Der Totmannknopf im modernen Theater


Sechs ältere Herren und die Bühne*

MDR Figaro – Café „Was heißt Theater heute?“ am 16.09.12 im Schauspielhaus Dresden

 

*Gut, man soll nicht mit Zitaten werfen, wenn man im Altglashaus sitzt, aber das wird man wohl noch sagen dürfen?!

 

Schweres Parfum liegt über dem Foyer, das Dresdner Bildungsbürgertum aus Loschwitz und Umgebung ist vollzählig angetreten. Der MDR huldigt dem Staatsschauspiel Dresden zum 100. mit einem Figaro-Radiocafé, das verpasst man nicht.

Zielgruppengerecht wird die ZEIT angeboten, auch ich lasse mich becircen, der 111 Fragen gedenkend, die im dieswöchigen Magazin drin stehen. Da gibt es bestimmt auch hübsche Bilder zu.

Schamhaft gebe ich die bunte Tüte aber an der Garderobe an, muss ja nicht gleich jeder sehn.

 

Die nächste Versuchung: Der Figaro – Stand hat hübsche give-aways. Der Kuli schreibt sogar, und ich erfahre am Rande, dass die Marketing-Fuzzies vom MDR „Hauptabteilung Kommunikation“ heißen. Soll ich lachen oder weinen?

Es dürften im Saal einige zu finden sein, die mit diversen Hauptabteilungen schon zu tun hatten. Ja, des MfS meine ich. Aber das muss man nicht wissen als schwäbischer Organisationsentwickler.

 

MDR Figaro, der beste und einzige Kultursender in ganz Ostmitteldeutschland, hat geladen. Live-Übertragung? Ogott, ich bin gar nicht rasiert! Radio, ach so. Na gut.

So sieht also der Bille aus. Er wärmt erstmal auf und entschuldigt sich für die reine Männerrunde. Die Damen hätten alle keine Zeit gehabt. Nun ja. Ich will es mal glauben. (Auch wenn ich ein Freund des Spruches „Mädchen sein allein ist keine Tugend“ bin, hätte der Debatte Weiblichkeit sehr gut getan, z. B. Friederike Heller, die vorgestern erst mit der Dreigroschenoper einen fulminanten Erfolg feierte, hätte gut aufs Podium gepasst.)

 

Für die weitere Zusammensetzung der Runde entschuldigt sich Thomas Bille nicht, obwohl er allen Grund dazu hätte. Es diskutieren über das Theater von heute: Zwei Intendanten, ein Alt-Intendant und Alt-Regisseur sowie zwei Groß-Kritiker. Theater wird beim MDR offenbar von oben gesehen. Oh, hat der Himmel keinen Nachwuchs mehr? Kein frischer Autor, kein junger Regisseur und natürlich auch keine Schauspielerin hat es in die Runde geschafft. Wozu auch. Der Ansatz der Veranstaltung ist offenbar ausschließlich huldigend angelegt. Aber dazu später.

 

Bille witzelt sich durch den Soundcheck, latscht treffsicher in das Fettnäppchen „Waldschlösschen“-Brücke und plaudert aus dem Nähkästchen des Radio-Marketings. Er hat das Publikum im Griff, vor allem die älteren Damen stehen sehr auf ihn. Unter uns Pfarrern nennt man die Kanzelschwalben, aber das gehört hier nicht hin.

 

Hilfreich der Hinweis, dass man das Ganze auch als podcast auf figaro.de nachhören kann. Nun kanns losgehen, wir warten auf das Ende der Verkehrsdurchsagen.

Übrigens, weil es gerade passt: Kann mir jemand mal den Sinn der „Blitzer“-Warnungen auf Figaro erklären? Die Zielgruppe fährt doch eh mit Hut.

Gut, kein Witz ist zu billig, um unter den Tisch zu fallen, aber ganz im Ernst: Mich piepen diese blöden Durchsagen an, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich da der Einzige bin. Letztlich ist das Strafvereitelung, und neben einer katzbuckelnden Anschleimerei an die Auto fahrende Hörerschaft kann ich da keinen Sinn entdecken.

 

Jetzt also live, sonor kommt nochmals die öffentliche Buße zur nicht erfüllten Frauenquote, dann geht’s los. Das Parkett ist gut gefüllt, ich habe keine Lust zu rechnen, knapp 500 Menschen werden es wohl sein.

Die erste Frage nach der persönlichen Erweckung der Theaterbegeisterung ist so erwartbar wie die Antworten, nur Wolfgang Engel (Alt-Intendant des Schauspiel Leipzig und renommierter Regisseur) tanzt aus der Reihe: Seine alleinige Zwangsteilnahme im zarten Alter an Hamlet erinnert mich an die Blechtrommel, Oskar wurde dort allerdings aus sehr eindeutigen Gründen im Spielzeugladen abgegeben. Aber ich will hier nichts unterstellen.

Schön das Zitat „Theater ist dort, wo es schön ist“.

 

Damit hätte die Runde eigentlich enden können, aber es ist noch viel Zeit bis zur nächsten Sendung (originellerweise das Chor-Magazin, den Scherz versteht man vielleicht erst später). Thomas Bille schmunzelt sein „Was-bin-ich-für-ein-toller-Hecht“ – Schmunzeln und übergibt erstmal ans Klavier (Stephan König).

 

Danach geht es um die Definition. Peter Michalzik (u.a. Frankfurter Rundschau) hat ein Buch geschrieben, in etwa „Die sind ja nackt und wollen nur spielen“, eine Art Gebrauchsanweisung für heutiges Theater. Die will ich lesen und hoffe, sie ist nicht so unverständlich wie die meiner Waschmaschine. Theater ist eine Art Gottesdienst, ja, und dass zweieinhalbtausend Jahre alte Worte heute immer noch funktionieren, ist ein Mysterium. Nochmal ja.

Winfried Schulz als Hausherr stellt dann klar, dass Theater immer nur in Bezug auf die Gegenwart stattfinde und kein Museum sei. Keine Widerrede, ist so.

Ein wenig streitig dann seine These, dass der Text nur eine Dimension von mehreren im komplexen Erlebnisses Bühnenstück sei, neben Licht, Bühne, Gestik usw.. Er erntet leisen Widerspruch, auch ich würde dem Text schon das Primat zubilligen, wir sind ja nicht beim Ballett.

 

Peter Kümmel, Kritiker der ZEIT, begeistert sich für die Klassiker als das Öl für die Theaterlampe, dank der Sprachgewalt der Texte sei alles herausholbar, fast jede aktuelle Interpretation sei möglich.

Der Intendant des DT Berlin, Ulrich Khuon, der gleichzeitig den Deutschen Bühnenverein repräsentiert, bezeichnet die Dialoge als Kampf, der Zuschauer habe Gelegenheit, an Konfrontationen teilzunehmen, die im „richtigen Leben“ oftmals nur unterschwellig ausgetragen würden.

 

Man ist sich sichtbar einig, dass man dem Zuschauer nicht nach dem Munde spielen dürfe, und dass es das homogene Publikum ohnehin nicht gäbe. Phantasie wäre zu jeder Vorstellung mitzubringen.

So weit, so banal. Das Gespräch plätschert auf hohem Niveau dahin, die einheitlich unkrawattierten Herren sind entspannt und souverän.

 

Herr Schulz zündelt ein bisschen, als er das Theater als großen Verschwender bezeichnet, das nicht recht haben müsse, sondern nur Vorschläge mache. Mir persönlich wäre das zu unverbindlich, und ich glaub auch nicht, dass er das so meint. Theater hat eine Verantwortung, dafür wird es von allen bezahlt und dazu ist es schlicht da. Das Wort „Bildungsauftrag“ scheint mir gerade groß genug. „Kritisches Dafür-Sein“, auch das trifft es.

 

Khuon schlägt den Bogen zu den zwischenmenschlichen Beziehungen, die auch ausgeleuchtet gehören, schließlich ist Mensch hier sonst mit sich ziemlich allein. Wie leben wir miteinander? Und warum? Und warum nicht anders? Am Theater werden ständig Konflikte ausgetragen, der Zuschauer muss Differenzen aushalten. Man kann nicht alles den Psychotherapeuten überlassen.

 

Der folgende Schwenk zur Stütze der Demokratie misslingt. Ich frage mich, wo Thomas Bille seine krude These hernimmt, dass Theater in Diktaturen besonders gut funktioniere. Hat er nie „Mephisto“ gesehen? Dass man das für die DDR halbwegs behaupten kann, zeigt ja nur, dass nicht mal die Diktatur hier richtig funktionierte.

 

Kümmel beschreibt dann sehr poetisch, dass jeden Abend um 20.37 Uhr auf hundertfünfzig deutschen Bühnen ein Wunder geschehe. Ja, so ist es. Eifriges Nicken eint die Runde, alle lieben das Theater. „Die Luft sei freier am Theater“, auch das stellt niemand in Frage.

Der Vorteil der Runde, der Verzicht auf den üblichen Talkshowklamauk, ist auch ein Nachteil. Es nimmt kaum jemand Bezug auf einen anderen, eigentlich sind das fünf parallele Interviews.

 

Die Diskussion über Demokratie am Theater wird dann ein bisschen putzig. Der Ponyhof, der da geschildert wird, dürfte den Realitätstest nicht überstehen, und die bösen Patriarchen, die brüllend über die Bühne marschierten, sollten (auch) an den Ergebnissen gemessen werden.

Wolfgang Engel endlich spricht es aus. Der Theaterbetrieb ist per se undemokratisch, und das ist gut so. Außerdem könne er als alter Intendantensack gar nicht richtig mittuten im Kanon der Basisdemokratie.

 

Thomas Bille schwenkt zur Bürgerbühne. Ein Dresdner Unikat, mit dem Antritt von Wilfried Schulz gegründetes Erfolgsmodell eines Theaters von Bürgern (mit professioneller Unterstützung) für Bürger. Die „Spezialisten des Alltags“ geben hier authentisch Auskunft. Der Beschreibung, dass hier (nur) Menschen am Rande ein Podium gegeben würde, widerspreche ich allerdings energisch. Die Bürgerbühne ist in der Mitte der Gesellschaft genauso beheimatet wie an deren Rändern.

Schulz lässt sich voller Begeisterung dazu hinreißen, der am Vortage phänomenal gestarteten „Jungfrau von Orleans“ 30 Abende in dieser Saison zu versprechen. Na schaunmermal. Seine emphatische Erklärung des Ganzen, sein Bild des „Wärmestroms mit der Stadt“ und seine Hervorhebung von Miriam Tscholl, die das Ganze verantwortet, sind dann aber der stärkste Teil des Nachmittags.

 

Bille fragt listig nach dem cleveren Geschäftsmodell, mit Freunden und Verwandten der Darsteller das Haus zu füllen, aber Schulz lässt ihn abtropfen. Ja, klar, auch das, aber nur ein angenehmer Nebeneffekt.

Herr Khuon ist ein wenig pikiert (gehört so was nicht eigentlich nach Berlin?) und versucht zu relativieren. Allein, ohne Kenntnis der Details – was man ihm kaum vorwerfen kann – geht das ins Leere.

(Ein schöner Anschauungsunterricht zu den vielen Vorzügen und tolerierbaren Nachteilen der Bürgerbühne war am selben Abend übrigens „Ja, ich will.“ im Kleinen Haus, wieder ein beeindruckendes Beispiel für Ausdrucksstärke und Öffnungsbereitschaft der Darsteller.)

 

Nachdem berechtigterweise die Layouter der Hefte zur 100. Saison gelobt werden, schießt Thomas Bille ein schönes Tor mit dem Vergleich des Wiener Burgtheaters mit dem FC Bayern. Wilfried Schulz fühlt sich aufgerufen, den Tote-Hosen-Song „Ich würde nie zum FC Bayern gehen“ im Geiste anzustimmen, den man den jeweiligen Interpreten immer solange glaubt, bis sie mit dem haifischgrinsenden Uli Hoeneß die erste Pressekonferenz im neuen Sportdress geben.

Aber im Ernst: Man erklärt die Singularität der Wiener Burg als Staatsreligionsersatz und bekennt sich trotzdem zum Wettbewerb. Leider wird das Thema, ob Dresden nun in der obersten Liga mitspielen solle und wolle, nicht weiter vertieft. Man ist ja zum Feiern da.

 

Ebenso wenig vertieft man, ob die von Khuon erwähnten 1.800 Euro (brutto!) als Einstiegsgage für einen Schauspieler geeignet sind, die Klasse zu halten. In diese profanen Niederungen wollen wir uns heute nicht begeben.

 

Die Konkurrenz zum Film wird noch verhandelt, es wird beklagt, dass durch die Mikro-Ports das klassische Sprechtheater stark verändert würde.

Sehr bedenkenswert dann die Ausführungen von Kümmel zu modernen Inszenierungsmitteln, die er mit dem ADHS-Syndrom vergleicht. Aller fünfzig Sekunden muss ein Blitz kommen, damit der Zuschauer nicht wegdämmert. Die Analogie zum „Totmannknopf“ (der Sicherheitsfahrschaltung auf Lokomotiven, die im Schnitt aller 50 Sekunden betätigt werden muss, damit der Zug nicht zwangsgebremst wird und die Rückfallebene beim Umkippen des Lokführers darstellt) ist wirklich originell. Doch auch hier entspinnt sich keine wirkliche Debatte.

 

Ein kleiner Missklang: Sebastian Hartmann kriegt noch sein Fett weg. Nachtreten ist unfair und keiner der beiden Beteiligten hat das nötig.

 

Das Ende fast Poesie: Die Beschreibung der Möglichkeiten von Theater, Khuons Merksatz „Widersprüchlichkeiten erleben, aushalten, bewältigen“ und das „Recht auf Scheitern“ (nicht ausdrücklich erwähnt, aber neulich von Herrn Koall sehr schön auf den Punkt gebracht) zeugt eine noch harmonischere Runde.

Das Theater ist nicht totzukriegen, so das gemeinsame selbstgewisse Fazit, das Gemeinschaftsgefühl eines Schau-Spiel-Erlebnisses sei nicht zu digitalisieren. Auch das will ich gern glauben.

 

Wie soll man das nun einordnen?

Außer den bereits erwähnten Besetzungsmängeln ist kaum etwas zu bekritteln, wenn man bedenkt, was Zweck der Veranstaltung war:

Eine Art Ehren-Kolloquium wie für den Emeritus, der schon fünfzehn Jahre im Ruhestand ist und sich immer noch bester Gesundheit erfreut. Da gibt es ein bisschen Fachliches für den Rahmen, aber eigentlich freuen sich alle, mal wieder beieinander zu sein (und einige auch, überhaupt dabei zu sein). Und dann gibt es ja auch noch ein schönes Buffet.

 

Ein Sonntagnachmittag ohne große Erkenntnisse, aber mit dem guten Gefühl, dass man nicht allein ist mit seiner Theaterliebe.

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