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Das Auge! Das Ohr!
„Die Nase“, nach der Novelle von Nikolai Gogol, Inszenierung der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden, Regie Miriam Tscholl, musikalische Leitung Michael Emanuel Bauer, Premiere am 28.09.2013
Ein szenisches Konzert? Oder ein Ballett dieser Art? Eine Burlesque, ein Bürgerchor? Video-Kunst? Ein Comic mit Menschen? Ein atonales Ereignis? Clownerie? Großes Kino? Ein Singspiel? Eine Farce? Ein Dramolette? Eine Semi-Opera? Gar ein Hörspiel unterm Theaterdach? In Momenten auch ein Wutstück?
Eine quietschbunte Revue, das auf jeden Fall. Und Schwerstarbeit für die Technik, das auch.
Miriam Tscholl hat einen Parforce-Ritt durch alle Genres organisiert und nennt das bescheiden ein Musikspiel. Gogols „Nase“, jene absurd-komische Parabel vom Verlust der eigenen Nase und damit auch der Identität, bildet die Vorlage und den Handlungsrahmen. Aber das Stück ist weit mehr, ein Monument der Spiel- und Sangesfreude, der überbordenden Lust am (Sich-) Ausprobieren, ein neues Flaggschiff der Bürgerbühne.
Die grellen Kostüme und teils auch die Frisuren lassen einen an die Siebziger denken, YMCA-hej. Doch gegen Ende kommen Klamotten (Sabine Hilscher) und Darsteller (zehn an der Zahl, ich verbiete mir, jemanden herauszuheben) im Heute an. Wiederum geniale Video-Schnipsel von Sami Bill, Breitband-Musik von Michael Bauer (auch wenn Parov Stelar manchmal stark durchschimmert), dramaturgisch geschickt verbunden von Julia Weinreich, die auch das lesenswerte Programmheft (u.a. mit einem schönen Zitat aus Süskinds „Parfüm“ und einer schlüssigen Erklärung, warum die Nase eigentlich die Identität ist) verantwortet, auf einer zurückhaltend-schlichten Bühne von Katja Turtl und zusammengefügt von „Miss Spielfreude“ Miriam Tscholl, die wieder nicht das Letzte, sondern das Beste aus ihren Akteuren herausholt.
Verzichtbar höchstens die unvermeidlich scheinenden Mundart-Einlagen. Ansonsten ein Genuss für alle Sinne, vom olfaktorischen vielleicht mal abgesehen.
Wer einmal einen Abend richtig gute Unterhaltung oberhalb der einschlägigen Samstagabendshows der verschiedenen Glotzen genießen möchte, möge sich an die Kasse des Staatsschauspiels Dresden wenden, dort wird ihm geholfen.
(erscheint in Kürze – so Zeus will – auch auf livekritik.de)
Das verlegene Lächeln der Minderheit
„100 Prozent Dresden“, eine Produktion von Rimini-Protokoll am Staatsschauspiel Dresden am 14. September 2013 (Premiere)
Man kennt sich im Saal, heute noch mehr als sonst. Einhundert Dresdner werden auf der Bühne stehen, die haben ihren Anhang mitgebracht, und in unserem Dorf kennt ohnehin jeder jede über drei Ecken. Wir sind also ganz unter uns.
Am Anfang fränkelt es mächtig, die Chefin des statistischen Landesamtes erklärt die Regeln. Sie macht das sehr souverän, ein paar schöne Spitzen hat sie dabei, insgesamt ist das aber viel zu lang gehalten.
Es wurden also per „Kettenreaktion“ (jede bestimmt ihren Nächsten) Menschen ausgewählt, die Dresden repräsentieren sollen. Dann der Einzelauftritt, jeder hat ein paar Worte zu sich zu sagen, das zieht sich über fast eine halbe Stunde, ist mal witzig, mal albern, auch mal ziemlich peinlich. Im Selbstmarketing ist nicht jeder bewandert, „von Beruf Verschiedenes“ bleibt bei mir hängen, auch die Tupperware-Dealerin und die Vielzahl der Rentner. Eine gute Idee ist es, den fehlenden alten Klotzscher Mann mit einem Schauspielstudenten zu besetzen, 68, NPD, Modelleisenbahn im Keller, einige Leichen vielleicht auch.
Dann die Fragen, von je einer aus der Mitte gestellt, die Gruppe der 100 gibt dazu lebende Bilder. Optisch ist das nett, schön beleuchtet und abgefilmt, aber … irrelevant. Dresden in Zahlen halt. Und, liebes Rimini-Protokoll, fragt bitte mal bei der Bürgerbühne, wie man Laien-Akteure auf der Bühne vor sich selber schützt. Oder geht Euch der Effekt über alles?
Hängen bleibt bei mir der Ausländeranteil in Dresden: Gefährliche fünf Prozent. Ich erkenne, dass wir kurz vor der Überfremdung stehen und stimme insofern dem Klotzscher Wittwer zu.
Manchmal blitzen bei den einzelnen Fragen Geschichten auf, versinken aber sofort wieder in der Beliebigkeit. Das mit dem Tagesablauf ist hübsch, aber austauschbar. Der Herr Dozent muss nachts raus zum Pullern, aha. Dennoch gehört die Szene zu den Besseren des Stücks.
Wenn Relevanz aufkommt, dann hat das mit Sozialem und Persönlichem zu tun. Es gehört Mut dazu, sich als „Hartzer“ zu bekennen, die Ex-Drogenabhängige erntet einen verdienten und herzlichen Beifall, als sie von ihrem Ausstieg erzählt, und auch, sich nicht zu den Heteros zu stellen, ist schwieriger als man glauben mag. Doch diese Momente bleiben leider Ausnahmen.
Eine Frage geht dann auch noch schief, und die Kriegsdefinition von Rimini-Protokoll ist offenbar dergestalt, dass Deutschland dabei sein muss, sonst gilt das nicht als Krieg. „Ich hab die Frage nicht verstanden“, mein Lieblingssatz des Abends.
Anonym tut dem Inhalt gut, clever gelöst mit Dunkelheit und Taschenlampen. Fast alle haben schon mal geklaut. Ja. Ich auch. Ich hätte mir aber auch noch ein paar andere Fragen vorstellen können.
Dann spielen die Bagels, was sicher auch einen Grund hat. Aber sie machen das gut.
Ich ertappe mich dabei, immer öfter auf die Uhr zu sehn. Jetzt ist „Open Mic“, jeder darf fragen, was sie will, selbst das Publikum. Kurzbeschreibung: albern, belanglos, peinlich, doof.
Dann ein Liegestützwettkampf auf der Bühne, hossa, man muss das Muskelpaket also nicht nur rechts haben, sondern auch links.
Geht es noch schlimmer? Ja. Mann darf den Hintern ins Publikum halten. Aufhören!!!
Ein Rettungsversuch mit der Visualisierung von Randgruppen, na gut, das ist sehenswert. Dann ist Schluss, ein tosender Applaus, Dresden feiert mal wieder sich selbst.
Für die 100 auf der Bühne mag das eine tolle Erfahrung gewesen sein, für einige vielleicht auch eine gute Therapie. Für die Freunde und Bekannten davor sicher ein Höhepunkt, den Lieben mal auf der großen Bühne zu sehn.
Für Rimini-Protokoll ist es die finanziell erfolgreiche, routinierte Umsetzung eines bewährten Geschäftsmodells (Start war 2008 in Berlin, seitdem tingelt man durch die Welt, Dresden ist die 15. Station), da bemüht man sich offenbar nicht mal auf die Bühne zur Premiere.
Das Ganze funktioniert theatertechnisch (ich schreibe hier bewusst nicht „künstlerisch“) aber nur, weil da oben so viele sind, die da unten noch so viele mehr kennen. Das reicht für vier gut gefüllte Vorstellungen.
Für den gewöhnlichen Zuschauer ist es ein belangloser Abend.
Wir haben keine Chance. Vielen Dank.
„Koma“, ein Stück der „die bühne – Theater der TU Dresden“, Regie Romy Lehmann, gesehen am 25.06.13 in der Groovestation Dresden
Die Überschrift gibt die letzten Worte des Stücks wieder, die von allen drei Darstellern zeitlich versetzt rezitiert werden. Eigentlich ist damit schon alles gesagt.
Es ist nicht das erste Stück, das sich mit jugendlicher Perspektivlosigkeit und den manchmal daraus folgenden Konsequenzen beschäftigt, aber in dieser drastischen Form hab ich das noch nicht erlebt. Doch fangen wir von vorne an.
Eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn ahne ich noch nicht, dass ich wenig später ziemlich erschüttert vor einer improvisierten Bühne sitzen werde. Beim Scrollen durch das hiesige Abendprogramm bleibt mein Auge am „Kneipentheater“ hängen, das sehr schön meine Interessensschwerpunkte zusammenbringt, auch wenn die Reihenfolge sonst eine andere ist. Auf in die Groovestation, hier in der Neustadt ist ja alles nicht weit.
Der kleine Saal ist nochmal halbiert, auf der Ebene, wo sonst die Bands schrammeln, steht eine Batterie Bierkästen. Mühsam, sich im Dreivierteldunkel einen Platz zu suchen, die etwa dreißig Stühle füllen sich schnell, man rückt zusammen. Ich habe keine Ahnung, was gespielt wird, trau mich aber auch nicht zu fragen. Sehn alle wie Insider aus hier, man blamiert sich doch nicht gern.
Drei Darsteller betreten die Bühne, alle Anfang zwanzig. Das Mädchen eröffnet, ein düsterer Albtraum von Schule und Familie wird erzählt. Gräulich genug das Ganze, aber beeindruckend vorgetragen.
Die Kleinfamilie umschlingt sich, liebt man oder würgt man sich? Der Bühnenumbau ohne Hast, zu melancholischer Musik werden gemessenen Schrittes die Kästen zu einem Bilderrahmen aufgetürmt, in welchem ein glückliches Elternpaar sich dann gegenseitig versichert, dass man ja lebe, immerhin.
Der Junior stammelt die Geschichte dazu, alltäglicher Druck, die Innenansicht des Kleinbürgeridylls entpuppt sich als ein Blick in den Vorhof der Hölle. Aber man darf sich doch nicht beklagen … Wenigstens der Konsum macht doch temporär glücklich. (Konsuhm, nicht Konnsum!)
Der folgende Text wird im Dunkeln gesprochen, eine gute Idee, so die Angst zu illustrieren. Das Fest bei kleinen Leuten besteht aus einem Sonderangebotsbraten, zwölf verschiedenen Schokoladetafeln und Käsespießchen, bis man kotzen muss. Aber wir haben uns lieb, zumindest zwei von dreien. Ein fesselndes Theater bis hierhin.
Doch es kommt noch besser. Zu Marylin Manson (sic!) liefern sich die drei Protagonisten eine veritable Schlägerei auf der Bühne, jede gegen jeden, auch körperlich eine große Szene.
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Auf einmal sind wir in Erfurt, Guttenberg-Gymnasium. Ein Kloß im Hals entsteht.
Und der wächst und wächst, als die kalte Statistik dieser Abschlachtung vorgetragen wird. Zwei Drittel der verschossenen Patronen waren Treffer, 2,56% davon Kopfschüsse. Was haben Sie denn, Sie sind so blass?
Die Chronik des Massakers wird erzählt, dem Zuschauer bleibt nichts erspart. Dem Leser schon, ich beschränke mich darauf zu berichten, dass sich der Täter verdoppelt, ja verdreifacht im Verlauf der Szene. „Höhepunkt“ ist die Hinrichtung der Direktorin, dass die erschossenen Lehrer alle Namen bekommen, macht das Grauen erst recht plastisch.
Darf man bei einem solchen Thema sagen, dass die Form der theatralischen Umsetzung großartig war? Stellenweise wähne ich mich bei „Titus Andronicus“, jenem bluttriefenden Abend im Kleinen Haus, nur das hier alles bloß im Kopf stattfindet.
Die versetzte dreistimmige Lesung des Endes (auch diese vor allem von Romy Lehmann, der Regisseurin, die diesmal auch selbst spielte, in einer großartigen Diktion) krönt ein packendes Theaterstück. Langer Beifall, völlig zu recht, auch für die beiden anderen Akteure Timo Raddatz und Mario Pannach.
Bekanntlich gibt es Worte, die von vorn und hinten gelesen dieselbe Bedeutung haben. Für „Koma“, den Titel des Stückes, trifft dies nicht zu. Oder doch?
Es gibt so Zufälle … Dieser heute bescherte mir eine fesselnde Vorstellung eines Dresdner Laientheaters und die erneute Gewissheit, dass es auch abseits der großen Bühnen viel Gutes zu erleben gibt.
Weitere Termine und andere Stücke der Studentenbühne sind hier zu finden:
http://www.die-buehne.net/
Zur Rolle der Bürgerbühne
Einige Gedanken nach meiner ersten Saison
Ich gebe zu, ich bin direkt betroffen. Zwiefach, als langjährig begeisterter Theatergänger und seit November 2012 als glücklich ausgewählter Darsteller in einer Bürgerbühnenproduktion. Und damit befangen? Das wertet meine Meinung eher auf, denke ich. Schließlich hab ich nun beide Perspektiven.
Die Bürgerbühne ist natürlich kein Theater im klassischen Sinne. Sie ist vielleicht auch ein wenig dem Zeitgeist geschuldet, Partizipation ist chic im Moment.
Die entscheidende Frage ist aber: Was kann sie, was klassische Theaterformen nicht können?
Sie bringt Sichtweisen hinein, die aus dem „realen Leben“ resultieren (ohne zu vergessen, dass auch das Theaterleben wirklich ist). Und sie erschließt dem Theater idealerweise neue Zuschauerkreise, die sonst nie im Saal säßen.
Im ungünstigen Fall würde sie jedoch Produktionen ersetzen, die eigentlich mit (freien) Profis gemacht werden sollten und trüge damit zur Verschlechterung deren Situation bei.
Es sollte deshalb immer einen triftigen und genau beschreibbaren Grund geben, eine Produktion ausgerechnet mit Laien zu machen. Niemand kann an einer Dreigroschenoper Interesse haben, die klassisch inszeniert wird, wo sich aber Laien auf der Bühne tummeln. Das bringt keinen Erkenntnisgewinn, und man täte den Darstellern dabei keinen Gefallen.
Die „Jungfrau von Orleans“ in Dresden ist in diesem Sinne ein Grenzfall. Durch die Jugendlichkeit der Spieler und eine für sie angepasste Bühnenfassung war dies dennoch einer der Höhepunkte der diesjährigen Bürgerbühnensaison.
Die Kernkompetenz der Bürgerbühne ist jedoch m. E. etwas anderes: Die Stück-Entwicklung mit authentischen Menschen aus dem Alltag „da draußen“, die etwas zu erzählen haben, und die Schaffung eines tragfähigen Rahmens dafür. Zu Probenbeginn existiert dabei allerhöchstens ein grobes Konzept für den Inhalt, der rote Faden muss erst noch ausgerollt werden. „Ja, ich will“, „Cash“ und der „Arme Tor“ sind dabei ideale Beispiele.
Der Ablauf der Stückentstehung, diese Mischung aus Improvisieren, Vertiefen und Verwerfen, die harte Arbeit an Text und Form ist übrigens aus meiner Sicht für die Mitwirkenden noch spannender als das spätere Rampenlicht. Man ist über ein Vierteljahr Bestandteil eines kreativen künstlerischen Prozesses, wer hat das im Alltag sonst schon?
Ein besonderer Aspekt sind dabei die zahlreichen Clubs der Bürgerbühne, deren wöchentliche Arbeit mit einer oder zwei Aufführungen beim Clubfestival den Höhepunkt findet. Hier ist der Weg noch mehr das Ziel.
Was mich persönlich immer wieder überrascht und fasziniert, ist das kreative und darstellerische Potential, dass aus dieser doch nur Halbmillionenstadt erwächst. Als hätten hier Hunderte nur darauf gewartet, wachgeküsst zu werden.
Die Bürgerbühne Dresden ist – nach dem vierten Jahr ihres Bestehens darf man das konstatieren – eine wirkliche Erfolgsgeschichte. Es bedurfte dazu einer grandiosen Idee und noch mehr des Mutes, diese umzusetzen, eine handlungsfähige Struktur dafür zu schaffen und diese auch mit den Mitteln auszustatten, um „richtiges“ Theater zu machen.
Dass die Stücke der Bürgerbühne gleichberechtigt auf dem Spielplan stehen und von Technik und Kostümerie genau wie die Großen betreut werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Und das ist wohl das eigentlich Revolutionäre am Dresdner Modell: die nahezu vollständige Integration dieser „Laienspieler“ ins Haus.
Aus heutiger Sicht (aber „aus heutiger Sicht“ gab es damals nicht) hätte das auch schiefgehen können: die Stücke Flops, verkopft oder Bauerntheater, die Kritiken vernichtend, das Interesse gering, das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Hätte alles passieren können.
Dass es nicht so kam, ist der harten und kreativen Arbeit der künstlerischen Leitung um Miriam Tscholl zu verdanken, und einem Intendanten Wilfried Schulz, der genug Mut und Vertrauen hatte.
Die Saat scheint nun auch bundes-, wenn nicht gar europaweit aufzugehen. Bereits im Januar 2013 gab es in Dresden eine hochspannende Tagung zum Modell Bürgerbühne, im November wird in Mannheim eine Art Folgeveranstaltung stattfinden. Immer mehr Theater probieren Formen der Zuschauer- bzw. Bürgerbeteiligung aus, auch wenn die Dresdner Dimension wohl nirgendwo erreicht werden wird.
Warum? Es fehlt an Geld.
Man muss sich natürlich im Klaren sein, dass auch im Kulturetat jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Gerade wenn dieser Etat immer weiter schrumpft (oder im Extremfall wie in Eilsleben gestrichen werden soll), muss die Frage gestellt werden, ob das knappe Geld nicht besser komplett jenen zugute kommen sollte, die das Theater als Beruf (und Berufung) betreiben und schlicht davon leben müssen und wollen. Ist der Kulturetat nicht zu schade dafür, die Freizeit von gewöhnlich mitten im Leben stehenden Menschen aufzupeppen?
Das wichtigste Argument dagegen: Das Theater ist nicht für das Theater da, sondern für die Gesellschaft. Und wenn es in dieser Gesellschaft das wahrnehmbare Bedürfnis gibt, sich selbst in irgendeiner Form theatralisch zu betätigen, muss die Institution Theater auch (!) diesem nachkommen.
Aber natürlich ist das in der Theorie leicht gesagt, die konkrete Ausgestaltung muss immer lokal bestimmt werden.
Es ist auch noch auf das Verhältnis der (staatlich alimentierten) Bürgerbühne zu den freien Theatern und den Laienspielgruppen der Stadt einzugehen. Vereinfachend gesagt, wird hier oft eine Wettbewerbsverzerrung in finanzieller und personeller Hinsicht beklagt. Ob die Bürgerbühne den anderen Theatern Fördermittel abgräbt, kann ich nicht beurteilen, dazu kenne ich die Strukturen zu wenig. Für die Rekrutierung von Darstellern ist es aber natürlich ein Problem, wenn ein derart attraktives und breites Alternativ-Angebot existiert. Und wer sich schon einmal im Amateurtheater betätigt hat, ist sicher froh, weder die Kulissen selber schieben noch die Eintrittskarten verkaufen zu müssen, von Marketing, Kostüm und Technik ganz zu schweigen.
Wird damit die Laienspielszene ausgetrocknet? Ich denke eher, nach einem Abschwung wird sie sich wieder aufrappeln und vielleicht über ganz neue Kräfte verfügen.
Denn das Prinzip der Bürgerbühne (auch wenn es gelegentlich durchbrochen wird) ist: „Jeder nur einmal“. Und selbst wenn es im Einzelfall schade ist, sollte man daran festhalten. Ein stehendes Ensemble aus sich fast wie Profis fühlenden Amateuren ist nicht Sinn der Sache. Die Bürgerbühne lebt von immer neuem Input aus dem wahren Leben, und ich kann nicht erkennen, dass dieser Strom abreißen würde.
Aber wo soll der nunmehr Infizierte nun hin mit seiner entdeckten Spiellust und -freude? Genau. Ich prophezeie, die Laientheater werden allgemein einen deutlichen Zufluss erfahren in den nächsten Jahren. Und dass die neuen Mitwirkenden dann vieles besser (zu) wissen (glauben) als die Etablierten, wird man schon aushalten.
Etwa 700 Menschen haben in diesen vier Jahren die verschiedenen Angebote der Bürgerbühne aktiv wahrgenommen, die Zuschauerzahl dürfte deutlich fünfstellig sein. Allein das wäre Grund genug, alle Beteiligten zu beglückwünschen.
„Mein“ Stück hat es übrigens in die nächste Saison geschafft. Also noch ein Jahr länger kann ich gelegentlich in diesen Mikrokosmos eintauchen, die ausgeklügelte Logistik von Vorstellungen und Proben bewundern, einen Blick der vielen schönen Schauspielerinnen erhaschen, mit der Technik ein Bier trinken nach der Vorstellung und mich ein bisschen zugehörig fühlen zu diesem wunderbaren, einzigartigen Konstrukt Theater.
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Das schöne, arme Geld
„CASH. Das Geldstück“, ein Projekt von Melanie Hinz und Sinje Kuhn sowie der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden, gesehen am 19. Mai 2013
Es ist eine Lanze zu brechen. Für das liebe, gute, schöne Geld, das im Stück doch sehr schlecht behandelt wird. Aber dazu später.
Zwölf Menschen-Markt-Teilnehmer stehen anfangs in ihrer Weißwäsche vor dem Publikum und werden mit ihren finanziellen Verhältnissen und ihrem Kontostand vorgestellt. Es ist ein breites Spektrum, auch wenn keiner von ihnen richtig reich ist, die Palette reicht vom taschengeldberechtigten Schüler über einen hoffnungsvollen Jungbanker und einer, die das schon hinter sich hat, bis zum glücklichen Hartzer. Die Durchschnittsverdienerin ist ebenso dabei wie ein Amateurspekulant, den Manne Krug damals für die T-Aktie geworben hat, dem das Glück aber nicht erhalten blieb.
Uns wird ein Geldregen nebst –rausch vorgeführt, dann kommt Marx aus der Kiste. Geld ist Scheiße, aber kein Geld auch, so lässt sich die Disputation zusammenfassen.
Es ist immer wieder ein bewegender Moment an der Bürgerbühne, wenn die einzelnen Biographien zur Sprache kommen, das ist diesmal DDR- und Wende-Geschichte par excellence. Das Begrüßungsgeld gleich auf den Polenmarkt geschafft, für Korbmöbel, ja, so war das. Und dass der russische Laden in Kamenz so eine Art Kirche der verlorenen Heimat war, kann ich gut verstehen. Aber Eduard (Zhukov) beißt sich durch und steigt in den boomenden Markt für Pokemon-Karten ein. Köstlich sein Verkaufsgespräch mit Konstantin (Burudshiew), der Junge kann es mal weit bringen. Beide Darsteller sind mir eine Extra-Erwähnung wert, letzterer auch wegen seines Gesangs.
Die These, dass man das, was man nicht hat, auch nicht verlieren kann, wird uns dann plausibel nahegebracht. Freedom is just another word for nothing let to lose … Hätte hier gut hergepasst. Die Sterntalergeschichte mit ihrem Goldregen am Ende ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht ganz so passend.
Der wahre Reichtum ist Zeit, genau, völlig d’accord.
Die Maskottchenkarriere von Katharina Heider ist beeindruckend, auch wenn sie vor falschen Gesten nicht gefeit ist. Beim Escort-Service war hingegen schon am Anfang Schluss, die Unterwäschepauschale und die damit erworbene Bekleidung zweckentsprechend einzusetzen, scheiterte an den moralischen Werten.
Die These aber, dass letztlich das Verkaufen seiner Arbeitskraft auch nichts anderes als Prostitution wäre, hätte einer tieferen Diskussion bedürft, so einfach ist das glaub ich nicht. Zwar lässt schon einer, dem die Bürgerbühne heute sicher viel Spaß machen würde, seinen Peachum „Was ist die Ermordung eines Mannes gegen dessen Anstellung?“ fragen, aber die Arbeit hat sehr viele Facetten.
Nun gibt es eine Auffrischung in Scheidungsmathematik. Die Noch-Ehefrau fühlt sich auch ein bisschen wie die Nutte ihres Ex, wenn sie Geld von ihm bekommt und das mit früheren Gefälligkeiten in Beziehung bringt, aber dazu gibt es keinen Grund, Gnädigste.
Anrührend auch die Geschichte der Mannheimer Ex-Bankerin vom Aufstieg und Fall einer Karrierefrau. Den heutigen Mäzen gönn ich ihr von ganzem Herzen.
Fast schon klischeehaft der Werdegang des Ballonfliegers und Luftikus, der durch sein Glück bei Ron Sommers großer Volksverarsche Blut leckte, mal kurz am Reichtum schnupperte, dann aber doch wieder unsanft landete.
Nicht zuletzt der Kellner aus Berufung, der heute nicht mehr kellnern kann. Seine Geschichten aus der Mitropa lassen die Älteren im Saal wissend grinsen.
Nun werden Träume in Szene gesetzt, sehr schön das Ganze, sowohl optisch als auch akustisch. Money makes the world go … down? No Sir. Ich erhebe fristwahrend Einspruch und begründe ihn später.
Ein kluger Text des Diakon über das Verhältnis zum und die Bedeutung des Geldes weist eigentlich den richtigen Weg. Es ist eine Krise des Geldes, der Kredite, aber vor allem des Glaubens (daran).
Aber nun okkupiert Occupy die Bühne, die Parolen werden holzschnittartig, Gutmenschen-Attitüde, Sozialromantik. Einzig mit der kurz aufblitzenden Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen bin ich voll einverstanden, alles andere ist doch sehr simpel gestrickt.
Dank des Sparkassenbediensteten (Guido Droth sehr souverän), der dem Treiben erst skeptisch zusieht, dann aber darauf hinweist, dass es auch Falschgeld nicht umsonst gibt, kriegt man die Kurve noch zu einem plausiblen Finale.
Über Geld spielt man nicht? Im Gegenteil. Vor allem dann, wenn man so authentisch daherkommt wie dieser Abend. Auch wenn der Girokontostand sicher nicht die ganze Wahrheit ist: Hier enthüllen zwölf Menschen aus Dresden eines ihrer intimsten Details und verraten das persönliche Bankgeheimnis. Aber noch viel wichtiger, sie sprechen über ihre Geldgeschichte und über ihr Verhältnis zum Mammon. Das ist hochinteressant, da kann jeder mitdenken und –reden, das kommt in den besten Momenten sehr ergreifend daher, lässt uns aber auch lachen. Ein erneuter, schöner Beweis: Die Bürgerbühne lebt von dem (offenbar unerschöpflichen) Potential der Mitwirkenden, und von den großartigen Stück-Ideen der künstlerischen Leitung.
Wenn ich doch nicht ganz zufrieden abstieg aus dem KH3, lag das an einigen inhaltlichen Untiefen. Man kann natürlich auf das Geld schimpfen, aber … man prügelt den Sack damit und meint doch den Esel. Mit Maschinenstürmerei wird nichts besser.
Das Problem am Geld (eine der segensreichsten Erfindungen neben dem Rad im Allgemeinen und der Eisenbahn im Besonderen sowie der Anti-Baby-Pille) ist nicht dessen Existenz, sondern der Umgang damit.
Das Grundproblem ist doch ein ganz anderes:
Warum wohl ist sowohl in der Bibel als auch im Koran der Zins verboten? Welcher Idiot hat dieses verdammte Wachstumsdogma erfunden, das nicht nur unsere Umwelt, sondern auch unsere Gesellschaft kaputtmacht? Ist nicht das private Eigentum an Produktionsmitteln und allen anderen Gütern der Kern aller Ungerechtigkeit?
Ich glaube manchmal, unsere Weisheit nimmt in dem Maße ab, wie unser Wissen zunimmt.
Geld war am Anfang nichts anderes als eine große Erleichterung des Tauschhandels, aber auch der Vorratshaltung. Für eine arbeitsteilige Wirtschaft ist ein Hilfsmittel, das die produzierten Güter wertmäßig zueinander ins Verhältnis setzt, absolut unverzichtbar. Ich habe große Sympathie für die diversen Tauschbörsen, die dem Naturalhandel frönen, aber das sind Nischen. Keiner kann seine Miete mit Dienstleistungen zahlen (von speziellen Konstellationen mal abgesehen, um mir nicht den Anschein von Weltfremdheit zu geben).
Deswegen hätte ich gehofft, die großen Themen Eigentum, Zins und Wachstum wären zumindest angerissen worden. Im Programmheft geht man da leider nicht viel weiter, die „Geldkritik“ von Dieter Schnaas kratzt auch nur an der Oberfläche.
Dennoch, die „Experten des Alltags“ (wie die Bürgerbühne kurz und treffend beschrieben wird) haben auch zu diesem Thema viel Bedenkenswertes zu sagen. Allen, die sich auch für Geld interessieren, sei diese Aufführung als gewinnbringend empfohlen.
Unsre Welt soll Schöna werden! Ein Fall für alle.
Unsre Welt soll Schöna werden! Ein Fall für alle.
„Der Fall aus dem All“, ein Landschaftstheater von Uli Jäckle, Koproduktion mit dem Theater ASPIK, gesehen am 5. Mai 2013 nicht direkt am Staatsschauspiel Dresden
Eine Landpartie. Das Staatsschauspiel hat geladen und will uns die bis dato hier unbekannte Form „Landschaftstheater“ nahe bringen. Das funktioniert in etwa so, dass eine relativ große Darstellerschar diverse Örtlichkeiten an der frischen Luft bespielt und das Publikum dem Stück folgt, also hinterherwandert.
Bei Hildesheim soll das seit Jahren gut funktionieren, und was läge näher, als das Konzept mit der hiesigen Bürgerbühne zu verknüpfen?
Es ist eine Saison der Großtaten, also geht man mit dem Stück natürlich auch dahin, wo es weh tut: Reinhardtsdorf-Schöna, die idyllisch gelegene Gemeinde in der Sächsischen Schweiz, rangierte bei den letzten Landtagswahlen in der Spitzengruppe, was die NPD-Prozente anbelangt. „Sie zu lehren, sie zu bekehren?“ … Vielleicht. Auf jeden Fall geht man den schweren Weg, exportiert nicht einfach den Dresdner Bürgerbühnenstamm in die Provinz, sondern arbeitet mit den „Menschen im Lande“, wie es jetzt wieder öfter heißen wird. Bald sind ja Wahlen.
Und dieses Experiment – soviel sei vorab verraten – ist geglückt, die Idee funktioniert auch hier. Man kann „normale“ Menschen zum Spielen bringen, und man erntet dabei erstaunliche Ergebnisse.
Vor dem Beginn gibt es – für den, der wollte und für kleines Geld – eine Busfahrt durch die sonnendurchflutete Heimat Richtung Süden. Schließlich werden die Straßen schmaler, die Berge höher, die Dörfer pittoresker: Man ist angekommen. Ein Kuchenbasar allererster Güte, auch der Kaffee schmeckt großartig. So kann es weitergehen.
Auch der Parkplatz füllt sich langsam mit Individualanreisern, und die Dorfbevölkerung ist heute „für umsonst“ eingeladen und erscheint zahlreich.
Der Einlass ist gleichzeitig die Campingsitz-Ausgabe. Dieser ist fortan bei sich zu führen und bei Darstellungen unter den Hintern zu klemmen. Wir, etwa dreihundert Zuschauer, scharen uns um eine Polizeiblockhütte. Es kann losgehen.
(Ein technischer Hinweis: Die Ausstattung der charmanten Einweiserin mit einem Megaphon würde zum einen ihre Stimme schonen – die wird nämlich auch anderswo gebraucht – und trüge zum anderen zur Verständlichkeit bei.)
Die über sechzig Darsteller zerfallen grob in vier Gruppen:
Da wäre – wer hätte es gedacht – zunächst die Bevölkerung mit Bürgermeister. Dann ein Aquarellkurs, der aus lauter Kripo-Beamten besteht und in dem Kommissarin Ines aus Konstanz eine gewisse Rolle spielen wird (hübsche Analogie zur Soko INES übrigens). Es folgen die Nummern vom MFEA – Ministerium für außerterrestische Angelegenheiten – mit ihrem fanatischen Chef und schließlich, sonst würde die dritte Gruppe ja keinen Sinn haben, die Außerirdischen vom Planeten Zirka mit König, Königin und Kanzler Völker.
Zwischen diesen versuchen sich zwei Polizisten, Napoleon Bonaparte, eine kinderreiche Uschi, ein Ösi als frischer Gatte derselben und Herr C.D.F. zu behaupten.
Klingt komisch? Ist auch so. Manchmal auch saukomisch.
Es liegt mir fern, die Handlung komplett nachzuerzählen. Die muss sich schon jeder selbst angucken. Es geht unter anderen um Tourismusförderung, verirrte Campingurlauber (Sizilien liegt an der Elbe, ist doch klar), die Jagd auf Außerirdische mit großem Gerät, die Landung dieser mit noch größerem, ein verschwundenes Bild mit großer Bedeutung, unklare Verwandtschaftsverhältnisse, den fremdgesteuerten Polizisten und Chrysanthemen-Freund Günther, eine Zeitreise nach 1813, den Einzug der Franzosen, der CDF beim Malen stört, die Pressgeburt einer Rettungskapsel, interterrestrische Liebe, interbehördliche Liebe, interfamiliäre Liebe, darum, dass ein Bus kommen wird, um Wahlen und Machtmissbrauch und schließlich darum, wer übrig bleibt.
Einiges herausgepickt:
Die Nummern (ja, Nummern, die haben halt nur Nummern) vom MFEA verhaften zunächst Landgeräte und begreifen diese als Bedrohnung, derweil die Außerirdischen die Erde analysieren. Schließlich wollen die wissen, warum die Erdinger (Vorsicht, Schleichwerbung!) immer gewinnen beim universumsweiten Dorfschönheitscontest. Dass man Gras nicht nur essen kann, wird ihnen schon noch jemand sagen.
Köstlich die Ankunft des frischen Paares mit den drei Beutekindern. „Sag Papa zu mir!“, alles hat seinen Preis. Am Ende bleibt Kevin allein am Wohnwagen, wir befürchten das Schlimmste, er geht dann aber Pilze suchen.
Es folgt ein größerer Transfer. Hier fühlt sich der Verkehrs-Ing. berufen, auf Optimierungsbedarf hinzuweisen. Die Veranstaltung eines Auto-Corso ist sicher nicht das Gelbe vom Ei, zumal die Gäste, die weder mit Bus noch Auto anreisten, ein bisschen dumm rumstehen und auf einen Bus und die privaten Autos verteilt werden müssen. Ich bin mir sicher, dass am Wochenende irgendwo zwei oder drei Schlenkies (vulgo Gelenkbusse) aufzutreiben wären, die das Publikum gebündelt befördern könnten. Ja, das kostet extra. Aber vielleicht fühlt sich ja ein Sponsor berufen?
Schön aber, dass auch die Fahrt (wie auch die innerdörflichen Wanderungen) bespielt wird: Man sieht am Straßenrande heitere Szenen des Dorf- und exterrestrischen Lebens.
Zurück zur Kunst. In Schöna angekommen (vorher waren wir in Reinhardtsdorf), absolvieren wir eine Zeitreise, 200 Jahre zurück. Dann effektvolle Auftritte von CDF und dem Kaiser Bonaparte nebst Gefolge, darunter drei Pferde. Auch der Ösi erscheint bzw. brettert wie eine wilde Sau in einem alten Ford den Berg runter. Den Fahrstil hat er sich sicher bei den Einheimischen abgeschaut. Schließlich rollt noch ein Außerirdischer heran und gebiert eine Gestalt, die später noch eine Rolle spielen wird. Wildes Getümmel, dann Flucht und Verfolgung. Auch die Zuschauer folgen.
Die für meinen Geschmack großartigste Szene spielt sich in einem schmalen Vorgarten ab. Der Chef des MFEA (Michael Wenzlaff nicht nur mit großartiger Stimme) ist als Bilderdieb verhaftet worden, bezirzt jedoch die Kommissarin Ines (Luzia Schelling sehr ausdrucksstark) mit venezianischem Gesang. Diese wird schwach und schmachtet auch körperlich am Gartenzaun, ehe es zum erlösenden Kuss kommt. Hach.
Und es wird sich gleich weiter verliebt: Kanzler Völker von weit draußen ist schwer beeindruckt vom Töchterlein Jennifer des Ösis bzw. des Bürgermeisters, was man durchaus nachvollziehen kann. Die versuchte Emotionskorrektur scheitert, und er quittiert den Dienst und widmet sich fortan dem Familienleben, mit schönen Erfolgen. Toll.
Dann ist Pause. Und hier ein dritter technischer Einwurf: Ja, es gibt was zu essen und zu trinken, zu angenehmen Preisen. Aber das Angebot ist von dörflicher Schlichtheit. Es soll ja Leute geben, die Bratwurst weder essen noch mögen, und Apfelschorle und Wasser allein ist im alkoholfreien Bereich auch suboptimal. Ich tät mir künftig ein Bier „ohne“ wünschen, und etwas, das auch den Vegetarier nicht hungern lässt. Für mich persönlich ist das nicht schlimm, ich habe mir für solche Gelegenheiten in Hüfthöhe einen namhaften Vorrat angelegt, aber meine feingliedrige Begleitung nagt mächtig am Hungertuch.
Zum Glück kann ich sie durch die folgende Handlung ablenken. An der Bushaltestelle wartet eine Delegation von Dorfbewohnern auf Godot bzw. auf den Aquarellkurs. Ein Bus wird kommen … Es erscheint auch einer, aber ohne Insassen, und ersetzt den bekannten Bühnennebel durch Dieselruß. Dann kommt aber doch der richtige Bus.
Es wird nun etwas unübersichtlich, Frau Uschi (kapriziös-überdreht Veronika Steinböck) wird erst von dreien, dann von keinem mehr begehrt. Auch CDF (Oliver Dressel) hat sich am Wettbewerb beteiligt und mit seinen schön gedrechselten Kalendersprüchen kurzzeitig die Gunst der Dame gewonnen. Aber der Wind dreht sich dann noch ein paar Mal.
Irgendwie ist gegen Schluss die Mühsal erkennbar, die vielen Handlungsfäden wieder aufzusammeln und zu einem halbwegs plausiblen Ende zu verknoten.
Aber erst ein herzzerreißendes Duett von Uschi und Ösi (Arnd Heuwinkel mit tollen Szenen) über das Ende ihrer Beziehung. „I will survive“ heißt auf österreichisch „Geh doch in Oarsch“, toll unterstützt durch die Chöre auf den LKW-Anhängern.
Nun sind Wahlen. Bürgermeisterwahlen. Es gibt 3 (drei!) Kandidaten. Napoleon (Florian Brandhorst), den König der Aussies und einen Schwarzenegger-Verschnitt namens Chef. Geboten werden eine schicke Uniform und die Aussicht auf den Heldentod, die Lösung des Turnhallenbelegungsproblems (völlig unmöglich) sowie Ordnung, Sicherheit und AllesindieLuftsprengen.
Der alte Bürgermeister ist amtsmüde und kandidiert nicht mehr. Sein Aquarellkurs für lau kam auch nicht so gut an bei der Bevölkerung.
Diese ist jedoch nicht begeistert vom Angebot und macht vom Recht der Wahlverweigerung Gebrauch (Achtung! Falsche Botschaft!). Damit macht sie allerdings den Weg frei für den Ösi, der mit seiner Stimme den Chef zum Chef macht (Korrektur! Doch richtige Botschaft!). Und alles fällt in Scherben …
Die Umkehrung des geröchelten „Ich bin dein Vater“ ist übrigens „Du bist nicht meine Tochter“. Wir erleben beide Varianten.
Man sieht am Chef – der jetzt auch einen Namen hat, Luke natürlich – was eine schwere Kindheit anrichten kann. Er war jenes Geschöpf, das der Rettungskapsel entfiel, und musste sich selber aufziehen. Nun ist aber sein Vater wiedergekehrt und bewohnt derzeit den Polizisten Günther.
Trotz dieser erfolgreichen Familienzusammenführung kommt es zum Showdown wie im Lied vom Tod. Beide werden downgeschossen. Aber Günther überlebt seinen Tod, oder besser den seiner Innerei. Alles andere wär auch ungerecht gewesen, Philipp Lux in seiner dankbaren Doppelrolle hat das Publikum fest im Griff und kann hier sein komödiantisches Talent voll zur Geltung bringen (aber wir wissen, er kann auch anders).
Nr. 11, das Töchterchen des Chefs, schwört am Leichnam des Gemeuchelten Rache. Die Stimme dazu hat sie schon, da wächst ein Talent heran.
Handlungsmäßig wars das, aber noch ein paar Schritte zum erneuten Zirkelsteinblick sind nötig fürs Finale. Die Geburt von zahlreichen Mischlingen Erde / Zirka wird verkündet. Alles jubelt und hebt zum Gesang an: „Fremde aus dem All“ nach einer ähnlichen Vorlage. Das ist schön anzusehen, aber leider kaum zu verstehn. Zu viel Platz auf der Wiese.
Dann wird noch „Major Tom“ zu Gehör gebracht, ein Gefühl wie schweben haben sie, das kann ich gut verstehn.
Dann ist Schluss. Heftiger Beifall, viele Vorhänge, wenn man das so nennen will. Das Publikum ist begeistert, völlig zu Recht.
Beim Motorradclub gibt’s noch Bier, aber der Bus nach Dresden fährt bald. Noch eine knappe Stunde Zeit zum Nachsinnen auf der Rückfahrt, neben Sonnenuntergang gucken.
Ein schönes Stück, ein tolles Spektakel, ein Theater mitten im Dorf, die Kulisse spielt mit. Man kann gar nicht hoch genug schätzen, was den Machern da gelungen ist, ich zumindest hätte das nie für möglich gehalten und kam mit nur vorsichtigem Optimismus. Mea culpa.
Irgendwie scheint die Bürgerbühnen-Mannschaft direkt von König Midas abzustammen, ohne die Nebenwirkungen.
Noch ein ein paar praktische Hinweise:
Es ist unbedingt – nicht nur aus modischen Gründen – zum Hut zu raten. Ein eleganter Sonnenschirm tuts auch. Und falls die Sonne so weiter scheint – was wir alle hoffen – sollte man seine vornehm-großstädtisch blasse Haut nicht vier Stunden lang ungeschützt der UV-Strahlung aussetzen. So lang dauert das Spektakel, obwohl das nicht zu merken ist.
Die Anreise mit dem Bus ab Schauspielhaus empfiehlt sich sehr, falls man nicht im Spielgebiet wohnt. Erst dann wird das Erlebnis richtig rund (nur so eine Idee: Vielleicht könnte man ja im Bus auch „irgendwas“ veranstalten?).
Wer nicht mit Bier, Wasser und Bratwurst zu befriedigen ist, sollte sich vorsichtshalber seinen Kram mitbringen, auf mich hört ja gewöhnlich keiner. Aber der Kuchen vor dem Stück ist ein Muss!
Am meisten Spaß macht der Ausflug sicher in einer Gruppe. Man kann z.B. auch morgens mit der S-Bahn nach Schöna fahren, den Zirkelstein erklimmen, im Dorfgasthof rustikal zu Mittag speisen, Theater genießen und dann locker wieder zur S-Bahn absteigen. Wäre doch ein schöner Tag, oder?
Zu guter Letzt (das hab ich noch nie gemacht, aber in diesem Falle ist es mir ein Bedürfnis) alle verbleibenden Spieltermine:
11. und 12. Mai, 25. und 26. Mai, 29. und 30. Juno sowie 6. und 7. Julei.
Beginn ist jeweils 15 Uhr, der Bus fährt um 13.15 Uhr ab Schauspielhaus.
Und das Wetter muss einfach schön werden, alles andere wäre ungerecht.
