz alledem: Nach diesen drei, vier tollen Tagen wird das Leben selbst in Leipzig irgendwie weitergehen. Man wird beobachten können, ob und wie sich die neue Mannschaft findet. Der Start war offenbar nicht der Beste, aber – um hier mal einige Plattitüden anzubringen – eine Intendanz dauert fünf Jahre. Und die Bühne ist meist rund. Und Tor ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. Letzterer ist übrigens das Publikum.
Derweil werden noch viele Säue durch die Nachtkritik getrieben worden sein. Und Leipzig wird wieder das sein, was es immer war: Ein Theater irgendwo in Mitteldeutschland, nicht ganz groß, aber auch nicht ganz so klein.
Übrigens, dieser kleine Seitenhieb sei mir als Landeshauptstädter gestattet: Am selben Abend, als „Emilia Galotti“ in Leipzig durchfiel bzw. reüssierte, gab es in Dresden eine Premiere gleichen Namens, die über jede Kritik erhaben zu sein schien.
Jeder gegen alle
„Adieu, Herr Minister“ von Jordi Galceran, Regie Peter Kube, gesehen zur Premiere am Theaterkahn Dresden am 4. Oktober 2013
Am Anfang ein frischgebackener Ex-Minister, vormals Hoffnungsträger der regierenden Partei, eloquent und durchsetzungsstark, nunmehr mit dem vollsten Vertrauen von Mutti bestraft, heute morgen zurückgetreten. Gestolpert ist er über eine Lappalie, ein Haus, das ihm einer gebaut hat, der sich wohl etwas davon versprach. Aufgedeckt das Ganze von einem Schmierfinken, der ihm gleich auch noch die Frau ausspannte.
Gut, das mit der Gemahlin kann er verschmerzen, aber am Amte hat er doch sehr gehangen. Folglich ist seine Pistole geladen mit dem allerletzten Schuss, als es plötzlich klingelt.
Am Ende derselbe Mann als glücklich Liebender, auf dem Sprung in ein neues Leben mit der Traumfrau, weit weg von hier und allen Kabinettssitzungen. Oder doch nicht? Es bleibt spannend bis zum letzten Satz.
Und dazwischen eine turbulente Komödie über betrogene Betrüger, über Schein und Sein, über die Liebe oder das, was man dafür hält.
Es verbietet sich, die Handlung zu erzählen; sie trägt das Stück und ich gönne allen das halbe Dutzend Überraschungen, die hier zu erleben sind.
Im Programmheft erfährt man leider wenig über Stück und Autor, schade. Doch Ecosia hilft weiter: Galceran, 64 in Barcelona geboren, ist auch Autor der „Grönholm-Methode“, die hier am Sozietätstheater läuft und läuft und läuft. Sein Stück „Fuga“, wie es im Original heißt, stammt aus 2009, die deutsche Erstaufführung war erst vor drei Wochen in Darmstadt. Brandheiße Ware also.
Und die aktuelle Besatzung des Theaterkahns macht was draus: Beate Laaß als Opfer und Täterin überzeugend, Cornelia Kaupert als Nuttchen, das nur ihre Arbeit machen will (auf den ersten Blick), Dietmar Burkhard, der seiner Sitzrolle ein Standing gibt und Paul T. Grasshoff, der dem prügelnden Ehemann und Profi-Killer lustvoll jedes Klischee überhilft bilden die Front, an der sich Frank Sieckel als Minister abkämpft, aufreibt und am Ende (fast) triumphiert. Jener ist am besten, wenn er spielt, dass er spielt, da feiert der Saal. Das haben sie alle schon gesehen, auch wenn Ähnlichkeiten mit lebenden Personen natürlich rein zufällig sind.
Eine unterhaltsame, schwungvolle Komödie, zeitlos und gar nicht irrelevant. Ich rate zum Anschauen.
Das Auge! Das Ohr!
„Die Nase“, nach der Novelle von Nikolai Gogol, Inszenierung der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden, Regie Miriam Tscholl, musikalische Leitung Michael Emanuel Bauer, Premiere am 28.09.2013
Ein szenisches Konzert? Oder ein Ballett dieser Art? Eine Burlesque, ein Bürgerchor? Video-Kunst? Ein Comic mit Menschen? Ein atonales Ereignis? Clownerie? Großes Kino? Ein Singspiel? Eine Farce? Ein Dramolette? Eine Semi-Opera? Gar ein Hörspiel unterm Theaterdach? In Momenten auch ein Wutstück?
Eine quietschbunte Revue, das auf jeden Fall. Und Schwerstarbeit für die Technik, das auch.
Miriam Tscholl hat einen Parforce-Ritt durch alle Genres organisiert und nennt das bescheiden ein Musikspiel. Gogols „Nase“, jene absurd-komische Parabel vom Verlust der eigenen Nase und damit auch der Identität, bildet die Vorlage und den Handlungsrahmen. Aber das Stück ist weit mehr, ein Monument der Spiel- und Sangesfreude, der überbordenden Lust am (Sich-) Ausprobieren, ein neues Flaggschiff der Bürgerbühne.
Die grellen Kostüme und teils auch die Frisuren lassen einen an die Siebziger denken, YMCA-hej. Doch gegen Ende kommen Klamotten (Sabine Hilscher) und Darsteller (zehn an der Zahl, ich verbiete mir, jemanden herauszuheben) im Heute an. Wiederum geniale Video-Schnipsel von Sami Bill, Breitband-Musik von Michael Bauer (auch wenn Parov Stelar manchmal stark durchschimmert), dramaturgisch geschickt verbunden von Julia Weinreich, die auch das lesenswerte Programmheft (u.a. mit einem schönen Zitat aus Süskinds „Parfüm“ und einer schlüssigen Erklärung, warum die Nase eigentlich die Identität ist) verantwortet, auf einer zurückhaltend-schlichten Bühne von Katja Turtl und zusammengefügt von „Miss Spielfreude“ Miriam Tscholl, die wieder nicht das Letzte, sondern das Beste aus ihren Akteuren herausholt.
Verzichtbar höchstens die unvermeidlich scheinenden Mundart-Einlagen. Ansonsten ein Genuss für alle Sinne, vom olfaktorischen vielleicht mal abgesehen.
Wer einmal einen Abend richtig gute Unterhaltung oberhalb der einschlägigen Samstagabendshows der verschiedenen Glotzen genießen möchte, möge sich an die Kasse des Staatsschauspiels Dresden wenden, dort wird ihm geholfen.
(erscheint in Kürze – so Zeus will – auch auf livekritik.de)
Schöner sterben mit Budur
Diesmal auf diesem Wege:
http://www.kultura-extra.de/theater/feull/urauffuehrung__fastganzneu_staatsschauspieldresden.php
Vive la Guerre, der Tee ist fertig
„Krieg am Biscuit oder Schlacht ab 8“, theatrale Lesung der projekttheater all-stars im gleichnamigen Haus, gesehen am 21.09.13 (Erstaufführung)
Was für ein Kontrast! Gestern noch Soldaten in Afghanistan mit zerfetzten Eingeweiden im Kleinen Haus, heute das Gabelfrühstück der Generäle. Aber es geht um dasselbe: Es geht um Krieg.
Das Projekttheater hat auch ein Wahlprogramm: Ein fast vergessenes Stück von Boris Vian von 1951 wurde adaptiert, neu interpretiert und in einer theatralen Lesung auf die Bühne gebracht. Eine herrlich absurde Komödie, bei der einem irgendwann das Lachen im Halse verreckt.
General Audubon James Wilson de la Petardiere, Chef des Generalstabs, hat sich gut eingerichtet im Frieden, er bewohnt mit maman, die ihm in allen Lebenslagen zur Seite steht, eine großbürgerliche Villa in Paris und freut sich an seiner schmucken Uniform und dem heimlichen Pernod-Genuss.
Da kommt plötzlich dieser Zivilist, Ministerpräsident Plantin, und will Krieg. Der Wirtschaft fehlen Absatzmärkte, und so eine Armee ist doch ein idealer Verbraucher. Er sträubt sich, aber es ist ein Befehl. Also los, Krieg planen, er lädt den Generalstab zum Tee.
Von denen hat jeder seine persönliche Macke und eigentlich auch keine Lust, aber sie sind Soldaten, und ein Befehl ist ein Befehl. Schnell ist ein Schutzheiliger gefunden, es kann losgehen. Doch erst als der Pernod geleert ist und die Gäste gegangen sind, bemerkt mon general, dass etwas fehlt: Der Feind.
Hektisches Telefonieren mit dem Élysée-Palast bringt keine Lösung, die Entente muss helfen. Dscheneräll Jackson, Generrrall Krokilloff und Genelal Ching-Ping-Ting werden einbestellt. Die haben zwar vollstes Verständnis, stehen aber als Gegner wegen anderweitiger Verpflichtungen grad nicht zur Verfügung.
Der große Plan scheint zu scheitern, da hat der Krieger aus dem Reich der Mitte die zündende Idee: Gegen Afrika! Alle sind begeistert. Nun kann es wirklich losgehen.
Zwei Jahre später, der Generalstab sitzt irgendwo hinter der Front in einem Bunker vierzig Meter unter der Erde und hat vor allem die Aufgabe, seinen Truppen die Führer zu erhalten. Das ist insgesamt ein wenig langweilig, und die privaten Vorlieben der Herren passen einfach nicht zueinander. Die Gesellschaftsspiele scheitern schon im Ansatz.
Abwechslung verspricht der Besuch des immer noch Ministerpräsidenten Plantin, der die Generäle der befreundeten Großmächte mitbringt. Ein Höhepunkt im Kriegs-Einerlei! Zumal General Krokiloff ein Spiel kennt, das alle begeistert: Russisch Roulette.
Die Revolvertrommel wird gedreht, die Pistole wandert. Am Ende sind alle tot, als Letzter jedoch General Audubon James Wilson de la Petardiere. Der hat also gewonnen.
Was für ein grandioser Nonsens, hier hat einer Monty Python schon in den Fünfzigern vorweggeahnt. Soldaten kommen in diesem Stück nicht vor, wozu auch: Der Krieg ist mit Biskuit und Pernod am schönsten, nachmittags so gegen Fünf.
Volltreffer, ich fühle mich versenkt. Dem Projekttheater ist da eine wunderbare Miniatur gelungen, auch wenn es zwischendurch etwas holperte, ganz und gar großartig. Ein herzlicher, deutlich zu kurzer Applaus der leider wenigen Gäste.
Morgen (Sonntag, 22.09.13) nochmal, kurz nach der ersten Hochrechnung. Und dann nie wieder? Schade.
[Mit dem Projekttheater und mir verhält es sich übrigens in etwa wie mit dem saftigen Gras und dem angepflockten Schaf. Aber das kann man ja ändern. Sollte ich ändern.]
Es geht auch ohne dass man spricht
„Faust ohne Worte“, eine Produktion der Theaterzirkus Dresden gGmbH im Palais im Großen Garten Dresden, gesehen am 15. September 2013, Regie Tom Quaas, Co-Regie Lionel Menard (Wiederaufnahme-Premiere)
Beethoven ohne Musik? Eine Oper ohne Sänger? All das haben wir noch vor uns, vielleicht auch Fußball ohne Ball oder Merkel ohne Programm. Ach nee, letzteres gibt es ja schon.
Doch zuvor die Wiederaufnahme des „Faust“, ganz ohne Worte. Das geht? Und wie das geht! Ich nehme es vorweg: Ich habe den sinnlichsten Faust meines Zuschauerlebens gesehen.
Zuvor will noch die Liste der Gönner und Förderer verlesen werden, endlos lang, doch jeder gebührt Ehre, die dieses Projekt unterstützt. Impressario Quaas tut dies mit Grandezza.
Der Einstieg ist eine Art Kurzfassung von Rainer König (sonst Gott), mir persönlich zu derb, aber als Anheizer mag dies gehen. Doch man muss den Faust schon gut kennen, um folgen zu können.
Ohnehin empfiehlt es sich, Faust I zuvor mal durchzublättern, doch ich finde, das ist nicht zuviel verlangt.
Dann geht es richtig los, Faust (Wolfram von Bodecker) baut an seinem mannshohen Sockel, eine beeindruckende Körperlichkeit, nicht nur bei ihm, das ganze Ensemble ist phantastisch drauf. Dann bricht der Sockel weg, doch das ficht ihn nicht an, einer wie er kann auch über Wasser gehen, da ist Schweben doch kein Problem.
Die Werktreue ist frappierend, manchmal fühlt man sich fast aufgefordert, die passenden Zeilen hineinzurufen, zum Glück kann ich den Impuls unterdrücken.
Der Erdgeist erscheint wie der Sandwurm bei Luke Skywalker, doch der Wagner (großartig Louis Terver) platzt in die Szene. Das Bühnenbild ist nicht nur hier absolut stimmig, Tilo Schiemenz hat’s gemacht.
Faust wird nun ordnungsgemäß gerettet vorm Freitod. Ein sehr charmanter Osterspaziergang, die Kostüme (Sigrid Herfurth) sind ein Gedicht, und nicht nur die. Ein Fest der Sinne.
Der Pudel (Alexander Neander, später dann auch als Mephisto like Gründgens) zeigt Willensstärke, statt seiner apportiert Wagner. Und des Pudels Kern zeigt sich effektvoll. Überhaupt, die Effekte … Henrik Forberg am Licht sei hier stellvertretend für alle belobigt.
Auftritt eines Schülers (Tim Schreiber), am Ende wird das Wissen gerupft, ein hübsches Spektakel. Und dann Auerbachs Keller, sehr witzig, nicht nur hier ist das Schlagwerk (Bernd Sikora) voll auf der Höhe.
Die restliche Musik kommt vom Band, eine solche Produktion kostet ein Schweinegeld, und live ist nun mal teuer. Vielleicht gelingt es ja noch, das Gesamtkunstwerk, ich würd auch gern ein Scherflein dazu beitragen.
Eine nackte Schönheit eröffnet nach der Pause, aha, Hexenküche. Gott wird zur alten Roma, das mag sicher auch die Oma, die NPD wohl weniger.
Eine Verwandlung wie bei Kafka, nur andersrum. Ein junger, strahlend schöner Faust entsteigt dem Pott, er sieht Mephisto verdammt ähnlich.
Gretchen tritt auf, und die Schmetterlinge fliegen. Faust bekommt das erstmal gar nicht gut, aber er ist jetzt hartnäckig und zielfokussiert. Bald ist er in Gretchens Kammer, mit Kette und Ohrringen kriegt man jede rum.
Marthe (Kati Klasse, äh, Grasse) ist hacke, warum nicht. Sie versucht sich eine Zigarre, nun ja, einzuführen, was schließlich unter Beifall auch gelingt. Und Gretchen (becircend Katja Langnäse) ist rollig, anders kann man das nicht nennen.
Mephisto überbringt die Todesnachricht von Marthes Verflossenen, kurze Betroffenheit, doch das letzte Hemd des teuren Toten hat keine Taschen, die Trauer findet so ein schnelles Ende.
Marthens Garten, Mephisto muss und Marthe will. Beim jungen Paar wollen beide, ein Spektakulum der Liebe. Sie kriegen sich herzerweichend, die Gretchen-Frage wird vorerst vertagt. Und dann schläft die Mutter Schlafes Bruder … Yes, they did.
Doch die Bibel wird zum Sarg, und Lieschen (Rebecca Jefferson) zeigt, was passieren kann und wird. Die Musik (Michael Kaden) illustriert kongenial die Entfremdung Fausts von Gretchen, so hab ich das noch nie gesehen.
Da steht sie nun da, künftig alleinerziehend, geächtet, Hartz Vier. Der, der den ersten Stein wirft, ist ihr Bruder Valentin (Renat Safiullin). Fast freut man sich über den tödlichen Stich, den Mephisto ihm verpasst, im Duell mit dem Mädchenverderber Faust.
Und nun? Wir kommen zur persönlichen Schande des Rezensenten: Er verließ den Saal vor der Zeit, bemüht leise, aber voller Scham. Die Premiere im Kleinen Haus lockte (zu Recht, wie sich herausstellte), aber das geht gar nicht.
Eine falsche Zeitplanung, so simpel ist das manchmal. Er gelobt Besserung und wird den Schluss nachsitzen.
Was soll man da am Ende schreiben? Es wurde immer besser, und ich musste gehen. Doch selbst, wenn das Finale versemmelt worden wäre, was ich nicht glaube: Ein großartiger Faust, voller Emotion, voller Leben, voller Magie. Es braucht wirklich keine Worte.
Ganz großes Theater. Muss man gesehen haben.
Die nächsten Gelegenheiten:
17. bis 22. September in Dresden a.a.O.,
27. Oktober in der Theaterfabrik Sachsen in Leipzig.
Und Näheres hier: http://www.faust-ohne-worte.de/index.html
