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Kein guter Mensch in Murnau

„Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horváth, Regie Susanne Lietzow, Premiere am Staatsschauspiel Dresden am 25. August 2016

Die drei Götter erscheinen hier als gefallenes Fräulein in Strassers verlottertem Hotel, wo die alte Dame von Stetten schon zu Besuch ist und die hier gestrandeten Knaben tanzen lässt. Am Ende erweisen sich weder der goldherzige Herr Direktor noch seine Komparsen als würdig, gerettet zu werden. Bei Brecht käme dann vielleicht die erlösende Lawine, bei Horváth fährt Christine einfach wieder ab. Das ist mit Sicherheit die größere Strafe für die Hinterbleibenden.

Nach der letzten leider unvollendeten Regiearbeit in Dresden (was man dem betreffenden Stück deutlich anmerkt) meldet sich Susanne Lietzow eindrucksvoll zurück. Die Inszenierung ist ein Augen- und Ohrenschmaus, verzichtet dankenswerterweise auf jede Zwangsaktualisierung (nein, das Wort Burka fällt nicht im Stück) und setzt Maßstäbe für diese ohnehin spannende Dresdner Saison. Bravo.

Im Ganzen:

http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/premierenkritik_zurschoenenaussicht_staatsschauspielDD.php

 

Wo die Bösen noch richtig böse sind und die Guten wirklich gut

„Corpus Delicti“ von Juli Zeh, eine Inszenierung des Schauspielstudios am Staats­schauspiel Dresden, Regie Susanne Lietzow, gesehen zur Premiere am 1. März 2014

 Den Moment, in welchem mir der emotionale Kontakt zum Stoff verloren geht, kann ich sehr exakt beschreiben: Es ist die Deklamation des Manifests von Mia Holl beim Journalisten Würmer. Danach ist nichts mehr wie vorher, aus einer ergreifenden und sehr stilsicheren Studie über Menschen in der Diktatur (die sich hier über das Thema Volksgesundheit rechtfertigt) wird ein Plattitüdenfestival, eine Ansammlung von Klischees, bei dem die Guten schwach, aber heldenhaft sind und die Schurken mächtig und skrupellos. Die letzte halbe Stunde reicht (mir) leider, um den Gesamteindruck zu verderben. Schade, das hat die Inszenierung nicht verdient.

 Doch der Reihe nach: Juli Zeh, promovierte Juristin und studierte Schriftstellerin (was nicht böse gemeint ist), zählt zu den festen Größen der neueren deutschen Literatur, ihre Preise hat sie nicht für lau erhalten. Auf das 2007 uraufgeführte Stück „Corpus Delicti“, das 2009 auch als Buch erschien, durfte man sich also durchaus freuen, zumal es sich um eine Aufführung des Schauspielstudios (also der aktuellen Dresdner Klasse der Studierenden der „Bartholdy“-Hochschule für Musik und Theater Leipzig) handelte, deren Qualitäten im allgemeinen (zu erinnern ist hier u.a. an „Die italienische Nacht“) über jeden Zweifel erhaben sind.

Dass der Berichterstatter es dennoch heute vorzog, der Premierenfeier fernzubleiben (was jener sicher keinen Abbruch tat), lag an der Schwäche des Stoffs, die auch eine sehenswerte Ensembleleistung nicht kompensieren konnte.

 Dabei ist der Plot nicht uninteressant, im Gegenteil: Wir schreiben das Jahr 2050, (mal wieder) Totalitarismus in Deutschland, der will nur unser Bestes, diesmal die Volksgesundheit. Dafür müssen Opfer gebracht werden, die heißen hier Individualismus, Lebensfreude und Liebe. Neben Ruhe und Ordnung gibt es eine weitere Bürgerpflicht, nämlich sich gesundzuhalten, man kann das wirtschaftlich verstehen, das Medizinwesen ist teuer, und vorbeugen ist besser als nach hinten fallen. Eine Privatheit gibt es nicht mehr, wer bezahlt, der bestimmt, und hat dann auch das Recht, sich der Effizienz seiner volkskörpergesunderhaltenden Maßnahmen zu versichern.

Was heute mit dem Bashing von Rand(?)gruppen wie Rauchern, Alkoholkonsumenten und Extremsportbegeisterten schon üblich ist, hat Juli Zeh in ihrer Geschichte perfektioniert: Jeder trägt einen Chip im Körper, hat sich risikofrei zu verhalten und ein Sportprogramm zu absolvieren. Das Ganze muss natürlich auch überwacht werden, der Mensch ist schwach. Dazu gibt es die „Methode“ als Staatsdoktrin mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie man sie von der katholischen Kirche, vom Nationalsozialismus und von der historischen Mission der Arbeiterklasse kennt, einschließlich gleichgeschalteter Medien und einem perfekten System von Belohnen und Bestrafen. „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“, das wurde mir früher auch allen Ernstes gelehrt.

 In jenem wächst Mia Holl heran, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft, nur leider unter dem negativen Einfluss ihres Bruders Moritz stehend, der sich der Normung verweigert. Er hat die dankbare Rolle des Träumers und Verweigerers, die Herzen im Saale fliegen ihm zu. Als Moritz ein fingierter Mord angehängt wird, muss Mia sich entscheiden, verhilft ihm zum Selbstmord in der Zelle und ist fortan von Trauer und Zweifeln geplagt. Doch das System verträgt das nicht, eine lebende Zweiflerin ist gefährlicher als ein toter Gegner, und so gerät auch sie in die Mühlen des Apparats, der sie schließlich zum Einfrieren verurteilt.

 Erzählt wird dies aus der Mitte der Handlung heraus, in Rückblenden, und das gelingt wirklich gut. Mia (Nina Gummich) und Moritz (Kilian Land) sind wahrhaftige Charaktere, noch etwas besser sah ich Nadine Quittner als die (eingebildete) ideale Geliebte, ein schöner Kunstgriff der Autorin. Das System wird verkörpert vom Einpeitscher Kramer (Lukas Mundas), Staatsanwalt Bell (Tobias Krüger), Journalist Würmer (Justus Pfannkuch) und Richterin Sophie (Pauline Kästner, meine zweite Hervorhebung), Max Rothbart gibt den idealistischen, aber überforderten Pflichtverteidiger Rosentreter. Land, Rothbart und Krüger sind als Chor der Nachbarinnen das Volk, letzterer ist auch als Frosch sehenswert. All das sind Zutaten zu einem richtig guten Stück, das funktioniert, das macht Spaß (soweit man bei diesem Thema davon sprechen kann) zuzusehen.

 Bis zu jenem Moment, wo der aufgerissene Stoff zu einem Ende gebracht werden muss. Und da zeigt sich die große dramaturgische Schwäche der Vorlage, weshalb sie keineswegs in eine Reihe mit ähnlich gelagerten Werken wie „Fahrenheit 451“, „1984“ oder auch „Schöne neue Welt“ gestellt werden kann: Der Autorin fällt nicht mehr ein als ein Agitprop-Ansatz, es wird zur Farce, die Bösen werden richtig böse, die Guten gehen heldenhaft unter. Es ist immer noch gut gespielt, aber ich glaub es nicht mehr.

Der reitende Bote muss am Schluss nicht mehr erscheinen, er ist in der Vereisungskammer schon dabei und entscheidet gnädig auf Weiterleben der Delinquentin und Umerziehung.

 Nochmal: Schade drum: Schade um die schönen Regieeinfälle wie die eingespielte „Methoden“-Werbung, die Gerichtsshow (mit einem wundersamen Wutausbruch der Richterin Sophie, mit „Pieps“ garniert, die sie anschließend dazu zwingen, sich selbst eine Ermahnung auszusprechen), die Persiflage des Infotainments, eine tolle Bühnenchoreographie mit ständig mitspielendem Hintergrund, die feinen Zitate aus den vergangenen Diktaturen, die Merksätze aus dem Buch wie „Liebe ist wie dreckige Fingernägel“.

Das Stück startet als großartig inszenierte Studie über Menschen unter Druck und endet als Belehrungstheater. Aha, so sind sie also, die entmenschten Handlanger der Diktatur. Bürger, seid wachsam.

 Was kann ich zur Abmilderung dieser vielleicht übertrieben negativen Schilderung anbringen? Einiges.

Da ist zum einen das sehr lesenswerte Programmheft, u.a. mit Beiträgen von Evelyn Finger, Martin Schulz und Juli Zeh selbst, die sich dem Thema „Gesundheitswahn und Wohlverhaltensterror“ deutlich differenzierter annehmen als das Stück es vermag. Da ist auch das wieder hervorragend auf die Premiere eingestellte Ambiente im Kleinen Haus, diesmal sogar mit einer fingierten Ausstellung aus dem Jahr 2050 zum früheren Gesundheitswesen, große Klasse.

Und da ist nicht zuletzt das spielfreudige Schauspielstudio, das einen die inhaltlichen Schwächen des Abends fast vergessen lässt.

 Also: Ein klares Unentschieden.

  

Doch da auch dieser Blog sich irgendwie doch der Belehrung der Menschen verpflichtet fühlt, werfe ich noch ein Zitat hinterher.

 „Gestern war ich so wie ihr, jemand der angesehen war. Heut braucht ihr ein Teufelstier und treibt mich zur Arena.
Ihr schraubt mir Hörner in den Kopf, so werde ich zum Vieh. Von euren geilen Fressen tropft der Schaum der Hysterie.

 Alle gegen einen, einer gegen alle, alle auf den Beinen und einer in der Falle. Alle gegen mich, schlachte mich Torero mit’m Degenstich.

 Schon zeigst du mir das magische Tuch, schon muss ich dir entgegen. Du drehst dich und wie immer sucht nach meinem Herz dein Degen.
Wie dreckig muss es ihnen gehen, dass sie so wie eben ab und zu einen sterben sehen wollen, um zu überleben.

 Gestern warst du so wie sie, heut singst du mir das Lied vom Tod und morgen früh bist du vielleicht der Stier.“

 Gerhard Gundermann, „Torero“