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Ein langes Stück über das Töten
„Titus Andronicus“ von William Shakespeare in der Regie von Jan Klata,
gesehen am 7. Oktober 2012 im Staatsschauspiel Dresden
Heute mal keine Nacherzählung. Das würde den Rahmen sprengen, soviel wie hier gemordet, getötet, vergewaltigt und aufgefressen wird. Ich verweise auf seriöse Quellen. Aber einige Anmerkungen:
1. Das Wagnis, ein Stück in zwei Sprachen mit Schauspielern polnischer und deutscher Zunge zu inszenieren und dabei trotz der naheliegenden historischen Bezüge nicht in die Korrektheitsfalle zu laufen, ist aller Ehren wert. Wegen jener Falle musste es wohl auch ein polnischer Regisseur sein, nein, nicht irgendeiner, sondern DER polnische Regisseur dieser Tage.
2. Wenn man Shakespeares blutigstes Stück heute auf die Bühne bringt, bedarf es neben einer „angemessenen“ Darstellung des zügellosen Mordens auch einer gewissen Distanz dazu, die ohne Ironie nicht herzustellen ist. Dies schien mir absolut gelungen.
3. Man muss nicht jeden Regieeinfall mögen, einige waren auch richtig peinlich. Auf Luftgitarre spielende Goten hätte ich ebenso verzichten können wie auf den prächtigen Ständer des Mohren. Jenen (weißen Schauspieler) schwarz einzufärben, fand ich hingegen lustig, von jeglicher p.c. unbefleckt.
4. Der Einstieg ins Stück mit einem die Särge seiner Söhne hereinschleppenden Titus Michalek (überragend als Vieh und Mensch) und deren ordnungsgemäße Registrierung, Beweinung und Aufbewahrung, unterstützt von einer martialischen Marschmusik aus der Heavy-Ecke, gehört für mich zu den stärksten Anfängen, die ich jemals auf der Bühne gesehen habe (gut, so viel Theatererfahrung hab ich nun auch noch nicht).
5. Die reduzierte Fabel des Stücks, dass aus Siegern schnell Verlierer werden, wenn sie sich von List und Tücke auseinander dividieren lassen, war trotz des Brimboriums klar erkennbar. Titus krönt schlicht den falschen Kaiser, so nimmt das Unheil seinen Lauf. Und letztlich sind an allem ja nur die Frauen schuld, ob nun aktiv oder passiv. Love hurts.
6. Klata findet interessante, für Dresden ungewohnte Formen. Dass das oftmals aufkeimende Entsetzen stets mit einer Parodie konterkariert wird, hält den Zuschauer tränenfrei und das Stück am Laufen.
7. Jener Zuschauer wurde natürlich auch hinreichend gequält. Ob nun Hochfrequenztöne, Lärmterror oder eine ausgewalzte angedeutete Vergewaltigung am vorderen Bühnenrand, man musste schon wissen, worauf man sich einließ. Ein Dutzend Besucher ging vorzeitig von der Fahne, was den ohnehin nur zu einem Drittel gefüllten Saal weiter dezimierte. Klata wird gewusst haben, warum er keine Pause einbaute.
8. Einen, nun ja, Musikschaffenden wie „Fancy“ aus der verdienten Versenkung geholt zu haben, ist auch ein Verdienst des Stücks. Ich persönlich hätte Modern Talking noch passender gefunden, aber die hatten offenbar keine so treffenden Zeilen wie „Slice me nice“.
9. und letztens: Ich prophezeie, das Stück wird in Dresden nicht lange laufen. Trotz aller Modernität „von oben“ ist ein Großteil des Publikums hier sicher nicht gewillt, sich auf extreme Formen von Theater einzulassen. Das ist schade.
Wie das in Wroclaw aussieht, kann ich leider nicht einschätzen.
Also: Ich ging hin und rechnete mit dem Schlimmsten. Ich ging weg und war doch sehr angetan. Relativ gesehen also ein absoluter Treffer. Und auch sonst ein gutes, sehenswertes Stück.
Ein beschissener Abend für alle Beteiligten
Nein, um Gottes Willen, das ist nicht die Zusammenfassung. In dieser Überschrift wird schlicht der Inhalt des Stücks beschrieben, und vielleicht stimmt das so auch gar nicht. Im Zuschauersaal hatte man unterhaltsame zwei Stunden trotz des Tiefgangs, ein typisches Hübner.
„Was tun“ von Lutz Hübner in der Regie von Barbara Bürk,
Uraufführung am 6. Oktober 2012 im Staatsschauspiel Dresden
Eine Vorgeschichte:
Es ist nicht unbedingt der beste Start in den Abend, wenn man um 19.12 Uhr im Foyer feststellt, dass man seine Premierenkarte zu Hause vergessen hat. Es ist auch nicht hilfreich, wenn es draußen Bindfäden regnet. Aber es motiviert ungemein.
Das erste Mal passiere ich den Albertplatz auf meinem treuen Rappen aus diversen Metallen um 19.20 Uhr, das zweite Mal um 19.23 Uhr. Da bin ich schon völlig durchnässt, und jetzt auch noch Gegenwind. Und niemand neben mir, der „Quäl dich, du Sau“ brüllt.
Dennoch, neuer Bahnrekord, um 19.30 Uhr schlage ich an der Pforte auf, sprinte die Treppe zum 2. Rang (auch das noch) hoch, lächele so freundlich wie es mir noch möglich ist die Garderobiere an und plumpse um 19.31 Uhr auf meinen Sessel, der zum Glück am Rande der Reihe liegt. Es kann losgehn.
Hübners neuestes Stück spielt mit drei verschiedenen Handlungssträngen, die (zu Anfang) voneinander völlig unabhängig sind.
Zu Beginn erhält man einen Einblick in eine Ehehölle, deren Fegefeuer jedoch noch im Verborgenen lodert. Zwei ungleiche Freunde trinken sich in Anwesenheit der zugehörigen Damen (die eine langjährige Ehefrau, die andere frische Freundin) für den Abend warm. Jener wird sehr unterschiedlich verlaufen, für den einen droht ein literarisch-musikalischer Abend im engsten Kreise, der andere absolviert seinen monatlichen Termin im Swinger-Club. Nachdem der Gatte Gerald hör- und sichtbar seinen Neid bekundet, wirft die resolute Gattin Moni das lockere Pärchen raus.
Szenenwechsel, extrem. Ein in Ehren ergrauter Gewerkschaftsfunktionär brieft noch einmal ein Opfer unternehmerischer Willkür, die Altenpflegerin Bine, die das seit 30 Jahren war und nun nicht mehr ist, nachdem sie die Missstände in ihrer Altenverwahranstalt öffentlich gemacht hat. Den ersten Prozess hat sie verloren, nun soll die Öffentlichkeit helfen. Karl hat seine Verbindungen spielen lassen, eine Pressekonferenz steht an.
Nächste Szene: Der Empfang, auf dem Moni noch nicht erschienen ist. Der Redakteur Richard hat seinen Gespielen Hanno mitgebracht, einen Ex-Schauspieler und Neu-Sprecher, der gerade ein erfolgreiches Hörbuch abgeliefert hat. Nun soll der natürlich zwischen den Häppchen auch was rezitieren, allein, der Gute kann vor Publikum nicht. Aber es sind wichtige Leute da, und sanfter Druck führt dann doch zur Einlage.
Wieder zurück in der Ehehölle. Das Geschehene muss ausgewertet werden. Im Ergebnis geht Moni allein zum Kränzchen und Gerald macht sich noch ne Flasche auf.
Die Pressekonferenz bleibt ohne Presse, nur der Sohn des Opfers betritt mit einem fulminanten Wutanfall die Szenerie. Nicht im System sich wehren, sondern das System bekämpfen!
Hanno hat nun doch rezitiert, sehr schlecht, gar nicht recht. Nun ist ihm übel. Er fühlt sich missbraucht und unverstanden, auch vom Partner. Abgang, er muss heute noch was Besonderes erleben.
Bei der PK ist inzwischen immerhin eine Praktikantin eingetroffen, der Herr Redakteur war leider verhindert. Beim ersten Mal tuts noch weh, aber Luise schlägt sich erstaunlich wacker. Völlig abgeklärt, diese jungen Leute. Sonst kommt keiner, man vergaß einzuladen, na so was.
Lifestyle trifft Klassenkampf, es geht um die Fakten oder um das Gefühl. Das kann nur schiefgehn. Abgang Opfer mit Sohn. Aber für ein Bier ist für den Kämpfer Sikorski und die Maus Luise noch Zeit.
Neue Szene, der besagte Swingerclub. Die Umkleidezelle betont nüchtern, der Statist in seinen rosa Stiefeln bekommt Szenenapplaus. Na gut, warum auch nicht.
Andi und Judith, die Gäste aus der Ehehölle, treffen hier auf Hanno, der auf der Suche nach seinem besonderen Erlebnis ist. Er macht ihnen ein unmoralisches, aber spannendes Angebot: Zu dritt ein Hotelzimmer zu beziehen und einen schönen Abend zu haben. Andi, der glaubt, dass dieser Kick ihm wieder auf die Beine hilft (zwinker, zwinker), überzeugt die widerstrebende Judith, bittet sich aber eine zweite Dame aus. So soll es dann sein.
Noch ein neuer, alter Schauplatz: Der wütende Sohnemann hat die Privatadresse des fiesen Personalchefs seiner Mutter (dem Opfer) ausbaldowert und nötigt sie zur Konfrontation mit diesem. Es ist – Überraschung – Gerald aus der Ehehölle. Dessen Gesprächsbereitschaft wird mit einigen Schlägen in die Fresse hergestellt. Man wird hereingebeten.
Moni trifft nun bei Sybilla ein, der Gastgeberin des künstlerverschleißenden Zirkels. (Können Sie noch folgen?) Diese führt sie in die Psychologie des Mannes Mitte vierzig ein („in dem Alter, wo sie einen Rappel kriegen“) und rät zur Gelassenheit. Nachher sei es wieder ganz einfach. Aber Moni ist dafür irgendwie zu verkrampft.
Karl Sikorsky und Luise trinken Bier.
Das alte Schlachtross braucht keine Hilfe, keine Erklärungen und keine Belehrungen. Es wettert lieber vor sich hin. Aber irgendwie mögen sich die beiden.
Ein Hotelzimmer. Hanno, Judith und Andi. Jener will doch nur einen schönen Abend. Aber, Hanno ist ein Frischling. Wie googelt man eine Nutte?
Andi weiß Rat: Das Klax in Fickpieschen. Und soll sich dann besser selber drum kümmern.
Judith und Hanno allein, die Euphorie erlahmt schnell, Befangenheit tritt ein. Hanno schluckt seine Pillen und gibt Hugo von Hoffmannsthal als Privatvorstellung, Judith staunt.
Wie lächerlich kann ein Fummel aussehn, wenn der Träger sich unwohl fühlt darin. Hanno fühlt sich falsch im Leben, zarte Annäherung.
Zurück in der Hazienda des Personalchefs.
Gerald erklärt die Welt. Seine Welt.
Bine erklärt die Welt. Ihre Welt.
Abgang Bine und Sohn.
Hanno liegt ohnmächtig am Boden. Der zurückgekehrte Andi, die gewünschte Nutte im Schlepptau, ist misstrauisch. Hat Judith nun mit dem oder nicht? Das hier ist was anderes als Swingerclub. Scheiß Abend.
Der herbeigerufene Richard erscheint, weckt Hanno. Der will jetzt nur noch nach Hause. Scheiß Abend.
Andi ist jetzt zum Heulen, und Judith? Scheiß Abend?
Noch ein Bier für Karl und Luise. Jener staunt. Die 23jährige ist so was von selbstsicher … Das macht ihm Angst. Karl will lieber weiter beleidigt sein, ihm hört ja keiner mehr zu. Nicht mal mehr an den Kopierer darf er im DGB-Haus. Scheiß Abend. Scheiß Leben.
Moni ist wieder zu Hause.
Geralds Geschichte von der Heimsuchung ist gar zu unglaubwürdig, alle Indizien sprechen gegen ihn. Er war fremdvögeln, das ist klar. Nun sitzt er in der Falle. Scheiß Abend.
Mit großer Geste schmeißt sie ihn raus. Noch einmal scheiß Abend.
Am Ende fummeln alle alleine, jeder für sich, an ihren Mobiles. Der scheiß Abend wird dadurch nicht besser. Vorhang. Langer Applaus.
Lutz Hübner sind wieder wunderbare Figurenstudien gelungen, mit ganz wenigen Szenen weiß man, mit wem man es zu tun hat. Man glaubt die Leute zu kennen, von nebenan.
Das Stück beschreibt, es urteilt nicht. Für die Moral sind andere zuständig. Auch darin liegt seine Stärke.
Darin liegt aber auch seine Schwäche. Man kann sich mit jedem auf der Bühne identifizieren, auch der Personalchef verdient angesichts seiner familiären Verhältnisse zumindest Mitleid. Auf eine Wertung, gar eine Botschaft wird konsequent verzichtet. Schaut her, so ist das Leben. Ja. Und?
Man schaut von draußen durch verschiedene Fenster in unterschiedliche Räume eines Hauses, und einige Wände zwischen denen brechen nach und nach in sich zusammen, die Handlungen verschmelzen. Das bleibt mir als wesentlichster Eindruck.
Intendant Wilfried Schulz betätigt sich bei der Premierenfeier in der ungewohnten Rolle des Entertainers und huldigt mit vollem Recht seiner großartigen Schauspielertruppe und dem Autor. Elf gleichwertige Rollen für neun Schauspieler, das muss man erstmal hinbekommen. Schwierig, jemanden hervorzuheben, am längsten im Gedächtnis werden zumindest mir Ines Marie Westernströer („Okay?“), Tom Quaas, Karina Plachetka, Holger Hübner (als Gerald) und als primus inter pares Christian Erdmann bleiben. Aber eigentlich auch alle anderen.
Es war wirklich eine tolle Ensembleleistung in einem guten, sehenswerten Stück. Hübner hat die hohen Erwartungen erfüllt.
Wer stehen bleibt ist raus
„Das normale Leben oder Körper und Kampfplatz“, deutsche Uraufführung von Christian Lollike, gesehen am 01.10.12 unter der Regie von Hauke Meyer am Staatsschauspiel Dresden
In einem sich thematisch ungefähr zwischen „Die Firma dankt“ und „Vater Mutter Geisterbahn“ verortenden Stück wird in einer temporeichen Inszenierung die aktuelle Gretchenfrage gestellt: Wie und womit bestehst Du in der modernen Welt?
Eine Bühne ganz in Weiß, eine Schrankwand voller Schubkästen, eine weiße Couch als Gefängnis. Es wirkt klinisch, oder besser wie in einem Labor. Die Versuchsanordnung besteht aus A, B und C, ihr Aktionsfeld ist die moderne Welt.
Gleich am Anfang seien die Darsteller bedacht: Von Annika Schilling, Philipp Lux und dem Noch-Studenten Jonas Friedrich Leonhardi mag ich niemanden hervorheben. Alle spielten präzise und glaubhaft, ohne sich über den Text zu stellen. Eine seriöse Leistung, wie hier am Hause gewohnt.
Die Handlung:
Sie (A) fühlt sich verfolgt. Er (C) meint, das wäre die innere Stasi, ein Organ, da zu einem gehört und doch wieder nicht, weil es einen kontrolliert und steuert. Noch ein Er (B) ist skeptisch.
So fängt das Stück in etwa viermal an. Immer wieder verlaufen sich die Akteure in den Tiefen des Alltags, „wollten wir nicht eine ganz normale Geschichte erzählen, eine Huldigung an die Lebenslust?“, immer wieder Neuanfang.
Die moderne Religion Fitness, der Zwang zum schlank und gesund aussehen. Der Konkurrenzdruck im Büro, der mit nach Hause genommen wird. Die Angst, die überall lauert. Das alles wird plausibel vorgeführt, ebenso wie die Abneigung gegen fette Menschen, die jener gegen Fremde gleicht und auf einen natürlichen Instinkt zurückzuführen sein soll, das Fette, Fremde als Bedrohung.
Man möchte so gern tolerant sein, aber man ist neidisch auf den Zusammenhalt der Kanaker. Weil man nicht so sein kann, sollen die auch nicht so sein. „Kapitalismus“ als Wort ist verpönt, erinnert zu sehr an schuldbewusste Fürsorgehumanisten (ich persönlich würde eher Peace-Brezeln sagen). Aber immerhin ist man sich bewusst, dass man statt Mensch nur ein Konsumentenprofil ist, was zwischen Shops pendelt.
Im Heimischen ist es nicht besser. Erziehungsmodelle prallen aufeinander, und wenn es dann mal drauf ankommt, muss Mutti arbeiten. Genialer Satz: „Natürlich sollst du am Wochenende nicht arbeiten, du sollst mit deinen Kindern zusammen sein, es sei denn, du bist im Rückstand.“ Im Rückstand ist man schnell. Erster Zusammenbruch.
In ihrer Vorstellung fliehen sie auf eine einsame Insel, aber in der Realität der anderen werden sie gefunden, GPS machts möglich. Man kann jetzt TV-schön werden, aber irgendeiner hat meine Identität gestohlen und läuft jetzt damit rum und spielt mich. Echt blöd.
Man ist die wandelnde Leere, ein Loch, zu nichts nutze, ohne Orientierung. Und man ist doch schon 39 … Da werden einige im Saal genickt haben. Und in anderen Sälen sicher auch.
Dann das schöne Bild, dass man dem Zug hinterher rennt, der aber viel zu schnell fährt, als das man ihn erreichen könnte. Abends ist einem klar, dass das Schwachsinn ist, aber da ist man betrunken, und morgen geht das Rattenrennen weiter. Wer still steht ist raus.
Wir haben Google Maps, doch wir wissen nicht wonach wir suchen sollen. Aber dank der neuen Bekenntniskultur können wir das immerhin allen mitteilen. Früher behielt man so einen Scheiß für sich bis man platzte.
Das private Leben geht natürlich auch in die Brüche, überreizt wie man ist, ist man auf dem Kampfplatz Familie verloren. „Willst du mich verlassen? – Du hast mich doch schon lange verlassen.“ Eine Light-Zigarette in der Penthouse-Küche als Rebellion, dann sogar noch eine. That’s Rock’n’Roll.
Die einzige Fluchtmöglichkeit scheint, mit dem Existieren aufzuhören. Wenn selbst der Partner ein IM der inneren Stasi ist … Du hast die Möglichkeit, auf normale Weise individuell zu sein, aber bitte nicht umgekehrt. Man kann jetzt seinen Partner lokalisieren, das ist das Ende vom Ende. Zweiter Zusammenbruch.
Sie ist für niemanden mehr genug da. Das Hamsterrad dreht immer schneller. Wahnvorstellungen. Klinik. Mann weg. Kinder weg. Draußen.
Der Kreis schließt sich am Ende. A begegnet sich selbst, die eine joggt gegen die (Lebens-) Uhr, die andere sitzt verfettet auf der Parkbank und frisst den bösen Kuchen. Die eine verachtet die andere, die eine ist der anderen egal. Wer ist wohl glücklicher?
Ende.
Soweit die Nacherzählung. Ein berührendes Thema, in meist plausible Bilder gesetzt, sowohl sprachlich als auch seitens der Bühne. Ein Verwandtschaft zu Hübners „Die Firma dankt“ ist unverkennbar, ebenso zu Heckmanns „Vater Mutter Geisterbahn“. Letzteres beschaut das private, ersteres das berufliche Leben, Lollike bringt beides übereinander. Fast könnte man die Stücke als Trilogie begreifen.
Ob die abgeleiteten Thesen alle so zutreffen oder hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird, mag jeder für sich entscheiden. Ich frag mich schon manchmal, was denn das Besondere an der „heutigen“ Arbeitswelt ist, die diese so böse und verschleißend macht. Ich denke, der Hauer im Schacht „Gute Hoffnung“ um die vorletzte Jahrhundertwende oder noch früher die Fabrikarbeiterin in Manchester hätten gerne unsere Probleme gehabt. Und auch heute braucht man nur mal den Erdteil wechseln, um wirkliche Probleme vor sich zu haben.
Ok, das ist ein Totschlagargument, ich will psychischen Druck nicht verharmlosen und von Karoshi hab ich auch schon gehört. Diese Themen sollen nicht relativiert werden, manchmal ist mir aber sehr viel Nabelschau und Befindlichkeitskult dabei.
Ein – natürlich völlig unpassendes – Argument habe ich neulich im Netz gelesen: Ein renommierter Psychologe antwortete auf die Frage, ob die mit den modernen Kommunikationsmitteln gegebene ständige Erreichbarkeit die Menschen nicht in fürchterlichen Stress versetzen würde, sinngemäß so, dass die (deutschen) Menschen im Dreißigjährigen Krieg für die Schweden physisch ständig erreichbar gewesen seien, das sei viel größerer Stress gewesen.
Deutlicher kann man das kaum ausdrücken.
Also, bei aller Empathie: Ja, auch die Entfremdung und Vereinzelung der Menschen im heutigen Leben ist ein Problem in der Welt, nicht das einzige oder das größte, aber immerhin eines, das eine Menge von Menschen in der „Ersten Welt“ betrifft und worüber nachzudenken lohnt, gerne auch in der Form eines Theaterstücks. Und wenn das Thema so angepackt wird wie von Lollike, kann das eine Bereicherung für alle sein, die damit zu tun haben. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Mrs. Polly Macheath-Peachum, CEO Bank of Beggars, London-Soho
„Die Dreigroschenoper“, gesehen am 28.09.12 in einer Inszenierung von Friederike Heller am Staatsschauspiel Dresden
Frau Heller setzt konsequent auf Show und Glamour, die Story und die Brechtsche Moral sind eher Nebensache. Das funktioniert theatertechnisch gut, auch von teils sehr guten Darstellern getragen, aber hinterlässt dann doch einen gewissen Phantomschmerz bei mir.
2. Rang. Immerhin, überhaupt eine Karte ergattert. Die Beinfreiheit ist wie im Billigflieger, aber dafür hat man einen Blick wie beim Landeanflug, um im Bilde zu bleiben. Das Haus ist voll, auch voller Nachwuchszuschauer, so gehört sich das.
Die „Moritat von Mackie Messer“ wird als Reigen angeboten, fast jedeR außer dem Ungeheuer darf mal ran. Das wirkt doch konventionell und über-werktreu, sogar die Strophe mit dem Licht gibt es zu hören.
Des Bettlerkönigs Büro, ein armer Schlucker will hier mittun. „Licences only for professionels“, niemand glaubt einem das eigene Elend, deshalb gibt es bei Peachum ein Fremdes.
Das Spiel scheint seltsam statisch, man hangelt sich von Song zu Song. Diese sind zweifelsohne die Highlights bisher.
Auftritt der Räuber als Muppets, sie swingen mit Mac und Polly, dann walzert es. Weill ist geduldig.
Hochzeit. Wie oft kommt das schon vor. Und dann in einem Pferdestall? Miss Polly is not amused. So richtig funktioniert die Bande nicht, offenbar schon innere Kündigung. Und Macheath Machtworte verhallen ohne sichtbares Ergebnis.
Es ist eine traurige Fete, bis Polly die Seeräuber-Jenny gibt. Wer hat da geschrieben, Sonja Beißwenger habe gesangliche Defizite? Blödsinn. Wir sind beim Schauspiel, nicht in der Operette.
Was ich persönlich sehr schade finde: Christian Friedel versemmelt jenen großartigen Text von Mac, bei dem er im ersten Halbsatz Polly lobt und ihr im zweiten das Singen ein für alle mal untersagt. Das ist leider kaum zu hören.
Nein, Friedel ist auch kein Mackie. Er singt wunderbar, er tanzt, besser tänzelt elegant, er sprüht vor Charme … aber da ist nichts zu sehen von Verschlagenheit und Hinterlist, von Macho und Serienkiller, von Skrupellosigkeit und Machtwillen. Er ist einfach zu lieb, ich glaub es ihm nicht. Oder sollte er so sein? Dann wäre der Rolle aber mächtig Gewalt angetan worden.
Dann kommt noch die Obrigkeit in Form von Tiger Brown, dem Sheriff, zur bescheidenen Hochzeit. Der kennt die Gesellschaft aus seinen Akten, ist aber rein privat hier, als Macheath alter Ego. Ahmad Mesghara vertrat souverän den maladen Benjamin Höppner, ohne dabei Bäume ausreißen zu können.
Das Ehepaar Peachum keift inzwischen aus der Loge, like the Muppet-Show (ein hübscher, wenn auch verzichtbarer Einfall), aber es hilft nichts mehr. Aus Miss Peachum wurde Mrs. Macheath, die sichtbar noch einige Eingewöhnungsschwierigkeiten im neuen Umfeld hat.
Was tun, wie auch Lenin und Hübner fragen? Jonathan Jeremiah Peachum kennt Tiger Browns dünne Stelle und sticht kräftig rein. Jener fällt um und nach Mackie wird plötzlich gefahndet.
Für Thomas Eisens Peachum gilt mit Abstrichen für mich dasselbe wie für Friedels Mackie: Die dunklen Seiten bleiben weitgehend verborgen. So ist der Bettlerkönig eher ein freundlicher Kostümverleiher denn ein gerissener Geschäftsmann. Ganz anders seine Frau Cylia, Antje Trautmann gestaltet sie wunderbar, ohne in eine Karikatur zu verfallen. Und gesanglich spielt sie in einer eigenen Liga.
Dass der Text sich weiter zäh gestaltet, liegt sicher auch am Text selbst. Man kann den glaub ich auch ohne Herrn Brecht zu schänden heute etwas kürzen.
Herr Macheath wird gewarnt, ziert sich ein wenig und entschließt sich dann doch zu fliehen, erstmal nach Highgate und dann ins Bankgeschäft. Ach Mackie, es hat so kurz gedauert, seufzt eine ahnungsvolle Polly, die das Stück vermutlich auch schon gesehen hat: „So manch großer Geist blieb in ner Hure stecken“. Es folgt die Übergabe der Amtsgeschäfte, die Verwandlung von Mrs. Peachum in ihre neue Rolle ist erstmals zu ahnen. Prima gespielt.
Abgang Mackie, aber er kommt nicht weit. Will er ja auch nicht. Jenny und ihre Schwestern im Gewerbe heißen ihn willkommen. Dass jene Huren eingangs nymphengleich auf Schaukeln sitzen und sich im Laufe der Szene in Polizisten verwandeln, ist für mich der beste Regieeinfall des Abends. Hoffentlich wird das in Sachsen nicht als Beamtenbeleidigung ausgelegt.
Ein großartiges Duett von Mackie und Jenny, von Sebastian Wendelin mit vollem Körpereinsatz gespielt. Diese Besetzung ist eine tolle Idee, was sich am Abend noch öfter erweisen wird.
Das Duett endet allerdings mit der Zuführung des Ganoven nach Old Bailey. Und zwar nicht zum Baileys-Trinken.
„Mac, ich bin es nicht gewesen“, ein sichtlich zerknirschter Brown fleht um Vergebung. Jener revanchiert sich mit einer großen Show, das ist der Platz, auf dem Friedel sich austoben kann. Szenenapplaus, wie vorher auch schon einige Male.
Auftritt einer bonbonfarbenen Lucy, des Tigers Töchterlein. Die hat nun ihre eigenen Interessen, die sie mit einem (gefaketen) runden Bauch untermauert, und nimmt Macheath in Gefangenschaft. Dann kommt auch noch Polly resp. Mrs. Macheath, das Dreckhaufen-Duett beginnt. Sehr schön, auch von Christine-Marie Günther in ihrer ersten großen Rolle am Hause.
Pollys Auftritt wird beendet durch eine Quoten – Darth Vader (Vada?). „Ich bin deine Mutter“ röchelt Antje Trautmann unter ihrem Helm.
Mackie gelingt es, Lucy zu be-, was auch immer, jedenfalls ist er draußen.
Ausgeflogen, das Vögelchen, muss auch Peachum erkennen, der zu Besuch kommt. Die Polizei kann da gar nichts machen, bedauert Sheriff Brown.
Das großartige Lied vom Fressen und der Moral ebenso großartig dargeboten. Aber … es mangelt mir im ganzen Stück an Statisten, das nimmt viel Wirkung weg. Sowas muss doch nicht sein, in einer so theaterverrückten Stadt hätten sich doch leicht zwei Dutzend Huren und Bettler gefunden?
Peachum klärt inzwischen mit Brown die Machtverhältnisse. Die schiere Masse des Lumpenproletariats sorgt für Entsetzen beim Sheriff und für die Wende. Aber auch hier alles sehr oberflächlich, fast operettenhaft.
Schön das folgende Bonmot, dass die Menschen zwar ohne Probleme Elend anstiften können, es aber nicht aushalten, es anzusehen. Das „Geschäftsmodell“ der Hilfsorganisationen.
Der folgende Salomo-Song, sonst bei mir gefürchtet ob seiner Tonfolgen, wird bei Wendelin zum Genuss.
Macheath wird abermals gewarnt und geht abermals in die Falle, wenigstens die Huren halten sich an die Absprachen. Tja, bevor es Nacht ward, lag er wieder droben, und nun wird es eng. Morgen früh wird Mackie hängen.
Seine Verzweiflung ist nun glaubhaft, zumal sich seine Getreuen langsam abwenden und auch seine liebe Gattin schon als Schwarze Witwe erscheint und sich außerstande sieht, ihm das Bestechungsgeld zu besorgen. Aus ist’s.
(Diese Szene hab ich schon viel viel dramatischer gesehen, vor allem mit den Räubern, aber das war sicher nicht geplant)
Noch nicht ganz, den Spannungsbogen hält ein witziges Filmchen. Ja, kann man machen, warum nicht? Will ja nicht immer nur nörgeln.
Dann kommt also – nach kurzer Erläuterung des dramaturgischen Ansatzes – der reitende Bote des Königs.
„Anläßlich der Dröhnung ihrer Majestät …“, das wär doch ein hübscher Witz gewesen. Oder vielleicht auch nicht. Jedenfalls wird Macheath begnadigt, geadelt usw.usf.. Die Begeisterung auf der Bühne hält sich aber in Grenzen. Seine Stelle ist schon eingespart, an der Spitze der Organisation steht jetzt seine Fast-Witwe, da ist kein Platz mehr für die alten Halunken. Es wird jetzt nicht mehr eingebrochen, es wird gegründet.
Eine Maslowsche Bedürfnispyramide wird zum Ende hochgehalten, sozusagen die Zusammenfassung des Stückes in einem Bild. Langanhaltender Beifall motiviert die Schauspieler zu einer (geplanten) Einzelvorstellung des Ensembles, schöne Idee.
Also:
Nicht meine Lieblingsversion, dem Witz fiel oftmals die Tiefe zum Opfer. Aber sehenswert, wenn man sich darauf einlässt. Sonja Beißwenger für mich der unbestrittene Star des Abends, die Wandlung von einem Naivchen zur Gangster-Bossesse war überzeugen.
Thomas Eisen und Christian Friedel kämpften zwar wacker, verloren aber am Ende dann doch deutlich gegen mein Lieblings-Duo Tom Quaas und Tim Grobe, die vor sieben Jahren diese Bretter bespielten. Lag sicher auch an der „taktischen Marschroute“.
Übrigens auch wieder ein sehr schönes und informatives Programmheft.
Noch zwanzig Jahr zu arbeiten …
„Die Firma dankt“, UA von Lutz Hübner, in der Regie von Susanne Lietzow gesehen am 22. April 2012 im Staatsschauspiel Dresden
Eine Parabel zwischen alter und neuer Arbeitswelt, sie handelt vom verlorenen Wert von Verdiensten, vom Neu-Erkämpfen-Müssen seiner Position, vom Spielen nach unbekannten Regeln, von den Schmerz-Grenzen erhaltener Demütigungen. Lutz Hübner lässt einen Mittvierziger die „Neuaufstellung“ seiner Firma durchleben und durchleiden. Am Ende muss jener erkennen, dass für ihn kein Platz mehr da ist, den er ohne Selbstaufgabe ausfüllen könnte.
Adam Krusenstern muss warten. Warten im Gästehaus seiner frisch übernommenen Firma, die ihn zu diesem Wochenende einbestellte. Ihn, den letzten verbliebenen Abteilungsleiter, alle anderen wurden vom neuen Management schon entsorgt. Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet, Rauswurf, Degradierung oder Beförderung.
Auch die ersten Begegnungen machen ihn nicht klüger. Hier scheinen alle keine Nachnamen zu haben. Kein Zeitplan, keine Tagesordnung, so ein Chaos hat Adam in 20 Jahren Betriebszugehörigkeit noch nicht erlebt. Die Assistentin umschwirrt ihn (oder überwacht sie ihn?), die beißlustige Personaltrainerin gibt abwechselnd den guten und den bösen Bullen, der neue Personalchef bleibt ganz allgemein in seinen Sprechblasen. Alle sind irgendwie unter Spannung. Nur der mutmaßliche Praktikant ist überlocker, Krusenbergs Ratschläge zu Umgangsformen belustigen ihn. Hier prallen Welten aufeinander.
Krusenberg spürt, dass etwas von ihm erwartet wird. Er beruft ein Meeting ein, aber es wird ein Desaster. Schon am Gestühl scheiternd, verhungert er bei seinem Schaulaufen vor einem desinteressierten Kreis. Demütigung durch Ignoranz. Das Auftauchen des jungen Schnösels, den alle wer weiß warum anhimmeln, lässt die Besprechung endgültig platzen. Die Teilnehmer widmen sich wichtigeren Dingen.
Nur der selbstgewisse Schnösel bleibt, versaut erst Adams Anzug und dann endgültig dessen Laune mit seinen Thesen von der modernen Wirtschaft. Erfahrung und Kompetenz sind unwichtig, die Systeme organisieren sich selbst, Produktperfektion ist irrelevant, man muss den Kaufvorgang verkaufen. Krusenstern versinkt im riesigen Sofa und taucht als Marionette wieder auf. Alles ist offensichtlich Scharlatanerie, aber diese kommt an. Doch was sollen facebook-Produkte in einem Stahlwerk? Hat er in seinen 20 Arbeitsjahren wirklich alles falsch gemacht? Ist er verdorben für die schöne neue Firmenwelt?
Die anderen sind inzwischen in Feierlaune. Der vermeintliche Praktikant Sandor ist ein umworbener Shooting-Star der New Economy, der endlich zugesagt hat, den Laden zu übernehmen. Der Aktienkurs steigt.
Die Nutzwertanalyse des frischgebackenen Chefs geht allerdings zu Krusensterns Ungunsten aus. Adam macht den üblichen Deal, Abfindung gegen geräuschlosen Abgang, besser er wird mit ihm gemacht. Mangels Personalakte muss zu seiner Verabschiedung aus seinem Dossier vorgelesen werden. Was man so alles anhäuft in zwanzig Jahren … die wissen wirklich alles.
Es ist Sandors erste selbstverursachte Kündigung, das will er sich aus der Nähe ansehen. Sein strafverschärfendes Mitgefühl und seine These, Krusenberg sei ein Oldtimer, zwar unpraktisch und kaum verwendbar im Alltag, aber sehr faszinierend, lässt jenen die Contenance verlieren. Er hat noch zwanzig Jahre zu arbeiten!
Die folgende Prügelei bleibt einseitig. Sandors geschmeidige Virtualität hat der physisch-archaischen Gewalt aus der Old Economy nichts entgegenzusetzen. Sieg durch K.O. in der ersten Runde.
Dies führte nun eigentlich zum berechtigten fristlosen Rauswurf des Übeltäters, allein Sandor fühlt sich als Warhol-Wiedergänger und erkennt eine prägende Szene aus dessem Leben: Das Valerie-Attentat. So einen könnte er doch gut brauchen? Er trifft eine Management-Entscheidung.
Die Runde ist irritiert, dass Krusenstern nun wieder im Rennen ist. Offenbar verstehen auch sie die Regeln nicht ganz. Aber nach welchen Regeln würfeln die Affen? Der Personalchef hängt seinen Golfpullover in den neuen Wind, die Trainerin nimmt erneut seine Daten auf. War ja alles schon gelöscht.
Mitten im Gespräch entspringt ihr eine flammende Rede über Würde und Selbstachtung. Sie ahnt, dass die Probleme des Krusenstern bald auch die ihren sein werden.
Adam entwickelt seine Strategie zur Würdebewahrung, reicht die innere Kündigung ein und geht auf Sabotagemission am Betriebsklima. Auch übt er schon mal Fiesigkeit am schwächsten Glied der Kette, alles natürlich präzise abgehört von Sandors Spielzeugen. Dennoch will der ihn haben, für die Skeptiker-Rolle ist er die Idealbesetzung.
Schlussszene. Während Sandor von der Old-School-Vorstellung des Krusensternschen Meetings schwärmt und dieses am nächsten Tag mit seinem neuen Team als Retro-Kapitalismus zelebrieren will und die Personaltrainerin plötzlich nicht mehr gebraucht wird („Danke, wir melden uns“), verschwindet der Personalchef vollumfänglich in Krusensterns Gesäß.
Davon unangenehm aufgestoßen, steht Adam die ganze Absurdität der Situation plötzlich klar vor Augen. Was ist die Ermordung eines Mannes gegen dessen Weiterbeschäftigung? Er geht ab, ob er den Personalchef vorher noch ausscheidet, ist nicht zu erkennen. Den Dank, Firma, begehr ich nicht.
Game over.
Wie kommen Menschen mit den immer schnelleren Veränderungen in der Arbeitswelt zurecht? Wie agieren Menschen in Systemen, die sie nicht mehr verstehen? Wie reagieren Menschen auf die Tatsache, dass man sie als nicht mehr brauchbar einschätzt? Wie fühlen Menschen, die heute noch Vollstrecker und morgen schon Aussortierter sind? Wie gehen Menschen mit Macht um?
Alle diese Fragen werden angerissen in Hübners Stück, logisch, dass sie nicht komplett beantwortet werden können. Aber er bereichert damit eine Diskussion über mindestens zwei Zukunftsthemen, nämlich der von Personalchefs gerne so genannten „Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer“ (welche inzwischen bei Mitte Vierzig beginnen) und ganz nebenbei auch zur Relevanz von virtuellen Werten in der Ökonomie. Die Gegenpole Sandor und Krusenstern (alle anderen Figuren sind nur Mittel zum Zweck) repräsentieren die alte und die neue Welt, wobei das Neue nicht unbedingt gut sein muss, nur weil es das Neue ist. Irgendeiner muss den Jungen auch erklären, dass ein Geldschein nicht größer wird, wenn man mit der bekannten I-Geste zwei Finger auf ihm spreizt.
Ich habe zahlreiche nachdenkliche Gesichter nach draußen gehen sehen, unter den meisten waren Krawatten befestigt. Der nächste Tag wird ein Montag sein, da wird Vielen Vieles bekannt vorkommen.
Nach „Frau Müller muss weg“, jener Cash-Cow des Staatsschauspiels, wo es sehr präzise um den vergleichsweise beschränkten Bereich der Schullaufbahnwahl der lieben Kleinen ging, dreht Lutz Hübner jetzt ein größeres Rad, ist dabei aber ebenso genau in den Beobachtungen und hellsichtig in den Prophezeiungen. Man sollte das Stück (auch) auf Aktionärsversammlungen spielen.
Last but not least wie immer die Schauspieler:
Julia Keiling und Annedore Bauer als Gäste standen in den großen Pumps von Ina Piontek und vor allem Christine Hoppe, die die Premiere bestritten hatten. Frau Hoppe (auf deren baldige Wiederkehr sicher neben mir sehr viele hoffen) hatte ihre Personaltrainerin weiter nach vorne in der Wahrnehmung gebracht, Frau Bauer spielte zurückhaltender. Letzteres hilft sicher der Konzentration auf die beiden Antipoden, auch wenn die Ella in ihrer Ahnung, dass auch sie bald zu den Krusensterns gehören wird, eine sehr interessante Figur ist.
Thomas Eisen ist sehr präzise besetzt, eine Rolle wie für ihn gemacht, der er ohne Abstriche gerecht wird.
Christian Clauß in seiner ersten größeren Arbeit (noch als Student begonnen) sehr sehr authentisch, mit jeder Faser das verwöhnte Jüngelchen, dessen Spielzeug immer größer wird, dem man wegen seines wachen Interesses und seiner Begeisterungsfähigkeit aber nicht wirklich böse sein kann.
Der Krusenstern ist eine Figur, bei der man vorsichtig sein muss: Zu viele können da aus eigenem Erleben mitreden. Philipp Lux nimmt sich der Aufgabe in äußerst sensibler Weise an, er zeigt keine Karikatur, keinen Revoluzzer, auch kein Opfer, sondern einen Menschen, der die Welt um sich herum nicht mehr versteht und deshalb zweifelt, ob er noch dazu gehört. Bravo.
Ich las mit Freude, dass das Stück auch in dieser Saison auf dem Spielplan stehen wird. Also noch viel Zeit, um meiner Empfehlung zu folgen: Unbedingt ansehen!
Die Metaphernschlacht im böhmischen Wald
„Die Räuber“, Friedrich Schiller, in der Regie von Sebastian Baumgarten gesehen am 20. April 2012 im Staatsschauspiel Dresden
Aus Schillers Frühwerk wird in der Regie von Sebastian Baumgarten ein Franz-zentriertes, mit zeitgeschichtlichen Metaphern vollgeladenes Schauspiel. In einer grandiosen Bühne kämpfen die ungleichen Brüder um ihre Rolle im Leben und die Gunst des zweifelnden Vaters. Durch die besondere Heraushebung von Franz und Amalia gewinnt Baumgarten einen eigenen Blick auf die Geschichte, der allerdings von einem Zuviel an Bezügen und Zitaten wieder verstellt wird.
Es ist eher eine Opernausstattung, finde ich, Bühne und Kostüme lassen die Herkunft des Inszenierungsteams erahnen. Was ja nicht schlecht sein muss.
Begonnen wird mit einer fulminanten Überraschung: Der sechsfache Hausknecht verwirrt anfangs, bereichert aber dank seiner / ihrer animalischen Beweglichkeit das Bühnenspiel ungemein. Erstes Bravo.
Man kommt recht schnell zur Sache mit Franzens Intrige. Der alte Graf von Moor will den Einflüsterungen seines Zweitgeborenen, den er immer verachtete und ihn das auch spüren ließ (die klassische schwere Kindheit) aber noch nicht recht lauschen, zumal ihm mit der vorlesenden Schwiegertochter in spe Amalia Angenehmeres winkt. Ob man diese nun unbedingt aus „Emmanuelle“ vortragen lassen muss, sei dahingestellt.
Der Graf wurde diesmal von Albrecht Goette vom Blatt gespielt, Dieter Mann war erkrankt. Aber es war dennoch zu sehen, dass die eingeschmolzene Rolle eines (hierfür überqualifizierten) Gaststars nicht bedurft hätte. Die Handlung trugen andere Figuren.
Noch winkt der „böse“ Franz nach seinen Ausbrüchen verlegen ins Publikum. Das soll sich bald ändern.
Szenenwechsel. In einer Leipziger Drill-Station (Warum eigentlich? Hier folgt doch die Ursache der Wirkung?) erhält der „gute“ Karl den verhängnisvollen Brief, der seine Terroristenkarriere begründet. So weit, so plausibel.
Franz umwirbt derweil mit den Mitteln des Schwanensee die treue Amalia, die aber standhaft bleibt. Deren Figur (Sonja Beißwenger voll gefordert in der anspruchsvollen Rolle) ist stark aufgewertet im Stück, sie verkörpert das Reine und Gute und ist damit in der Unterzahl.
Dennoch hat die Welt sich umgedreht, nur ist der erste Platz in Vaters Herzen derzeit nicht vergeben. Karl muss endgültig weg, das ist klar, und doch will Franz es nicht gern selbst getan haben. Der Plan muss nochmal in die Intrigenschmiede.
Franz als armer Tor? Im Spielplan verrutscht? Auch schön, Faust hatten wir lange nicht am Hause.
Gesucht wird nun ein Werkzeug, ein Pferd aus Troja, um des Vaters Herz zu stürmen. Der Zombie Hermann (muss ich wohl nochmal nachlesen) steht bereit. Zwar glaubt der Alte die Geschichte vom heldenhaften Ableben seines gefühlt einzigen Sohnes, mobbt Franz aber weiter. Und am Tode des armen Karl will er nicht schuld gewesen sein, erst recht nicht Franz, der nur mal kurz Hände waschen muss.
Nun hacken fünf Zwerge Holz im Takt zu Melodien aus Winnetou. (Ja, ich weiß, das Bild soll ein anderes sein, aber das hier ist ja mein Bild) Über den seltsamen Auftritt der Nonnen breiten wir den Mantel des Schweigens. Der Räuber, Brandschatzer und GEZ-Betrüger Karl von Moor wandelte sich wohl zwischenzeitlich zum Stülpner Karl oder allgemeinverständlich zum Robin Hood. Dann sind es sieben, die nach getaner Räuberarbeit friedlich das Abendessen einnehmen, kalorienarm und alkoholfrei. Nur ein Schneewittchen fehlt zum Idyll.
Der alte Mordbube Schufterle muss gehen, er passt nicht mehr zum gelifteten Markenauftritt. Allein, es ist zu spät, die Bande ist umzingelt. Karl ist fortan für die Durchhalteparolen zuständig, und da keiner der Genossen den Chef ausliefern will, kommt es bald zum großen Showdown. Aber erstmal ist Pause.
In der Vermutung, einen erholten Zuschauer vorzufinden, lässt Regisseur Baumgarten dann aus allen Rohren Metaphern in die Menge feuern.
Wir ertragen eine Grundsatzrede des Franz mit den üblichen Versatzstücken. Damit man es auch nicht falsch einordnet, gibt es Bilder von brennenden Büchern und Reichstagen dazu. Aha. Die lauwarme Symbolik des 33-45-89 ist ein erstes Buh wert.
Das zweite gibt es für das simple Bild mit Kampftrommeln und Runenschrift, das allein durch Lautstärke imponiert.
Irgendwann in der ersten Halbzeit wurde der Kapitän ausgewechselt, sprich Graf von Moor ging von uns. Ich gestehe, ich hab es nicht mitbekommen. Jedenfalls steigt jener wieder aus der Gruft und verleitet Amalia zu einer seltsamen Sprecharie. Der mit sauteuren Rosen auf der Szene erscheinenden Franz erhält von ihr mit ebenjenen eine ordentliche Tracht Prügel. Dann wird’s aber unappetitlich. Für alles zusammen Buh Nummer Drei.
Zurück im Wald, Karl ist den Häschern wie auch immer mit geringen Verlusten entronnen. Was den böhmischen Recken nicht glückte, gelingt dann aber einem Paterchen mit einer rührenden Geschichte, die Karl verdammt an die eigene erinnert. Spontan beschließt er, gen Franken, nach Hause zu ziehen.
Eh es untergeht: Das Bühnenbild ist eine wundersame Allzweckkonstruktion, die gefühlt ein Dutzend Szenenbilder ermöglicht. Bravo Zwo ist fast zuwenig des Lobes.
Jenes Bühnenbild muss dann auch irgendwie Afrika abbilden. Hm. Das wird schon alles seinen Sinn haben.
Die Wiederbegegnung mit Amalia findet teil-inkognito mit Karl als Großwildjäger statt. Dann gibt es noch eine angedeutete Titanic-Bug-Szene, ist ja grad Jahrestag. Ich ahne, das nimmt kein gutes Ende.
Zumindest für Spiegelberg, den Vize der Räuberkompanie, tritt dies schnell ein. Seine eigene Meuterei überlebt er nicht. Die Kameraden sind treu wie … ich kenn mich da nicht so aus.
Franz hat offenbar auch eine Farm in Afrika. Aber das bekommt ihm nicht, er wird vor Angst fast wahnsinnig und klärt vorsichtshalber seine Beziehung zur Religion. Richtig weiter bringt ihn das nicht, er bringt sich aus Angst vor dem Tode um. Offiziell heißt das „er richtete sich selbst“, in praxi versaut er erst seine Unterwäsche und haucht nachher recht unspektakulär sein Leben aus. Franz Moor hat seine Schuldigkeit getan, er kann vergehen.
In der Folge setzt ein Massensterben ein, das Geschehen wird unübersichtlich. Der Schweizer ist offenbar eher ein Samurai, Amalia leistet ihren Beitrag zum Thema „Sterbehilfe“, einige andere werden auch noch vermisst. Man weiß nicht recht, wer am Ende noch am Leben ist, aber zum Schlussapplaus sind alle wieder da.
Ist das zu albern? Mag sein, aber mit dem Ausflug nach Afrika ging mir die Ernsthaftigkeit flöten, tut mir leid.
Die unfreiwillige Krönung: Der fiese Räuber Namenlos wird zum Geburtshelfer und nimmt das Kindlein der sterbenden Amalia, nun ja, entgegen. Die angedeutete Entbindung der A. verdient den Peinlichkeitspreis 1. Klasse. Am Nabelschnürchen.
Der alte Moor vergeht nicht und lebet ewiglich, lernen wir in der Schlussszene. Sogar mit neuer Amalia. Aber nun kann uns nichts mehr erschüttern. Ende, der Applaus herzlich, aber nicht so üppig wie gewohnt.
Zu zwei Hauptdarstellern ist noch nichts gesagt worden: Matthias Reichwald hat den ihm gelassenen Raum meist genutzt, die Motive von Karl traten aber nicht so klar zutage, wie ich es mir gewünscht hätte. Das ist aber vor allem eine Frage der Regie.
Wolfgang Michalek war unbestritten der Star des Abends, der die Szenerie dominierte. Die Monologe waren grandios, im Spiel mit den anderen blieb er aber seltsam blass. Dennoch eine hervorragende Leistung.
Nein, es war nicht so, dass ich nur „böhmische Wälder“ verstand, wie Amalia so hübsch sagte. Es ist auch nicht so, dass mir das Stück gar nicht gefallen hätte. Ich hatte mir nur mehr versprochen.
„Die Räuber“ sind Allgemeingut am Theater, selbst ich hab schon drei Inszenierungen davon gesehen. Es ist sicher schwer, noch etwas Neues hineinzuinterpretieren. Aber willkürlich die Zeitgeschichte ins Stück zu pressen, reim dich oder ich fress dich, kann es auch nicht sein. Weniger wär hier mehr gewesen.
Übrigens, auch mal interessant: Vergleichende Rezensionsstudien.
Was sonst nur die Presseabteilung für die hauseigene Wandzeitung macht, hab ich für den Privatgebrauch getan (nein, ich hab nicht abgeschrieben oben, höchstens ganz wenig, und wenn überhaupt, dann nicht mit Absicht).
Erfreulicherweise wird unser Viertelprovinz-Theater immer öfter überregional wahrgenommen, und der Name Baumgarten ist stets für einen Skandal gut. Trotzdem gab es außer den drei üblichen Verdächtigen (SächsZ, DNN und nachtkritik.de) bis dato nur eine Besprechung in der Frankfurter Rundschau (wortgleich in der Berliner Zeitung) und eine in der Freien Presse aus Chemnitz, die ich fand.
Einig sind sich alle, ein opulentes Werk gesehen zu haben und finden Begriffe wie Schauspiel- bzw. Ton-, Musik- und Bildergemälde, Gesamtkunstwerk oder Deutschland-Installation. Allerdings werden auch Bezeichnungen wie inszenatorischer Budenzauber, Symbolwald oder Mammutabend verwendet, die das Unbehagen über ein Zuviel an Metaphern ausdrücken.
JedeR RezensentIn ergeht sich in Lobpreisungen von Wolfgang Michalek, hier soll nur die schönste wiederholt werden: „Er ist ein Böser, der in jedem Moment anders böse ist“. Wirklich unbestritten ist das ein Michalek-Abend, dem allerdings zu Gute kommt, dass das Stück von Regie und Dramaturgie konsequent auf Franz Moor ausgerichtet wurde.
Alle anderen Darsteller laufen mit einem respektvollem Abstand ein, auch der sonst hochgeschätzte Matthias Reichwald und Alt- und Gaststar Dieter Mann. Lediglich die FR sieht Sonja Beißwenger als Amalia auf Augenhöhe und erkennt Facetten, die den Kollegen offenbar verborgen blieben.
Das Gesamturteil der Rezensenten liegt dicht beisammen. Einig ist man sich, dass man immer noch einen Schiller sah (was nicht selbstverständlich sein soll), dessen Vorlage dramaturgisch geschickt in Richtung Franz gedreht wurde. Die aktuellen Bezüge waren nicht immer schlüssig, die Menge an Bezügen und Anspielungen drückte die Handlung teilweise beiseite. Gewisse Längen nach der Pause bemerkten drei der Schreiber, mit der Dauer von immerhin drei Stunden waren alle nicht recht glücklich.
Dennoch ging keiner unzufrieden nach Hause, man sah ein interessantes, diskussionswürdiges Stück und zum Teil erstklassige Schauspielerleistungen.
Tja, wenn man also genug Rezensionen nebeneinander legt und noch die eigene laienhafte Meinung hinzu nimmt, kriegt man fast ein objektives Bild, oder?
Egal, ob Objektivität oder qualifizierte Subjektivität: Ich empfehle hinzugehen und sich selbst ein Bild zu machen. Das nächste Mal .. siehe Spielplan. In diesem Theater.
Fröhlicher Nachruf auf das Käthchen von Dresden
„Das Käthchen von Heilbronn“, von Heinrich von Kleist, in der Regie von Julia Hölscher, gesehen am 5. Juni 2012 im Staatsschauspiel Dresden (letzte Vorstellung)
Warum schreibt man über letzte Vorstellungen? Weil man es vorher nicht gemacht hat. Weil es angebracht ist. Weil es gut war und das auch gesagt werden muss. Weil man sich bedanken will.
Theobald Friedeborn, Waffenschmied in Heilbronn, hat es nicht leicht im Leben. Erst stirbt die Frau, dann dreht die Tochter beim Anblick eines Ritters durch und stürzt sich aus dem Fenster. Kaum halbwegs genesen, läuft sie davon und fortan dem Grafen Wetter vom Strahl wie ein Hündchen hinterher. Das kann nur mit Zauberei zugehen. Der Kaiser soll es richten.
Eine nüchterne Szenerie bei Gericht, vor dem Vorhang. Der Kaiser hört den Theobald an, der vom Strahl, angeklagt als Mädchenverderber, ist peinlich berührt, kann nichts entgegenhalten und nichts erklären. Käthchen wird als Zeugin geladen, erkennt das Gericht aber nicht an, ihr hoher Herr ist der Graf. Also muss der das Verhör machen, was er auch hochnotpeinlich tut und trotzdem am Ende mit blütenweißem Hemde dasteht. Käthchen antwortet auf jede Frage in hilfloser Verwirrtheit, am Ende ist man so klug als wie zuvor. Also Freispruch aus Mangel an Beweisen, Theobald nimmt sein widerstrebendes Kind mit, aber nicht für lange, wie wir ahnen. Der Ärger fängt erst an.
Diese erste halbe Stunde ist übrigens ein schöner Beleg dafür, dass man ein Bühnenbild nicht immer braucht. Vier erstklassige Schauspieler reichen aus, dann entsteht das Bild von ganz allein im Kopfe.
Graf Wetter hat eigentlich andere Sorgen. Ihm gehört ein Ländchen, das einen unklaren Grundbucheintrag zu haben scheint. Zumindest bemüht sich Kunigunde von Thurneck nach Kräften, dieses zu erlangen und setzt hier entschlossen die Waffen der Frau ein (um sich mal auf dieses Niveau zu begeben). Zwei wackere Ritter hat sie schon im Kampf gegen den Grafen Wetter vom Strahl verschlissen, eh sie im Walde von ebenjenem dem enttäuschten Liebhaber Burggraf von Freiburg abgejagt wird. Es dauert eine Weile, ehe alle Beteiligten wissen, wer das Gegenüber ist, aber dann wird flugs das Kriegsbeil begraben. Kunigunde orientiert sich hurtig und erfolgreich um. Der kundige Zuschauer mag da an die Büchse der Pandora denken, die der Wetter da auf die heimische Burg schleppt, aber es ist zu spät. Er hat schon angebissen.
Käthchen erscheint wieder auf der Burg. Aber da ist ja schon das Fräulein Kunigunde. Der Graf jagt sie vors Tor, sie kampiert im Unterholz nahe der Burgmauern, bis ihr Vater erscheint und nach einem Befehl des Grafen Wetter an Käthchen sein Töchterlein wieder mitnimmt. Aber nun will sie ins Kloster, was ihm auch nicht die beste Lösung dünkt. Zurück darf sie jedenfalls auf des Grafen Geheiß nicht mehr. Für einen solch bedingungslosen Gehorsam sorgen sonst nur Religion, Ideologie oder diverse Substanzen. Aber dabei ist der Aufwand deutlich größer. Ach, die Lie-hi-hiebe …
Der Rheingraf vom Stein tritt auf, noch ein Bekloppter mehr im Rund. Auch er ein abgelegter Verehrer, auch er voller Rachegelüste. „Töten, töten!“ So richtig glaubt er seinem Rufen auch nicht, aber die Regeln sind nun mal so. Die Ritter sind bitter, wenn die Ehre nicht stimmt. Also rüstet er zum Überfall auf Schloss Thurneck, wo die frisch Verlobten inzwischen angekommen sind. Dort schweben diese auf einer rosa Wolke, bis nun wieder Käthchen Überall auftaucht und einen Brief präsentiert, den sie (Achtung, Kleistscher Kunstgriff) in dem ihr zugedachten Kloster erbeutet hat und der den feigen Anschlag ankündigt. Eh der Graf sie ernst nimmt (eigentlich tut das nur der Knappe Gottschalk), brennt die halbe Burg. Der Rheingraf ist angekommen und erklärt beiläufig, dass jetzt Krieg wäre.
Und nun die Schlüsselszene, oder zumindest eine davon. Kunigunde beklagt tränenreich den Verlust eines Bildes, das der Graf ihr verehrte, Käthchen Immerbereit stürzt sich ins Feuer und rettet dieses auf wundersame Weise. Doch sie erntet Undank: Nicht das Bild entbehrte Kunigunde, sondern das schlichte Futteral. Graf Wetter zweifelt erstmals an den sozialen Kompetenzen seiner Braut.
Zwischenzeitlich ist der Angriff abgewehrt, und in den Trümmern des Schlosses findet sich doch tatsächlich besagtes Futteral. Gottschalk entdeckt darin die Schenkungsurkunde fürs Ländle an Fräulein Kunigunde, ein Verlobungsgeschenk des Grafen. Aha! Da liegt der Hund begraben! Das ist des Pudels Kern! Wir erkennen zum einen Kunigundes praktischen Sinn und zum anderen, dass in diesem Falle Licht und Rauch eine tolle Szene perfektionieren. Das Publikum wird einigermaßen erschöpft in die Pause entlassen.
Erwähnte ich schon, dass ich der letzten Aufführung beiwohnte? Das Käthchen lief fünfundzwanzigmal, nun ist Schluss. Eigentlich schade, aber … Na ja, dazu später. Die zweite Hälfte beginnt metaphysisch. Graf Wetter weiß nicht recht, was ihm geschieht und vor allem nicht warum. Käthchen schläft rührend süß auf der Wiese, doch bevor der Graf auf dumme Gedanken kommen kann, spricht sie im Traum mit ihm. Ergebnis des angeregten Disputs: Irgendwie müssen sie beide parallel denselben Traum gehabt haben, sind sich gegenseitig erschienen, sie dabei von kaiserlichem Blute. Geht denn das? Alles ein bisschen viel für ihn. Käthchen des Kaisers Tochter? Und nu?
Aber Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, stellt sich fortan aktiv seinem Schicksal. Auch dies eine Schlüsselszene, es offenbaren sich die Parallelwelten. Der Knappe Gottschalk (sehr ironisch Christian Friedel) hat das Talent, mit einem Satz die weihevolle Stimmung platzen zu lassen. Dann entdeckt Käthchen auch noch zufällig das eher nicht so süße Geheimnis von Kunigunde, deren Schönheitsoperationen wohl nicht immer ganz nebenwirkungsfrei waren. Diese schwört Rache, die natürlich ihre Zofe ausführen muss. Allein dazu kommt es nicht mehr. (Ohne ihre Gottschalks und Rosalies wären die hohen Herren übrigens ziemlich aufgeschmissen, aber das nur am Rande.)
Der Kaiser (wie lästig ihm das alles ist, zeigt überzeugend Ahmad Mesgarha) ist not amused über die Andichtung einer Vaterschaft, das greift ja auch in Erbregelungen ein. Theobald als angeblich Gehörnter soll es richten und muss als Duellant ran, in seinem Alter. Ein Gottesurteil soll es werden. Und wird es auch. Graf Wetter (Wolfgang Michalek sehr glaubhaft in der Wandlung vom Irritierten zum Liebenden) zwingt den armen Ex-Vater nur durch seinen Blick in die Knie. Damit wäre auch das geklärt.
Nun steht eine Hochzeit vor der Tür. Der Bräutigam steht fest, die Braut eigentlich auch, aber … Das Schicksal dreht sich. Ein leutseliger Kaiser erinnert sich eines Festes vor knapp 17 Jahren in ebenjenem Heilbronn und an die amouröse Begegnung mit einer Gertrud. Nun muss Theobald wieder leiden, denn Gertrud hieß seine Verblichene. Deren Tochter wird spontan mit dem Titel „Katharina von Schwaben“ versehen, schon mal nicht schlecht für den Anfang. Dann wird sie noch dem Grafen als Braut zugeführt, nun ist es ja auch standesgemäß. Theobald (authentisch in seiner Verzweiflung Torsten Ranft) wird mit lebenslang Kost und Logis abgefunden, immerhin, eine Belohnung für die Aufzucht des Kuckuckskindes.
Nun wird ordentlich geknutscht und Liebe gestanden, dann auch geheiratet. Es zieht sich jetzt ein wenig. Kunigunde (gewohnt zickig Rosa Enskat) ist bei der Feierei übrig und sehr allein, selbst ihre Rosalie walzert mit. Ein wunderschönes Käthchen (Annika Schilling in einer Rolle, die Kleist für sie geschrieben haben könnte, anrührend und begeisternd) sitzt am Ende an der Bühnenkante und kann ihr Glück kaum fassen.
Vorhang. Riesengroßer Applaus.
Eigentlich ist die Geschichte ja hanebüchener Unsinn (auch Goethe war da übrigens meiner Meinung). Da wird ein Mädchen allein vom Anblick eines Ritters willenlos. Da fliegt ein Todkranker durch die Silvesternacht, da holt ein junges Ding barfuss ein Bildchen aus einem brennenden Haus. Alles macht der Cherub. Und dann entpuppt sich die Prinzessin Kunigunde noch als eine Art Homunkulus. Ziemlich starker Tobak. Wie zu lesen ist, war auch Kleist der Meinung, dass da noch ein wenig Feinschliff nötig wäre. Aber die Zeit hatte er ja nicht mehr. Trotzdem – oder gerade deshalb – eine wunderbare Spielwiese für die Inszenatoren.
Und die haben sie weidlich genutzt. Es war eine sehr unterhaltsame Aufführung, ohne in Klamotte abzurutschen, wie in letzter Zeit einige Male vorgekommen. Die „25.“ hätte für mich nicht der Schluss sein müssen, auch die Begeisterung des zugegebenermaßen nur halbvollen Saals am Ende gibt mir Recht.
Aber alles hat natürlich ein Ende, und schafft dann Platz für Neues. Also wünsche ich mir für die Zukunft ähnliche Inszenierungen, von Julia Hölscher und mit Annika Schilling, Wolfgang Michalek, Torsten Ranft und all den anderen. Aber erstmal „danke“ bis hierhin.
Der Totmannknopf im modernen Theater
Sechs ältere Herren und die Bühne*
MDR Figaro – Café „Was heißt Theater heute?“ am 16.09.12 im Schauspielhaus Dresden
*Gut, man soll nicht mit Zitaten werfen, wenn man im Altglashaus sitzt, aber das wird man wohl noch sagen dürfen?!
Schweres Parfum liegt über dem Foyer, das Dresdner Bildungsbürgertum aus Loschwitz und Umgebung ist vollzählig angetreten. Der MDR huldigt dem Staatsschauspiel Dresden zum 100. mit einem Figaro-Radiocafé, das verpasst man nicht.
Zielgruppengerecht wird die ZEIT angeboten, auch ich lasse mich becircen, der 111 Fragen gedenkend, die im dieswöchigen Magazin drin stehen. Da gibt es bestimmt auch hübsche Bilder zu.
Schamhaft gebe ich die bunte Tüte aber an der Garderobe an, muss ja nicht gleich jeder sehn.
Die nächste Versuchung: Der Figaro – Stand hat hübsche give-aways. Der Kuli schreibt sogar, und ich erfahre am Rande, dass die Marketing-Fuzzies vom MDR „Hauptabteilung Kommunikation“ heißen. Soll ich lachen oder weinen?
Es dürften im Saal einige zu finden sein, die mit diversen Hauptabteilungen schon zu tun hatten. Ja, des MfS meine ich. Aber das muss man nicht wissen als schwäbischer Organisationsentwickler.
MDR Figaro, der beste und einzige Kultursender in ganz Ostmitteldeutschland, hat geladen. Live-Übertragung? Ogott, ich bin gar nicht rasiert! Radio, ach so. Na gut.
So sieht also der Bille aus. Er wärmt erstmal auf und entschuldigt sich für die reine Männerrunde. Die Damen hätten alle keine Zeit gehabt. Nun ja. Ich will es mal glauben. (Auch wenn ich ein Freund des Spruches „Mädchen sein allein ist keine Tugend“ bin, hätte der Debatte Weiblichkeit sehr gut getan, z. B. Friederike Heller, die vorgestern erst mit der Dreigroschenoper einen fulminanten Erfolg feierte, hätte gut aufs Podium gepasst.)
Für die weitere Zusammensetzung der Runde entschuldigt sich Thomas Bille nicht, obwohl er allen Grund dazu hätte. Es diskutieren über das Theater von heute: Zwei Intendanten, ein Alt-Intendant und Alt-Regisseur sowie zwei Groß-Kritiker. Theater wird beim MDR offenbar von oben gesehen. Oh, hat der Himmel keinen Nachwuchs mehr? Kein frischer Autor, kein junger Regisseur und natürlich auch keine Schauspielerin hat es in die Runde geschafft. Wozu auch. Der Ansatz der Veranstaltung ist offenbar ausschließlich huldigend angelegt. Aber dazu später.
Bille witzelt sich durch den Soundcheck, latscht treffsicher in das Fettnäppchen „Waldschlösschen“-Brücke und plaudert aus dem Nähkästchen des Radio-Marketings. Er hat das Publikum im Griff, vor allem die älteren Damen stehen sehr auf ihn. Unter uns Pfarrern nennt man die Kanzelschwalben, aber das gehört hier nicht hin.
Hilfreich der Hinweis, dass man das Ganze auch als podcast auf figaro.de nachhören kann. Nun kanns losgehen, wir warten auf das Ende der Verkehrsdurchsagen.
Übrigens, weil es gerade passt: Kann mir jemand mal den Sinn der „Blitzer“-Warnungen auf Figaro erklären? Die Zielgruppe fährt doch eh mit Hut.
Gut, kein Witz ist zu billig, um unter den Tisch zu fallen, aber ganz im Ernst: Mich piepen diese blöden Durchsagen an, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich da der Einzige bin. Letztlich ist das Strafvereitelung, und neben einer katzbuckelnden Anschleimerei an die Auto fahrende Hörerschaft kann ich da keinen Sinn entdecken.
Jetzt also live, sonor kommt nochmals die öffentliche Buße zur nicht erfüllten Frauenquote, dann geht’s los. Das Parkett ist gut gefüllt, ich habe keine Lust zu rechnen, knapp 500 Menschen werden es wohl sein.
Die erste Frage nach der persönlichen Erweckung der Theaterbegeisterung ist so erwartbar wie die Antworten, nur Wolfgang Engel (Alt-Intendant des Schauspiel Leipzig und renommierter Regisseur) tanzt aus der Reihe: Seine alleinige Zwangsteilnahme im zarten Alter an Hamlet erinnert mich an die Blechtrommel, Oskar wurde dort allerdings aus sehr eindeutigen Gründen im Spielzeugladen abgegeben. Aber ich will hier nichts unterstellen.
Schön das Zitat „Theater ist dort, wo es schön ist“.
Damit hätte die Runde eigentlich enden können, aber es ist noch viel Zeit bis zur nächsten Sendung (originellerweise das Chor-Magazin, den Scherz versteht man vielleicht erst später). Thomas Bille schmunzelt sein „Was-bin-ich-für-ein-toller-Hecht“ – Schmunzeln und übergibt erstmal ans Klavier (Stephan König).
Danach geht es um die Definition. Peter Michalzik (u.a. Frankfurter Rundschau) hat ein Buch geschrieben, in etwa „Die sind ja nackt und wollen nur spielen“, eine Art Gebrauchsanweisung für heutiges Theater. Die will ich lesen und hoffe, sie ist nicht so unverständlich wie die meiner Waschmaschine. Theater ist eine Art Gottesdienst, ja, und dass zweieinhalbtausend Jahre alte Worte heute immer noch funktionieren, ist ein Mysterium. Nochmal ja.
Winfried Schulz als Hausherr stellt dann klar, dass Theater immer nur in Bezug auf die Gegenwart stattfinde und kein Museum sei. Keine Widerrede, ist so.
Ein wenig streitig dann seine These, dass der Text nur eine Dimension von mehreren im komplexen Erlebnisses Bühnenstück sei, neben Licht, Bühne, Gestik usw.. Er erntet leisen Widerspruch, auch ich würde dem Text schon das Primat zubilligen, wir sind ja nicht beim Ballett.
Peter Kümmel, Kritiker der ZEIT, begeistert sich für die Klassiker als das Öl für die Theaterlampe, dank der Sprachgewalt der Texte sei alles herausholbar, fast jede aktuelle Interpretation sei möglich.
Der Intendant des DT Berlin, Ulrich Khuon, der gleichzeitig den Deutschen Bühnenverein repräsentiert, bezeichnet die Dialoge als Kampf, der Zuschauer habe Gelegenheit, an Konfrontationen teilzunehmen, die im „richtigen Leben“ oftmals nur unterschwellig ausgetragen würden.
Man ist sich sichtbar einig, dass man dem Zuschauer nicht nach dem Munde spielen dürfe, und dass es das homogene Publikum ohnehin nicht gäbe. Phantasie wäre zu jeder Vorstellung mitzubringen.
So weit, so banal. Das Gespräch plätschert auf hohem Niveau dahin, die einheitlich unkrawattierten Herren sind entspannt und souverän.
Herr Schulz zündelt ein bisschen, als er das Theater als großen Verschwender bezeichnet, das nicht recht haben müsse, sondern nur Vorschläge mache. Mir persönlich wäre das zu unverbindlich, und ich glaub auch nicht, dass er das so meint. Theater hat eine Verantwortung, dafür wird es von allen bezahlt und dazu ist es schlicht da. Das Wort „Bildungsauftrag“ scheint mir gerade groß genug. „Kritisches Dafür-Sein“, auch das trifft es.
Khuon schlägt den Bogen zu den zwischenmenschlichen Beziehungen, die auch ausgeleuchtet gehören, schließlich ist Mensch hier sonst mit sich ziemlich allein. Wie leben wir miteinander? Und warum? Und warum nicht anders? Am Theater werden ständig Konflikte ausgetragen, der Zuschauer muss Differenzen aushalten. Man kann nicht alles den Psychotherapeuten überlassen.
Der folgende Schwenk zur Stütze der Demokratie misslingt. Ich frage mich, wo Thomas Bille seine krude These hernimmt, dass Theater in Diktaturen besonders gut funktioniere. Hat er nie „Mephisto“ gesehen? Dass man das für die DDR halbwegs behaupten kann, zeigt ja nur, dass nicht mal die Diktatur hier richtig funktionierte.
Kümmel beschreibt dann sehr poetisch, dass jeden Abend um 20.37 Uhr auf hundertfünfzig deutschen Bühnen ein Wunder geschehe. Ja, so ist es. Eifriges Nicken eint die Runde, alle lieben das Theater. „Die Luft sei freier am Theater“, auch das stellt niemand in Frage.
Der Vorteil der Runde, der Verzicht auf den üblichen Talkshowklamauk, ist auch ein Nachteil. Es nimmt kaum jemand Bezug auf einen anderen, eigentlich sind das fünf parallele Interviews.
Die Diskussion über Demokratie am Theater wird dann ein bisschen putzig. Der Ponyhof, der da geschildert wird, dürfte den Realitätstest nicht überstehen, und die bösen Patriarchen, die brüllend über die Bühne marschierten, sollten (auch) an den Ergebnissen gemessen werden.
Wolfgang Engel endlich spricht es aus. Der Theaterbetrieb ist per se undemokratisch, und das ist gut so. Außerdem könne er als alter Intendantensack gar nicht richtig mittuten im Kanon der Basisdemokratie.
Thomas Bille schwenkt zur Bürgerbühne. Ein Dresdner Unikat, mit dem Antritt von Wilfried Schulz gegründetes Erfolgsmodell eines Theaters von Bürgern (mit professioneller Unterstützung) für Bürger. Die „Spezialisten des Alltags“ geben hier authentisch Auskunft. Der Beschreibung, dass hier (nur) Menschen am Rande ein Podium gegeben würde, widerspreche ich allerdings energisch. Die Bürgerbühne ist in der Mitte der Gesellschaft genauso beheimatet wie an deren Rändern.
Schulz lässt sich voller Begeisterung dazu hinreißen, der am Vortage phänomenal gestarteten „Jungfrau von Orleans“ 30 Abende in dieser Saison zu versprechen. Na schaunmermal. Seine emphatische Erklärung des Ganzen, sein Bild des „Wärmestroms mit der Stadt“ und seine Hervorhebung von Miriam Tscholl, die das Ganze verantwortet, sind dann aber der stärkste Teil des Nachmittags.
Bille fragt listig nach dem cleveren Geschäftsmodell, mit Freunden und Verwandten der Darsteller das Haus zu füllen, aber Schulz lässt ihn abtropfen. Ja, klar, auch das, aber nur ein angenehmer Nebeneffekt.
Herr Khuon ist ein wenig pikiert (gehört so was nicht eigentlich nach Berlin?) und versucht zu relativieren. Allein, ohne Kenntnis der Details – was man ihm kaum vorwerfen kann – geht das ins Leere.
(Ein schöner Anschauungsunterricht zu den vielen Vorzügen und tolerierbaren Nachteilen der Bürgerbühne war am selben Abend übrigens „Ja, ich will.“ im Kleinen Haus, wieder ein beeindruckendes Beispiel für Ausdrucksstärke und Öffnungsbereitschaft der Darsteller.)
Nachdem berechtigterweise die Layouter der Hefte zur 100. Saison gelobt werden, schießt Thomas Bille ein schönes Tor mit dem Vergleich des Wiener Burgtheaters mit dem FC Bayern. Wilfried Schulz fühlt sich aufgerufen, den Tote-Hosen-Song „Ich würde nie zum FC Bayern gehen“ im Geiste anzustimmen, den man den jeweiligen Interpreten immer solange glaubt, bis sie mit dem haifischgrinsenden Uli Hoeneß die erste Pressekonferenz im neuen Sportdress geben.
Aber im Ernst: Man erklärt die Singularität der Wiener Burg als Staatsreligionsersatz und bekennt sich trotzdem zum Wettbewerb. Leider wird das Thema, ob Dresden nun in der obersten Liga mitspielen solle und wolle, nicht weiter vertieft. Man ist ja zum Feiern da.
Ebenso wenig vertieft man, ob die von Khuon erwähnten 1.800 Euro (brutto!) als Einstiegsgage für einen Schauspieler geeignet sind, die Klasse zu halten. In diese profanen Niederungen wollen wir uns heute nicht begeben.
Die Konkurrenz zum Film wird noch verhandelt, es wird beklagt, dass durch die Mikro-Ports das klassische Sprechtheater stark verändert würde.
Sehr bedenkenswert dann die Ausführungen von Kümmel zu modernen Inszenierungsmitteln, die er mit dem ADHS-Syndrom vergleicht. Aller fünfzig Sekunden muss ein Blitz kommen, damit der Zuschauer nicht wegdämmert. Die Analogie zum „Totmannknopf“ (der Sicherheitsfahrschaltung auf Lokomotiven, die im Schnitt aller 50 Sekunden betätigt werden muss, damit der Zug nicht zwangsgebremst wird und die Rückfallebene beim Umkippen des Lokführers darstellt) ist wirklich originell. Doch auch hier entspinnt sich keine wirkliche Debatte.
Ein kleiner Missklang: Sebastian Hartmann kriegt noch sein Fett weg. Nachtreten ist unfair und keiner der beiden Beteiligten hat das nötig.
Das Ende fast Poesie: Die Beschreibung der Möglichkeiten von Theater, Khuons Merksatz „Widersprüchlichkeiten erleben, aushalten, bewältigen“ und das „Recht auf Scheitern“ (nicht ausdrücklich erwähnt, aber neulich von Herrn Koall sehr schön auf den Punkt gebracht) zeugt eine noch harmonischere Runde.
Das Theater ist nicht totzukriegen, so das gemeinsame selbstgewisse Fazit, das Gemeinschaftsgefühl eines Schau-Spiel-Erlebnisses sei nicht zu digitalisieren. Auch das will ich gern glauben.
Wie soll man das nun einordnen?
Außer den bereits erwähnten Besetzungsmängeln ist kaum etwas zu bekritteln, wenn man bedenkt, was Zweck der Veranstaltung war:
Eine Art Ehren-Kolloquium wie für den Emeritus, der schon fünfzehn Jahre im Ruhestand ist und sich immer noch bester Gesundheit erfreut. Da gibt es ein bisschen Fachliches für den Rahmen, aber eigentlich freuen sich alle, mal wieder beieinander zu sein (und einige auch, überhaupt dabei zu sein). Und dann gibt es ja auch noch ein schönes Buffet.
Ein Sonntagnachmittag ohne große Erkenntnisse, aber mit dem guten Gefühl, dass man nicht allein ist mit seiner Theaterliebe.
