Das An-Alphabet
Ein ärgerlicher Film von Erwin Wagenhofer
Es beginnt bildmächtig-bedeutungshubernd, ein Pseudo-Wissenschaftsflair zieht sich von Anfang an bis zum Ende durch. Der Film ist erkennbar für den amerikanischen Markt gemacht.
Was soll uns denn das Beispiel China sagen in Bezug auf das Bildungssystem? Ein Mao-Kapitalimus mit unendlich großem Menschenvorrat ist doch nicht vergleichbar. Wer will denn hier ernstlich diesen Abrichtungsapparat übernehmen?
Quälend langsam ist dieser Film. Es soll Tiefe erzeugt werden, wo Sandbänke sind, belangloser small Talk, abgefilmte Lehrgespräche … Na und?
Endlose Blenden auf ein chinesisches Kindergesicht. Dessen Mutter wird vorgeführt im ihrem Stolz. Aussage gleich Null.
Dann ein Neurobiologe. Ein Experte. Merke: Schule im klassischen Sinne führt zu Auschwitz.
Es folgt McKinsey als abschreckendes Beispiel, ein Chakka-Typ hält dagegen.
Und ein selbsterfundener Malpädagoge im hohen Rentenalter schwärmt vom klecksenden Malen als Hauptsache. Alles andere kommt dann schon alleine.
Zum Glück brauchen wir heute keinen technischen Sachverstand mehr, und Medizin auch nicht. Geige spielen muss man nicht üben, und Statik wird ohnehin überschätzt, fragt bitte Alexis Zorbas, der kannte sich da auch aus.
Einiges Wahre dann über (zu frühe) Bildung, die man (noch) nicht braucht. Da wird sicher übertrieben.
Aber ich war damals schon recht froh, als sich meine Stieftochter von ihrem Reisepartner in Neuseeland nach drei Wochen trennte und noch ein halbes Jahr alleine vor sich hatte, dass sie ziemlich gut englisch sprach.
Der Telekomvorstand steht in der Totenstille seines Büros neuerdings an der Intellektuellen Spitze der Gegenbewegung, das machen die Großen heute alle so. Ich hab nur das Gefühl, die bekämpfen einen Gegner, der schon lange verstorben ist. Oder übergelaufen.
Aber alles weiter in einen Topf hinein. Der jugendliche Ausbildungsknecht und der Unternehmensplanspielende mit Karrierehoffnung und Kaufhauspsychologie.
Was ist die Aussage?
Die gequälte Neuntklässlerin klagt über zu wenig Leben. Der Auszubildende über zu wenig Geld. Was sollen sie bezeugen?
Bedenkenswert immerhin: der Telekomiker sagt „Ihr seid doch selber schuld“. Genau. Er aber auch.
Babys gehen immer im Film. Mag die Versuchsanordnung noch so dämlich sein.
Dann noch ein Sammelsurium seltsamer Beispiele.
Was hat jetzt nochmal die Sonderschulpädagogik damit zu tun?
Und Gitarren zu bauen ist nun eine so große Leistung nicht, wenn man so gar nichts anderes will. Da braucht man keine Prüfungen zu bestehen.
Merke nochmal: Der böse Wettbewerb unter den Kindern macht alles kaputt. Der Beweis ist ein herziges Kindlein.
(Fußball, liebe Filmmacher, ist übrigens auch eine Art Wettbewerb, nur mal so nebenbei angesichts des bewundernswerten Down-Geplagten, den ihr auch noch verwursten musstet)
Ach, Darwin! Es ist an der Zeit, im Grabe zu rotieren. Und „es ist nicht gegen die Natur der Maus, gefressen zu werden“ dabei zu rufen.
Zusammengefasst:
Die Armen Kinder, die man retten möchte, werden in diesem Film in hohem Bogen mit dem Bade ausgekippt.
Und schlecht gemacht ist er auch noch.
Der An-Alphabet -oder warum Formfleisch auch mal schmeckt
Sicherlich, der Film von Erwin Wagenhofer ist, anders als We feed the world, oberflächlich und hat kaum einen roten Faden. Dennoch wartet er mit einigen starken wie schwachen Aussagen und Gedanken auf und enthält ein Sammelsurium an Schlaglichtern auf mehr oder weniger aktuelle Haltungen in Bezug zur Bildung im allgemeinen und zu Bildungssystemen im Besonderen. Das Beispiel China mit seinem Drill gehört darin allerdings eher zu den alten Hüten.
Von daher ist es interessant zu schauen, worüber im Film nicht erzählt wird.
So wird bspw. die aktuelle Debatte zur sogenannten Y-Generation außen vor gelassen. Unter diesem Titel werden jene Menschen verstanden, die in den 80er und 90er Jahren geboren wurden und die statt nur der Karriere auch nach Sinn und Freude in ihrer Arbeit sowie auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie achten (http://de.wikipedia.org/wiki/Millennials). Stattdessen wird im Film lieber das Bild von jungen, nach Karriere strebenden Menschen gezeigt, die ‚CEO of the year‘ werden wollen. Und dabei werden in willkürlich zusammengesetzten Auswahlverfahren so manch‘ bekannte, aber doch immer wieder interessante Aussagen aufgezeichnet -der berühmte ‚Karriereknick‘ bei Frauen, sobald Kinder unterwegs sind. Hier zeigt sich deutlich die Schwäche des Films, weil aktuelle Entwicklungen durch gesellschaftspolitische Veränderungen ignoriert werden -wo bleibt die Frage nach dem, ob und wann eine Karriere für Frauen wie Männer zu beginnen hat? Wo bleibt die Frage nach der Durchlässigkeit im gesamten Bildungssystem? Was ist mit der Geradlinigkeit, die der Film einerseits verachtet und angreift, andererseits aber durch seine Protagonist_innen reproduziert?
Für übertrieben halte ich die Generalkritik am Schulsystem. Sie ist meines Erachtens die klaffende Flanke des Films. Denn die Schule mitsamt der Schulpflicht ist für viele Kinder weltweit immer noch eine Chance auf Bildung und eine Verbesserung ihrer Lebenslage -vorausgesetzt, es werden keine Gebühren erhoben oder andere Hürden eingeschoben. Diese erschweren oft genug den Zutritt gerade für jene Kinder, die aus sozial schwächeren Familien kommen oder mit Behinderung(en) leben und deswegen als nicht „bildungsfähig“ abgespempelt werden.
Dies führt mich zu einer weiteren Fehlstelle: Es fehlt die seit Jahren intensiv geführte Debatte zur gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen. Es gibt einige interessante Schulorte, an denen Kinder mit und ohne Behinderungen genauso glücklich lernen, sich bilden und gebildet werden, die Erwin Wagenhöfer und seine Protagonisten nicht wahrzunehmen scheinen. Gerade für jene von der internationalen Ebene ist das peinlich. Stattdessen wird Pablo Pineda als weltweit bisher alleiniges Beispiel eines Menschen mit Trisomie 21 porträtiert, der es im heute bestehenden Bildungssystem geschafft hat an die Universität zu kommen. Dabei wird er mit Aussagen wiedergegeben, die ihn inhaltlich naiv erscheinen lassen. Das ist ärgerlich.
An der Stelle, liebe Teichelmauke, möchte ich eines anmerken: Ein behinderter Menschen ist nicht „geplagt“ mit seinem Sein -ich weiß, dass es unmöglich ist, sich vorzustellen, wie es ist, mit einem anderen Sein zu leben. Das geht mir auch so, tagtäglich, 24 Stunden 7 Tage die Woche -ich frage mich durchaus, wie es sich wohl fühlt, ein(e) Normalo zu sein? Ich habe das nie kennen gelernt und werde es nie kennen lernen dürfen. Aber weil wir uns durch Sprache ein Bild über und von Menschen konstituieren, bin ich so frei und empfehle einen Blick hier hinein: http://www.leidmedien.de -denn manche vorherrschenden Bilder und Ausdrucksweisen sind schlicht nicht menschenfreundlich.
Zurück zum Film: Dieser lädt trotz Oberflächlichkeit und seinem Formfleisch-Charakter durchaus zur Diskussion ein -allen voran zur an sich zentralen Frage, wie nun mit dem Phänomen ‚Scheitern‘ umzugehen ist. Denn auch darauf gibt der Film aus meiner Sicht keine klaren Antworten.